Prof. Rainer Kuhlen (Universität Konstanz) über
die Wahlschlacht in den Foren

Die Mondlandung war das Ereignis, das das Fernsehen endgültig
zum globalen Medienereignis machte. Mit der Veröffentlichung der Clinton-Lewinsky-Starr-Materialien
im Internet und dem parallelen Surf von einigen 10 Millionen Menschen weltweit
im Starr-Report sind die Dienste des Internet im Umfeld des World Wide Web
endgültig zum medialen Globalereignis geworden. In diesem Kontext der Herausbildung
eines neuen »starken« Mediums sind auch die elektronischen Foren zu sehen,
die anläßlich der Bundestagswahl 1998 in Deutschland zum ersten Mal im großen
Stil eingesetzt wurden. Alle waren sie vertreten – ob Politiker, Parteien,
die Medien, politische Institutionen, kommerzielle Anbieter, Bürgerinitiativen
und Privatleute. Es waren die drei wesentlichen Ausprägungen der Informationsforen,
der Kommunikationsforen und der Fun-Foren auszumachen. Werden sich Informationsforen,
die also der Bereitstellung politischer Information dienen, unproblematisch
durchsetzen, so hat sich die Kultur der Politik-Unterhaltung erst ansatzweise
entwickelt. Neue Formen der Bildung von Öffentlichkeit und öffentlicher
Meinung und damit auch Momente direkter Demokratie entwickeln sich über
die Kommunikationsforen, durch die im Prinzip jedermann seine Beiträge in
den Himmel des Internet schreiben kann. Entsprechend dem hier vorgeschlagenen
Netzwerkmodell der Bildung öffentlicher Meinung, kann jeder, vergleichbar
dem berühmten Schmetterlingsschlag, der einen Sturm auslösen kann, politikbildend
seine Spuren hinterlassen. Ob die Bundestagswahl durch die Beteiligung in
den Kommunikationsforen tatsächlich beeinflußt oder gar entschieden wurde,
läßt sich auch dadurch nicht beantworten, daß die Mehrzahl der Anbieter
und Nutzer aus der rot-grünen Politikecke kam. Aber das Ereignis dieser
sich anbahnenden Medienrevolution wird sich nicht mehr vergessen lassen.

Noch 1996: elektronischer Wahlkampf mit Medienbrüchen

Bei der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg 1996
hatte die Electronic Mall Bodensee (EMB), in Deutschland so ziemlich der
erste, größte und immer noch stark wachsende regionale grenzüberschreitende
elektronische Marktplatz rund um den Bodensee (www.emb.net), ein Politik-Forum
eingerichtet, auf dem die in den Bodenseewahlkreisen sich zur Wahl stellenden
Kandidaten ihre politischen Ziele darstellen und in eine elektronische Diskussion
mit den Bürgerinnen und Bürgern ihres Wahlkreises eintreten konnten. Allerdings
war das nicht so ganz einfach. Nur eine einzige Kandidatin, von der Partei
der Grünen, hatte einen eigenen E-Mail-Anschluß, von selbständigen Web-Seiten
der Politiker war keine Rede. Elektronische Beiträge der Bürger mußten ausgedruckt,
per Fax den Politikern zugesandt und ihre eventuell eingehenden Antworten
wieder eingescannt bzw. über Diskette eingespielt werden. Verbessert wurde
die Situation, als ein lokaler Service Provider für die Zeit des Wahlkampfes
kostenlos Internet-Zugang und E-Mail-Adressen bereitstellte. Von einem Einfluß
des Forums auf den Wahlkampf konnte kaum die Rede sein, wenn auch die Kandidaten
der Partei der Grünen, am aktivsten im Forum, im Bodenseebereich überdurchschnittlich
gut abschnitten. Bei damals vielleicht 5% der Haushalte im Netz konnte man
wohl noch nicht einmal von einer Partikularöffentlichkeit sprechen. Aber
alles fängt einmal an, und manches endet ganz groß.

1998 – Internetnutzung schon ein Massenereignis

1998, mit Blick auf die Bundestagswahl, die Ende September
des Jahres stattfand, sieht alles schon anders aus. Die Teilnahme am Internet
wird zum Massenereignis. In den USA sind 70,5 Millionen erwachsene Personen
online. Das sind ca. 35% der (erwachsenen) Bevölkerung. In Deutschland sind
es erst 6,9 Millionen Personen, die das Internet aktiv nutzen, dazu kommen
noch 4,8 Millionen, die an sich Zugang haben, diesen aber bislang nicht
wahrnehmen. Vor allem die Anstiegsraten lassen es aber auch hier als gesichert
erscheinen, daß der Zugriff zum Netz von allen und für alle nur eine Frage
der Zeit ist. So wurde die Zahl von 6,9 Millionen Nutzern in Deutschland
innerhalb von 6 Monaten – ausgehend von einem Stand von 4,9 Millionen –
erreicht. Die wohl nicht unrealistischen Prognosen gehen dahin, daß noch
im ersten Jahrzehnt des kommenden Jahrtausends so gut wie alle Personen
in fortgeschrittenen Informationsgesellschaften (wozu die Bundesrepublik
Deutschland sich wird rechnen können) Zugang zum Internet haben werden –
in welcher Form auch immer sich dieses dann darstellen wird. Das muß nicht
zwangsläufig über den heutigen PC geschehen, der internet-fähige Fernseher
wird vermutlich ebenso zum Rechner wie der PC zum Fernseher, und damit werden
beide zum Universalmedium.

Alle sind sie dabei

Die politischen Institutionen sind heute mehrheitlich mit
selbständigen Websites vertreten. Mandatsträger aus Bundestag und den Landtagen
zeigen ebenfalls Web-Präsenz, viele gleich mehrfach über persönliche Seiten,
über Darstellungen der Parlamentsdienste (wie im Bundestag) oder der Parteien
und zuweilen auch über Politik-Server regionaler elektronischer Marktplätze
wie in der angesprochenen EMB. Web-Präsenz ist natürlich keineswegs identisch
mit Öffentlichkeit und Teilnahme am Web bedeutet – wie wir noch zeigen werden
– keinesfalls direkt politische Öffentlichkeit. Wir meinen mit dieser Einschränkung
nicht nur die angesprochene Tatsache, daß das Web bislang doch erst ein
Viertel der Haushalte erreicht und daß der "durchschnittliche" Web-Nutzer
zur Zeit keineswegs die demoskopische Idealperson darstellt und die Präferenzen
der aktiven Netznutzer für die Parteien daher durchaus stark von dem vor
der Wahl erwarteten und dann offiziellen Wahlergebnis abweichen. Web-Präsenz
an sich ist im politischen Sinne auch deshalb nicht schon gleich Öffentlichkeit
(als das für die Demokratie allgemeine und grundlegende Forum der Meinungsbildung),
weil die bloße Präsentation von Information, wie sie zur Zeit auch bei den
Foren und anderen Informationsangeboten im Web überwiegt, als rezeptive
Form nicht unbedingt demokratische Beteiligung und damit Öffentlichkeit
fördert. Die bislang dominierende Selbstdarstellung der Parteien und der
Politiker nutzt die Potentiale der elektronischen Netze für die Erstellung
von Öffentlichkeit oder für das Herausbilden direkter Formen von Demokratie
nur ansatzweise aus. Informierte Bürger – aufgeklärte Bürger Präsentation
von seiten der Anbieter und Rezeption auf seiten der Nutzer stellen aber
gewiß auch in dem hier interessierenden Zusammenhang von (neuer) Öffentlichkeit
in elektronischen Medien nicht zu unterschätzende Pluspunkte dar. Wenn die
These (zumindest als notwendige, vielleicht nicht hinreichende Bedingung)
gilt, daß nur informierte Bürger aufgeklärte und damit an den demokratischen
Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligte Bürger sein können,
dann wird man sagen können – und wir werden das ja auch nachweisen -, daß
es durch die im Internet verfügbaren Informationsangebote in einem Ausmaß
möglich ist, sich informationell abgesichert an einer Bundestagswahl zu
beteiligen, wie es nie zuvor möglich war. Wahlprogramme, Wahlstatistiken,
Prognosen, Plakate, Politikerporträts, Hintergrundinformationen zu den Wahlbezirken,
zum Wahlrecht und dem Auszählverfahren, Artikel aus der Presse, Karikaturen,
Witze – was auch immer irgendeinen Bezug zur Bundestagswahl hat, ist im
Prinzip für jedermann aus dem Web verfügbar. Orientierungsbedarf Wir sagen
im Prinzip. Kaum jemand wird sich die Mühe machen, sich umfassend auf die
Suche nach wahlkampfrelevanter Information zu machen – zu unstrukturiert,
zu umfänglich und zu disparat ist das Angebot. Je mehr das Netz wächst,
um so dringlicher wird es, den Bedarf nach Orientierung zu decken. Es wird
wohl noch eine Weile dauern, bis jeder seinen persönlichen Software-Agenten/Assistenten
zur Verfügung hat, der ihm das gewünschte persönliche Dossier zur Bundestagswahl
aus den heterogenen Ressourcen des Internet zusammenstellt. Bis dahin sind
attraktive Orientierungsformen, z.B. in Form von elektronischen Informationsplattformen
oder elektronischen politischen Marktplätzen, erforderlich. Wir gehen in
Abschnitt 5.1 u.a. mit unserem Vorschlag eines Meta-Forums, das ja auch
diesen Orientierungszwecken dient, auf diesen offensichtlichen Bedarf ein.

Mehrwerteffekte: Vernetzung und Interaktion Information,
Präsentation und informationelle Absicherung sind aber noch nicht die Grenzen
des neuen elektronischen Mediums. Informiert, präsentiert und lesend aufgenommen
wird auch im bisherigen Medium gedruckter und verteilter Information. Was
kommt im elektronischen Medium hinzu? Wird – und das ist ja dann sicher
die entscheidende systematische Frage – durch das elektronische Medium auf
eine andere Weise Öffentlichkeit erzeugt als bislang, und wenn ja, welchen
Einfluß hat das auf die Ausprägungen von Politik und Demokratie, oder bescheidener:
auf aktuelles Wahlverhalten? Welche Mehrwerteffekte des Internet auch immer
diskutiert werden, im Vordergrund steht immer – neben den Möglichkeiten
nicht-linearer Vernetzung – die Möglichkeit der (asynchronen oder auch synchronen,
also zeitversetzten oder auch zeitparallelen) Kommunikation, der Interaktion
der Teilnehmer untereinander bzw. der Interaktion der Nutzer mit den Anbietern.
Interaktion ist mehr als Präsentation von Information. Und das angesprochene
Massenereignis des Internet ist mehr und anderes als die auf dem Distributionsprinzip
beruhende Massenkommunikation im bislang dominierenden Medienkontext der
Zeitungen, des Rundfunks und der Fernsehanstalten, die ja, neben den politischen
Institutionen – wie z.B. den Parteien -, überwiegend für die Präsentation
politischer Information zuständig sind. In den Diensten des Internet, angefangen
von den einfachen E-Mail-Diensten, über Datei-Transfer bis hin zu den multimedialen,
hypertextorientierten Diensten des World Wide Web, muß in der Regel der
einzelne Nutzer aktiv werden, um sich zu informieren oder um aktiv durch
Eigenbeiträge daran teilzunehmen. Er muß in einem erheblich größeren Ausmaß
Aktivität zeigen, als diese erforderlich ist, ein Abonnement bei einer Zeitung
zu bestellen oder sich ein Exemplar am Stand zu kaufen.

Das Nutzungsparadigma im Internet Zwar soll nicht verkannt
werden, daß es auch in den Internet-Diensten zunehmend mehr Verteilformen
gibt, z.B. über E-Mail-Abonnements oder durch die Anwendung von elektronischen
Lieferdiensten, sogenannten Push-Technologien, indem von einem Anbieter
laufend Informationen geliefert werden, die einem gewünschten Interessenprofil
entsprechen. Aber grundlegend für das Verhalten im Internet ist sicherlich
die Eigeninitiative des Benutzers, die zumindest das Einwählen und die Auswahl
nötig machen. Es sollte allerdings in den nächsten Jahren sehr intensiv
beobachtet werden, ob sich dieser Initiativcharakter bei der Nutzung der
elektronischen Dienste ändern wird. Es könnte also durchaus sein, daß in
Zukunft die elektronische Zeitung genauso "passiv" rezipiert wird wie bislang
die gedruckte Version. Vielleicht wird die Delegation von Informationsarbeiten
an Software-Agenten, und vielleicht werden die Möglichkeiten der Individualisierung
von Informationsleistungen, z.B. über persönliche Zeitungen und deren direkte
elektronische Zustellung, interaktive Komponenten zurückdrängen. Wir wollen
im folgenden jedoch davon ausgehen, daß das interaktive Verhalten das bestimmende
Nutzungsparadigma im Internet-Umfeld bleiben wird. Massenereignis, aber
keine Massenkommunikation Ist die Teilnahme am Internet zwar durchaus ein
Massenereignis, so ist Kommunikation im Internet allerdings keineswegs Massenkommunikation
im Sinne der bislang dominierenden Medien, die nicht Interaktion, sondern
Distribution zum Prinzip haben. Interaktion, das ist der bidirektionale
Austausch von Information, also Kommunikation, macht den entscheidenden
Paradigmenwechsel bei der medialen Gestaltung von Öffentlichkeit aus. Wir
wollen damit den Kommunikationsbegriff nicht unbillig einschränken – auch
die bloße Aufnahme von Information, die jemand z.B. über das Radio aussendet,
oder das Lesen eines Buches, wird gemeinhin als Kommunikation angesehen.
Wir stellen aber hier die interaktiven, die Rückmeldeaspekte von Kommunikation
in den Vordergrund.

Bertolt Brechts Vision Bertolt Brecht hatte sich mit seiner
Idee von Rundfunk schon so etwas vorgestellt, nämlich durch die Ausnutzung
des Rückkanals das Radio "aus einem Distributionskanal in einen Kommunikationsapparat
zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der großartigste Kommunikationsapparat
des öffentlichen Lebens, … wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden,
sondern auch zu empfangen, also den Zuschauer nicht nur hören, sondern auch
sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern in Beziehungen zu
setzen". Medienprofessionelle Die Entwicklung des Rundfunks und des Fernsehens
hat allerdings das Distributionsparadigma unterstützt, so wie dieses ohnehin
das Paradigma der gedruckten Medien war und ist. Die Medien mögen die Entstehung
aufgeklärter Öffentlichkeit über kompetente journalistische Informationsarbeit
und deren Präsentation begünstigt haben, sie haben aber nicht dazu beitragen
können, eine aktivere Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger am politischen
Geschehen über die Abstimmungstätigkeit in den Wahlkabinen hinaus zu ermöglichen.
Ob das aus technischen Beschränkungen geschah oder Teil der Sicherung von
Macht war, sei dahingestellt. Tatsache ist, daß die "Macher" der öffentlichen
Meinung mit der Autorität der wenigen Medienprofessionellen (Verleger und
Journalisten) bislang eher Information verteilten, als daß sie eine aktive
Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger am Geschäft der Meinungsbildung und
der Formulierung der politisch relevanten Themen (Agenda setting) gestatteten.

Politikprofessionelle Was für die Medienprofessionellen
gilt, trifft in etwas anderer Form auch für die Politikprofessionellen zu.
Zwar verschafft sich die Politik über Expertenrat, Berücksichtigung von
Lobbyisteninteressen, aber vor allem über die Parteien eine breitere Basis
in der Öffentlichkeit, die steht und fällt mit der aktiven Arbeit in den
lokalen Organisationsformen der Ortsvereine oder wie auch immer diese kleinsten
Einheiten politischer Aktivitäten heißen mögen, aber mit Blick auf das nicht
politisch organisierte allgemeine Publikum ist der Informationsaustausch
auch hier weitgehend eine Einbahnstraße, auch zu Zeiten, in denen sich die
politische Macht der Gestaltung durch die Bürgerinnen und Bürger selber
real durch Abstimmung manifestiert. Wahlkämpfe sind weniger Kämpfe mit den
Bürgern, die sich dabei auch mal (informationell) untereinander und mit
den Politikern austauschen dürfen, sondern "Kämpfe" mit den anderen Politikprofessionellen
und Kämpfe um die Präsenz in den Medien, die dann wieder um die Aufmerksamkeit
des Publikums kämpfen können. Nicht vorbeigehen können die traditionellen
Medien und die politischen Repräsentanten und ihre Institutionen allerdings
an der Tatsache, daß eine realistische Alternative zum Distributionsparadigma
heute gegeben ist, und, wie wir es ausführlich beschreiben wollen, sie tun
es auch nicht.

Unter der Hand neue mediale Öffentlichkeit? Wie gesagt,
wir untersuchen diese Frage des möglichen Paradigmenwechsels von Distribution
zu Interaktion hier nicht allgemein, sondern wollen, eher in dokumentierender
als in politiktheoretischer oder gar prognostischer Absicht, festhalten,
wie sich politische Öffentlichkeit 1998 im elektronischen Medium manifestiert.
Schaut man sich die gegenwärtigen Ausprägungen an, so spricht einiges dafür,
daß die Medien und die Parteien/Politiker die Herausforderung des interaktiven
Mediums angenommen haben – wie weitgehend und mit welchen Konsequenzen,
wollen wir darstellen. Sie sind auf jeden Fall in den Diensten des Internet
allgemein massiv präsent, waren es auch im Bundestagswahlkampf 1998. Ja
man kann sagen, die elektronischen Kommunikationsforen für diesen Wahlkampf
waren um so professioneller und erzielten um so größere Beteiligung, je
stärker die Kompetenz und das Kapital der bisherigen Medien daran beteiligt
waren. Ausgemacht ist aber damit noch nicht, ob sich nicht quasi unter der
Hand eine neue mediale Öffentlichkeit artikulieren kann, die die Aufgabe
des Agenda setting selber in die Hand nimmt. Medialer (politischer) Postprofessionalismus
Bislang gingen Bereitstellung der Plattform und Zuständigkeit für die Inhalte
der (zu verteilenden) Information Hand in Hand, machten also Verleger und
Journalisten eine mediale institutionelle Einheit aus. Was heute für die
Informationsmärkte gilt, gilt auch für die Medienmärkte und für die hier
darzustellenden politischen Arenen im Zusammenhang der Bundestagswahl ’98:
es sind keine Monopole der Zuständigkeit für die Informationsinhalte und
die Verteilungsformen mehr auszumachen. In der Informationswirtschaft spricht
man allgemein von "Postprofessionalismus". Gemeint ist damit die (immer
weiter fortschreitende) Ablösung der Zuständigkeit für das Geschehen auf
den Informationsmärkten von den klassischen Informationsprofessionellen,
den Bibliothekaren, Dokumentaren, Verlegern, Buchhändlern, in die Zuständigkeit
ganz neuer Personengruppen und Institutionen. Die heutigen Service und Content
Provider, die Betreiber elektronischer Marktplätze und Internetdienste kommen
aus allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen. Zu attraktiv
scheint das Geschäft mit der Information zu sein, als daß dieser Markt dem
ursprünglich Informationsprofessionellen überlassen wird. Softwareunternehmen,
öffentliche Einrichtungen wie Städte, Verbände, Kammern, Banken, Versicherungen,
Vereine, Bildungseinrichtungen – alle werden sie zu Informationsanbietern.
Und sieht man die Auswirkungen auf den Informationsmärkten, so kann man
das "Post" eigentlich nur als Wehmut der für Information exklusiv Zuständigen
deuten, professionell sind die Informationsmärkte erst durch die "Postprofessionellen"
geworden. Zeigen sich Ansätze eines Postprofessionalismus auch für die Medienwelt
bzw. für die Zuständigkeit der Erstellung von politischer Öffentlichkeit,
speziell zu Zeiten von Wahlen? Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß der
skizzierte Paradigmenwechsel von Distribution/Präsentation zu Interaktion/Kommunikation
nicht auch Auswirkungen auf das Geflecht der Partizipanten der Medienindustrie
haben sollte. Diesen allgemeinen Transformationsprozeß deuten wir hier nur
an. Neue Partizipanten zur Erstellung von politischer Öffentlichkeit zeichnen
sich aber durchaus ab. Die speziell für den Bundestagswahlkampf ’98 eingerichteten
Diskussionsforen verschiedener Ausprägung werden zwar auch von den bisherigen
Professionellen, den traditionellen Medien und den politischen Einrichtungen,
bestritten – und gerade das sind nicht die schlechtesten -, aber es drängen
auch hier "post"professionelle Anbieter und Teilnehmer an die Orte der politischen
Information und Kommunikation, die ja jeder für sich und in ihrem Zusammenspiel
Öffentlichkeit erzeugen. Das sind kommerzielle Forumsbetreiber, Bildungseinrichtungen,
Bürgerinitiativen, einzelne Personen und manche andere, die sich aufgerufen
fühlen, das neue Medium der elektronischen Kommunikationsforen für ihre
Zwecke und Interessen zu nutzen. Diese können basisdemokratisch-politische,
aber durchaus auch kommerzielle Interessen sein, indem versucht wird, über
die momentane Attraktivität des politischen (Wahl-)Geschehens die Aufmerksamkeit
auf die eigentlichen "Geschäfte" zu lenken.

Wer profitiert von den neuen Medien? Ist das Medium erneut
die Message? Neue mediale Formen schaffen neue Realitäten und mit ihnen
neue Institutionen. Wohl kaum aus sich heraus, sondern indem ihre Potentiale
von bestimmten Akteuren in der gesellschaftlichen Entwicklung besser und
schneller genutzt werden als von anderen Akteuren. Die Geschichte der Medienentwicklung
zeigt, daß Medien zwar durchaus auch zur Verfestigung der Macht bestehender
Institutionen und bislang dominierender Gruppen und Personen verwendet werden,
daß aber in der Regel neue Akteure, die bislang noch nicht auf mediale Formen
fixiert waren, von neuen medialen Möglichkeiten besser haben profitieren
können als die alten Akteure, deren Macht und Einfluß sich auf die Beherrschung
der bislang vorherrschenden Medien abstützte. Als Beispiel hierfür wird
immer wieder die Entwicklung der Druckkunst angeführt, von der der entstehende
Protestantismus eher Nutzen ziehen konnte als der hergebrachte Katholizismus,
dessen Herrschaft wesentlich auf der privilegierten Verfügung über Wissen
bestand. Die Privilegien lösten sich auf, als das knappe Medium, Schrift
auf Pergament, zum überreichlich verfügbaren, Druck auf Papier, wurde. Um
keinen Determinismus zu behaupten: nicht das neue Medium hat den Protestantismus
hervorgebracht, aber die Umgebung bereitgestellt, in der dieser reüssieren
konnte. Bleiben die Monopole oder diversifizieren sich die Bildner öffentlicher
Meinung? Wiederholt sich dieses Wechselspiel von Mediengestaltung, Produktion
und Distribution, und Gestaltung von (politischer) Realität in der Gegenwart?
Zugespitzt auf die Alternative kann gefragt werden, ob die bisherigen dominierenden
Bildner von öffentlicher Meinung – die Medienprofessionellen und die Politikprofessionellen
– sich der Potentiale der neuen (interaktiven) Medien so versichern können,
daß ihre Monopole erhalten bleiben, oder ob andere, weniger institutionalisierte
und direktere Formen sich durchsetzen werden, die die Vorzüge direkter Demokratie
begünstigen und die demagogisierenden manipulierenden Nachteile ihres Mißbrauchs
vermeiden können. Plattformen für interaktiv sich aufbauende Öffentlichkeit
Unsere allgemeine, zugespitzte These, die wir in diesem Buch an dem Beispiel
des Bundestagswahlkampfs 1998 im elektronischen Medium diskutieren und belegen
wollen, besagt, daß elektronische Kommunikationsforen im Internet wenn schon
nicht jetzt, so doch in näherer Zukunft die Plattformen für interaktiv sich
aufbauende und sich immer stärker vernetzende Öffentlichkeiten sein können,
so wie die klassischen Massenmedien und die traditionell organisierten Parteien
die Plattformen für eine über Distribution erzeugte Öffentlichkeit waren
und wie sie es wohl auch für eine gute Weile bleiben werden. In welche Richtung
sich auch die institutionelle Frage der Zuständigkeit für Erzeugung von
(politischer) Öffentlichkeit beantworten wird, die Art, wie Öffentlichkeit
erzeugt wird, wird von dem mehrfach skizzierten Paradigmenwechsel nicht
unbeeinflußt bleiben. Noelle-Neumann-Revival – neue starke Medien? Noch
scheint vieles gegen diese These zu sprechen. Der Informationsbedarf der
vielen ist nicht unbegrenzt, das Kommunikationsbedürfnis, zumal in einer
größeren Öffentlichkeit, ist nicht bei allen als sehr hoch anzusetzen. Die
Teilnahme an den elektronischen Kommunikationsforen ist im Verhältnis zu
dem Aufwand, mit dem sie betrieben werden, sehr bescheiden. Die Qualität
der Beiträge streut, um es vorsichtig zu sagen, noch sehr. Die Auswirkungen
auf das tatsächliche Wahlverhalten sind bislang kaum zu messen und auch
nicht in ihrer Relevanz für die Demokratietheorie einzuschätzen. Eine Arbeit,
wie sie Noelle-Neumann 1973 geleistet hatte, als sie mit ihrer Theorie der
Schweigespirale das Konzept starker Medien propagierte und dem Fernsehen
durchaus eine wahlentscheidende Rolle zubilligte, ist für die elektronischen
Kommunikationsforen (noch) nicht möglich. Werden dies starke, also dominierende
Medien sein? Oder werden sie dauerhaft eine eher spielerische Begleitmusik
zum ansonsten beherrschenden Solopart der klassischen professionellen Medien
spielen?