Welkarte, Binärcode

Sauberes Trinkwasser ist auf manchen Teilen der Welt schwieriger zu erreichen als ein Mobiltelefon. Die Weltbank macht in ihrem diesjährigen Weltentwicklungsbericht „Digital Dividends“ auf ein global-strukturelles Problem aufmerksam: Eine analoge Basis zur erfolgreichen Integration und Nutzung der Digitalisierung fehlt in vielen Bereichen. Digitale Technologien weiter auf der Welt zu verbreiten – das ist nicht die globale Herausforderung, mit der wir uns primär beschäftigen sollten.

Aktuell, aber nicht neu: Die notwendige Schaffung von Strukturen in einer Gesellschaft zur erfolgreichen „Modernisierung“ bildet keine revolutionäre Erkenntnis. Bereits 1962 beschrieb Modernisierungstheoretiker Shmuel N. Eisenstadt, dass Länder nicht in einen Modernisierungsprozess gestoßen werden dürften, solange die passenden Rahmenbedingungen in der Gesellschaft noch nicht etabliert seien. Auch wenn Eisenstadt vor über 50 Jahren noch nicht das Phänomen der Digitalisierung vor Augen hatte, strahlt die These Eisenstadts im Weltentwicklungsbericht 2016 in einem neuen – digitalen – Licht. Die aktuellen Daten des diesjährigen Berichts zeigen, laut Weltbank, durchaus beunruhigende Trends. Diese seien nicht auf fehlende Technologien, sondern vielmehr auf den global ungleich verteilten Zugang sowie die (Aus-)Nutzung der Digitalisierung zurückzuführen.

Weltbank Report: zwischen analoger und digitaler Welt

Nach wie vor sieht die Weltbank den Brückenschlag zwischen den Personen und Gesellschaften mit, und all jenen ohne, Zugang zu digitalen Technologien (Digital Divide) als wichtiges Ziel auf der Entwicklungsagenda. Allerdings sei die bisherige Herangehensweise in Form unermüdlicher technologischer Verbesserungsmaßnahmen nicht zielführend gewesen. Zuerst solle das Zusammenspiel von Regulierung, Kenntnissen und Institutionen in Einklang gebracht werden. Diese Aspekte fasst die Weltbank unter dem Stichpunkt der analogen Basis einer Gesellschaft zusammen. Je nach digitalem Transformationsstand stehen die Länder vor unterschiedlichen Herausforderungen. Konkret bedeutet das: neue Reformen zur wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, rechenschaftspflichtige Institutionen und technische Kompetenzen. Nur wenn all dies gegeben sei, trage der Einsatz von Technologien zur Entwicklungswirkung einer Gesellschaft bei. In unserem komplexen Weltsystem bündeln digitale Technologien Chancen und Risiken – für Gruppen und Individuen. Ungleiche Lebensbedingungen weltweit bewirken unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu Technik. Aber auch der Zugang zur digitalen Welt ist kein Garant: Wie sieht es dazu auf individueller Ebene im analogen Bereich aus? Allein das Level der Nutzerkompetenzen variiert stark: Während manche wegen fehlender Alphabetisierung nicht an der Digitalisierung teilhaben können, sind andere mit der Bedienung verschiedener Plattformen überfordert.

Chancen und Risiken der Digitalisierung

Die Weltbank kommt in ihrer Studie zum Ergebnis: Chancen des digitalen Fortschritts bestünden vor allem in den potenziellen Förderungsmöglichkeiten von Inklusion, Effizienz und Innovation. Weltweit haben immer mehr Menschen Zugang zum Internet – nichtsdestotrotz bleiben global betrachtet noch immer knapp 60% der Menschheit offline. Auch führe eine verbreiterte Informationsbasis zu geringeren Transaktionskosten für Unternehmen und Regierungen sowie zu einer erweiterten Innovationspalette im Sinne des E-Commerce.

Wie so oft ziehen innovative Chancen im Digitalen auch neue Risiken und Rückschläge nach sich. So gesteht auch die Weltbank ein, dass die wachsenden globalen Zweige und digitalen Verästelungen innerhalb und zwischen Unternehmen keine Früchte trugen: eine erhöhte Produktivität blieb aus. Durch die starke finanzielle Akzentuierung im Weltentwicklungsbericht, wird die enorme Bevorteilung der Eliten durch digitale Technologien vornehmlich im politisch-ökonomischen Rahmen thematisiert. Äußerst plakativ zeigt dies vor allem ein Beispiel im Rahmen des E-Governance: technisch faire und freie Wahlen werden von Jahr zu Jahr seltener – und das, obwohl sich immer mehr Länder als Demokratien deklarieren.

Digitale Kluft = soziale Kluft?

Nur wenige Menschen weltweit profitieren von digitalen Technologien. Soziale Ungleichheiten verschärfen sich global – und zwar, innerhalb von Gesellschaften sowie zwischen ihnen. Theoretische Chancen der Digitalisierung greifen für die Mehrheit der Weltbevölkerung also nicht. Die Frage, inwiefern eine möglichst schnelle und effektive Digitalisierung wirklich in jedem gesellschaftlichen Kontext erstrebenswert ist, bleibt im Weltentwicklungsbericht 2016 unberücksichtigt. Auch bleibt die Frage, inwiefern technischer Fortschritt für jedes Land nachzuholen und wünschenswert ist, im Rahmen einer ethischen Debatte zur Digitalisierung offen. Obgleich die wirtschaftlichen Analysen des Berichts die globalhistorisch gewachsenen Machtbeziehungen in den Schatten stellen, liegt der Fokus zeitweilig auf dem Wechselspiel zwischen digitaler und sozialer Ungleichheit.

Auch der mögliche sozio-politische Mehrwert der Digitalisierung – wie man ihn in Form sozialer Bewegungen schon beobachten durfte – ist nicht zu unterschätzen. Umso deutlicher bilden eine gesellschaftlich verankerte analoge Basis, digitale Zugangsmöglichkeiten und Nutzerkompetenzen – global betrachtet – ein sehr hohes Privileg. Der tägliche Zugang zu Strom, Internet und einem Mobiltelefon erleichtert Kommunikation und Arbeitsprozesse enorm. Im Großen und Ganzen macht die Debatte um den Weltentwicklungsbericht herum aber implizit auf weitaus existentiellere Ungleichheiten aufmerksam: Ja, auch die 20% der Weltbevölkerung mit dem geringsten Einkommen besitzen nun zu 70% ein Mobiltelefon – aber: Nein, das bedeutet bei Weitem nicht, dass sich der Trinkwasserstrom in gleicher Reichweite verbreitet hätte.

Titelbild: Globale Digitalisierung von GDJ via Pixabay, licenced CC0 1.0

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