Im analogen Leben grenzen wir uns durch Sprache, Kleidung, Verhalten und Ziele von anderen sozialen Gruppen ab. Inwiefern aber haftet uns auch im Netz unser Habitus an, und wie äußert er sich dort? Entstehen im Netz neue soziale Felder, oder bilden sich dieselben Milieus wie auch in der analogen Welt? Verfestigt das Internet also bestehende Grenzen oder erschaffen wir uns dort neu?
Der Habitus umfasst nach Pierre Bourdieu (1930-2002) allgemein das Auftreten, die Gedanken und Umgangsformen, Sprache, Vorlieben und alle Gewohnheiten eines Menschen. Der Habitus ist demnach die Verinnerlichung des Umfelds und der Herkunft einer Person. Er ist geprägt durch mehr oder weniger Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern (ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital). Bourdieu teilt die Gesellschaft in unterschiedliche Felder/Milieus ein, gemessen an der Erreichbarkeit und Teilhabe an diesen gesellschaftlichen Gütern. Durch die Verinnerlichung des Lebensraums, der dort gemachten Erfahrungen und Verhaltensstrukturen entsteht ein Konstrukt aus Denk- und Handlungsweisen, das einen Menschen hinsichtlich seiner Entscheidungen und seines Verhaltens maßgeblich lenkt. Das bedeutet auch, dass jeder Mensch aus einem begrenzten Spektrum an Handlungsoptionen heraus agiert. Das Habitus-Konzept ist also ein System von Grenzen und Limitierungen.
Das Internet, der digitale Lebensraum, bietet allerdings einen nahezu unendlichen Pool an Möglichkeiten, Entscheidungen und Verhaltensweisen und hebt viele Grenzen auf. Im Netz scheint es leicht zu sein, das eigene Umfeld zu erweitern und mit Menschen aus anderen Milieus in Kontakt zu kommen. Die Frage ist nun, ob und inwiefern es in der digitalen Welt ebenfalls soziale Felder und habituelle Handlungsschemata gibt, beziehungsweise wo deren Grenzen sind. Dieser Frage gehen auch die sogenannten Sinus-Milieus nach.
Die Sinus-Milieus werden seit 1972 von der gleichnamigen Agentur ermittelt. Dabei werden Menschen mit ähnlichen Lebensweisen und Lebensauffassungen in zehn strukturierte Milieus gruppiert, wobei die Grenzen sich überlappen. Aspekte aus Beruf, Bildung, Grundeinstellungen und Aktivitäten werden untersucht und bilden die Lebenswelt der Gesellschaft ab. Seit zwei Jahren hat Sinus die Milieus auch auf die digitale Lebenswelt übertragen.
Digitale Sinus-Milieus
Die digitalen Sinus-Milieus untersuchen erstmals die digitale Lebenswelt auf dieselbe Weise, wie auch die herkömmlichen Sinus-Milieus ermittelt werden. Menschen werden anhand von gewissen medienbezogenen Faktoren in Gruppen (Milieus) zusammengefasst und erlauben so eine „Landkarte“ der Gesellschaft hinsichtlich der Nutzung digitaler Medien. Veröffentlicht wurde unter anderem eine Digital User Group Grafik, bei der die Gesellschaft in sieben Milieus eingeteilt ist und sich mit dem Zugang und der Nutzungsweise/Intensität auseinandersetzt.
Ursprünglich für die Zielgruppenanalyse in der Werbung entwickelt, bietet die Erhebung auch interessante sozialwissenschaftliche und politische Ergebnisse. Aus der Grafik wird deutlich, dass gewisse Übereinstimmungen der digitalen und analogen Welt vorhanden sind. Die Milieus gleichen sich zwar nicht eins zu eins, dennoch sind sie aber ähnlich fragmentiert. Daraus lässt sich schließen, dass sich Bildung, Einkommen und Beruf, sowie Grundhaltung zu Geld, Familie, Politik und Konsum nicht nur auf die analoge Welt, sondern deutlich auch auf das Verhalten im Internet auswirken.
Der Habitus, also die verinnerlichte Lebensweise und Lebensauffassung der direkten Umgebung, prägt auch Entscheidungen, Umgangsform und Einstellungen im und zum Internet. Insofern kann man also von einem milieuspezifischen Umgang mit digitalen Medien sprechen. Dabei stellt sich die Frage, ob sich der digitale Habitus im Netz immer deutlich abzeichnet. Kann man, wie in der analogen Welt auch, anhand des Verhaltens im Internet erkennen, welchen persönlichen Hintergrund ein Mensch hat? Womöglich bewegen sich die Menschen im Internet viel authentischer und werden ihrem Habitus somit mehr gerecht als in der analogen Welt. Die Erfahrung, anonym mutiger, ehrlicher oder offener zu sein, kennen viele. Das Internet bietet genau das: Grenzen ertasten, von denen man sich sonst fern hält. Sei es aus Höflichkeit gegenüber anderen, oder aus Angst vor der Reaktion anderer. Im Internet sind die Hemmungen geringer.
Ist es also möglich, dass sich die habituell bedingten Grenzen unserer Denk- und Handlungsweise im Internet erweitern? Können wir gar aus unserem üblichen Milieu leichter heraustreten und mal etwas anderes probieren?
Wie und wo sich eine Person sowohl im analogen als auch im digitalen Raum bewegt, ist vom eigenen Milieu abhängig. In der analogen Welt sind das Schauplätze wie Beruf, Wohnbezirk und Familie. In der digitalen Welt ist entscheidend, auf welcher Plattform man sich bewegt, ob man bei Facebook, Twitter oder Linkedin angemeldet ist, welche Nachrichtenseiten aufgerufen werden und auf welchen Foren man aktiv ist.
Spaltet sich also doch auch im Netz die Gesellschaft in ihre Milieus auf und vermischt sich doch eher wenig?
Befunde belegen, dass das Internet nicht unbedingt der große „Gleichmacher“ ist, wie einst erhofft wurde. Das bedeutet, dass sich auch im Netz soziale Ungleichheiten reproduzieren. Der Zugang zu digitalen Medien und die Fähigkeit damit umzugehen sind Faktoren, die darüber entscheiden wie und ob eine Person das Internet nutzt. Hinzu kommt aber auch der persönliche Hintergrund (Habitus). Er beeinflusst stark, wo sich eine Person im Netz bewegt, und wie sie sich dort präsentiert. Dadurch können sich die Milieus auch in der digitalen Welt ihre eigenen Schauplätze konstruieren, ohne groß mit anderen Milieus in Berührung zu kommen. Die soziale Ungleichheit ist auch im Internet gegenwärtig.
Technisch betrachtet könnte es also möglich sein, sich online in milieufremden Arenen zu bewegen, andere Erfahrungen zu machen und den eigenen Horizont zu erweitern. Doch die Grenzen des eigenen Habitus leiten uns dann doch oft wieder in bekannte Gefilde, die wir kennen und in denen wir uns bereits zuhause fühlen.
Bild: Joe The Goat Farmer (CC BY 2.0)