kanzleramtSeit einiger Zeit werden die Bürger von ihren Politikern direkt gefragt, wie sie zusammenleben, arbeiten und lernen wollen. Endlich mehr Demokratie, jubeln die einen. Partizipationsplacebo und PR-Instrument, warnen die anderen. Wie sind die großen Bürgerbeteiligungs-Projekte im Internet zu bewerten?
Benjamin Barber hatte einen Traum: In seinem 1984 erschienenen Buch „Strong Democracy“ beschrieb der US-Politikwissenschaftler das Ideal einer partizipativen Demokratie als eine Staatsform, in der sich die Mehrheit der Bürger auch zwischen den Wahltagen in politische Entscheidungen einbringt, anstatt diese allein den gewählten Repräsentanten zu überlassen. Schon damals brachte Barber die Einführung telekommunikativer Beteiligungsformen ins Gespräch, z.B. eines Videotext-Informationsdienstes oder elektronischer Wahlmöglichkeiten. Digitale Beteiligungsformen verhießen die Realisierung einer gleichberechtigten, basisdemokratischen und im Ergebnis vernünftigen Demokratie aus der Mitte des Volkes.
Barbers Vision hat in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik deutliche Gestalt angenommen. Mittlerweile sind es die großen Volksparteien sowie die Regierung selbst, die sich dieses Kommunikationsweges bedienen und damit eine Reform der traditionellen repräsentativen Demokratie proklamieren. 2011 startete die Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP mehrere Bürgerdialoge, von Seiten der Opposition konterte die SPD-Bundestagsfraktion mit einem „Zukunftsdialog“, woraufhin die Kanzlerin Anfang 2012 das an Kosten, Teilnehmern und medialer Aufmerksamkeit bislang größte internetgestützte Bürgerbeteiligungsprojekt Deutschlands nachlegte: den „Dialog über Deutschlands Zukunft“.

Ein (weiterer) Dialog über Deutschlands Zukunft

Wie schnell kann man da den Überblick verlieren. Dabei sind die einzelnen Projekte in ihrer Aufmachung und ihren Zielen durchaus sehr verschieden. Im Rahmen ihres „Dialogs über Deutschlands Zukunft“ befragte die Bundeskanzlerin im vergangenen Jahr 130 Experten nach ihren Vorschlägen, reiste außerdem zum Gespräch mit jeweils 100 eingeladenen Bürgern in verschiedene deutsche Städte zum Townhall-Meeting  und veranstaltete eine internationale Jugendkonferenz. Darüber hinaus gehörte zum „Dialog“ auch eine Internetplattform, die Internetnutzern ab dem 1. Februar 2012 zweieinhalb Monate lang eine Plattform für ihre Ideen und Kommentare bot. Der Online-Dialog der Kanzlerin war in drei einfach gehaltene Fragen unterteilt („Wie wollen wir zusammenleben?“, „Wovon wollen wir leben?“, „Wie wollen wir lernen?“), zu denen Nutzer Vorschläge posten konnten. Insgesamt 11.537 Ideen kamen zusammen, darunter sowohl konkrete Gesetzesvorschläge als auch ganz allgemeine Wünsche („Leben und leben lassen“).
fix now von opensourcewayWie ging es damit weiter? „Alle Vorschläge, egal, ob von Bürgern oder Experten, werden sehr genau angesehen und geprüft“, sagt Dr. Jörg Hackeschmidt auf Nachfrage von politik-digital.de. Hackeschmidt ist Mitarbeiter im Stab „Politische Planung, Grundsatzfragen, Sonderaufgaben“ des Bundeskanzleramts. Auf Grundlage dieser Prüfung sowie anhand der Bewertungen der Teilnehmer wurden 20 Vorschlaggebende am 3. Juli 2012 zu einem Gespräch mit Angela Merkel ins Kanzleramt eingeladen. Nitya Runte war eine von ihnen. Die Vorsitzende des Vereins „Hebammen für Deutschland e.V.“ und Landessprecherin NRW des Bundes freiberuflicher Hebammen hatte den Vorschlag gemacht, außerklinische Geburten stärker als bisher zu fördern.
Hebammen haben in Deutschland große Schwierigkeiten, seitdem die Haftpflichtversicherung für Geburtshilfe seit einigen Jahren immer weiter ansteigt. Die dadurch entstehenden Kosten müssen die Hebammen selbst tragen, weshalb immer mehr von ihnen keine Geburtenhilfe mehr anbieten. Dadurch verlieren Frauen die Möglichkeit, den Geburtsort frei wählen zu können und durch eine ihnen bekannte und vertraute Hebamme individuell bei der Geburt betreut zu werden. Eine pauschale Lösung ist nicht in Sicht, da das Problem mehrere Zuständigkeitsbereiche berührt. Umso mehr freute sich die Hebamme Runte über die Einrichtung einer “interministeriellen Arbeitsgruppe”, die nun über dieses Thema beraten soll. Aus dem ersten Treffen am 10. Januar 2013 ist sie allerdings „mit großer Skepsis rausgegangen“: Sie fürchtet, dass ihr Gesuch in dieser Legislaturperiode nicht mehr umgesetzt werden wird. „Das Versprechen der Kanzlerin ist schon etwas, das mir Hoffnung gibt“, erklärte sie im Gespräch mit politik-digital.de. Aber  wirklich hilfreich wären diese Bemühungen in ihren Augen nur, “wenn sich noch vor der Sommerpause etwas tut, zumindest in Sachen Haftpflicht.”

Alles für den Kummerkasten?

Genau hier liegt das Problem vieler Online-Bürgerdialoge: Ein echter Dialog braucht Zeit zum Argumentieren, Zuhören und Abwägen. Kurz gesagt: Er braucht Raum für Debatten. Diesen Raum sucht man im „Dialog über Deutschlands Zukunft“ vergebens. Vorschläge konnten nur einmal eingegeben, aber nicht umgeschrieben werden. Kommentieren konnte man zwar beliebig häufig, nicht aber Vorschläge konstruktiv weiterentwickeln. Warum aber sollte Laien im ersten Anlauf gelingen, wofür Parlamentarier viele Stunden und Debattenrunden brauchen: einen mehrheitsfähigen, realisierbaren Gesetzesvorschlag zu schreiben? Unter diesen Gesichtspunkten wirkt der Bürgerdialog der Kanzlerin trotz der über 2 Millionen abgegeben Stimmen so partizipativ wie die Installation eines Kummerkastens.
Briefkasten von x-av via FlickRIst das Internet also doch der falsche Weg? Nicht unbedingt. Um den hohen Idealen des Benjamin Barber näher zu kommen, sollte ein internetgestützter Bürgerdialog nicht nur Vorschläge sammeln und zur Abstimmung anbieten, sondern die Chance zur Mitarbeit an und Debatte über konkrete Handlungsanweisungen einräumen. Der „Zukunftsdialog“ der SPD-Bundestagsfraktion zum Beispiel, der die Formulierung des zukünftigen Regierungsprogramms der Fraktion zum Ziel hatte, bot seinen Teilnehmern diese Option. 2.015 Personen nahmen daran teil, 7.721 Stimmen wurden insgesamt abgegeben. Auch ein mehrstufiges Verfahren wäre für die Zukunft denkbar: Im ersten Schritt werden die Ideen möglichst vieler Personen gesammelt und untereinander diskutiert. Im zweiten Schritt werden diese Ideen einem kleinen Kreis von demokratisch gewählten Personen zur Überarbeitung vorgelegt. Deren Ergebnis wird dann noch einmal allen zur Abstimmung präsentiert. Diese von Politikwissenschaftler Dieter Rucht in den 1990er Jahren entwickelte Methode trägt den Namen „deliberative polling“ und wurde jüngst in Island eingesetzt, um eine neue Verfassung zu erarbeiten. Für die ersten beiden Schritte wurde dort erfolgreich das Internet genutzt, weshalb das Ergebnis von Beobachtern auch als „Crowdsourcing-Verfassung“ bezeichnet wurde.
Wie ZEIT Online berichtete, wurde in Merkels „Dialog über Deutschlands Zukunft“ leider auch in großem Umfang geschummelt. „Wochenlang hatte der Vorschlag „Gebt uns echtes Geld zum Leben“ exakt alle 30 Sekunden eine Stimme bekommen“, so ZEIT Online. Die Redaktion des Bürgerdialoges hatte keine andere Wahl, als solche offensichtlich manipulierten Vorschläge auf null Stimmen zurückzusetzen, von einer Verzerrung der Abstimmungsergebnisse ist also auszugehen. Da solche Vorfälle technisch nie völlig auszuschließen sind, erweist sich das Internet für Abstimmungen über wichtige Entscheidungen als eher ungeeignet; mehr als ein ungefähres Stimmungsbild sollte nicht erwartet werden.

Mehr Demokratie oder Partizipationsplacebo?

Der Traum von der partizipativen Demokratie per Internet erweist sich in der Realpolitik als ziemlich arbeitsaufwendig. Mal eben einen Vorschlag posten und darüber per Mausklick abstimmen – damit ist es nicht getan. Die technischen Möglichkeiten des Internets sollen schließlich nicht die Wege der Demokratie ersetzen, Gesetze nicht über das Parlament hinweg entstehen, nur weil eine „Mehrheit“ von 100.000 Teilnehmern im Internet dafür gestimmt hat. Was bedeuten 100.000 angesichts der 62 Millionen Wahlberechtigten Deutschlands?
Dennoch können internetgestützte Bürgerdialoge erfolgreich sein: Wenn sie auf bisher unbeachtete Probleme aufmerksam machen und Raum für den Diskurs geben, indem beispielsweise über räumliche Entfernung hinweg gemeinsam an einem Regierungs- oder Wahlprogramm, einer allgemeinen Werteerklärung oder einer konkreten Handlungsanweisung gearbeitet wird. Darüber aufzuklären ist die Aufgabe der politischen Akteure; andernfalls gerinnt auch der größte Bürgerdialog zu einem Partizipationsplacebo.


Übersicht: Internetgestützte Bürgerdialog-Projekte politischer Akteure

BürgerForum 2011 – Bundespräsident a.D. Christian Wulff lud 10.000 Bürger zu Debatten in virtuellen Kleingruppen rund ums Thema Partizipation. Innenminister Hans-Peter Friedrich sammelte im selben Jahr auf vergessen-im-internet.de Anregungen zur Datenkontrolle.
Annette Schavan initiierte den “Bürgerdialog Zukunftstechnologien” im März 2011.
Im “Dialog Internet”, der von Herbst 2010 bis August 2011 lief, sammelte Familienministerin Kristina Schröder Handlungsideen.
Mit dem “Bürgerdialog Nachhaltigkeit” hatte die Kanzlerin 2011 mit ihrem ersten Online-Dialog Premiere.
Die SPD-Bundestagsfraktion startete im Frühjahr 2012 einen “Zukunftsdialog”, der es regsitrierten Teilnehmern im Internet erlaubte, am Regierungsprogramm der Fraktion in sechs Gruppen mitzuarbeiten.
Am 1.2.2012 startete die Bundeskanzlerin ihren “Dialog über Deutschlands Zukunft”, in dem Internetnutzer gut zwei Monate lang Vorschläge posten, kommentieren und über diese abstimmen konnten.
Die Parteiführung der SPD fragte die Bürger per Postkarte, Mail und Fax nach ihren Vorschlägen für das Programm der Bundestagswahl 2013.
Bündnis 90 / Die Grünen plant unter seinen Mitgliedern 2013 eine Diskussion um die Inhalte des Wahlprogramms.

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