Ein Tag als UN-Katastrophenhelfer oder doch eher syrischer Flüchtling? Mit den “Serious Games” ist genau dies möglich. Spiele, die politische- und gesellschaftskritische Themen vermitteln wollen, verbreiten sich zunehmend im Netz. Doch gerade in Anbetracht der Häufung humanitärer Krisen in den letzten Jahren stellt sich die Frage: steigern die Spiele Empathie und Mitgefühl oder sind sie ethisch bedenklich?

Diego hat sich verletzt. Du hast nun drei Möglichkeiten: ihm deine letzte Medizin zu geben, mit ihm weiterzulaufen, oder ihn zurückzulassen. Was möchtest du tun?
Ratlos sitze ich vor meinem Bildschirm. Gebe ich ihm meine letzte Medizin, haben wir keine Reserven mehr für womöglich schlimmere Verletzungen. Wenn wir ihn so mitnehmen, sind wir als Gruppe wesentlich langsamer und werden schneller von den Parkwächtern entdeckt. Und ihn zurücklassen? Das hieße, wir lassen Diego in der Wüste von New Mexiko verdursten. Ein kurzer Blick auf den linken Rand des Bildschirms zeigt mir, dass auch meine Energie- und Kraftreserven sich langsam dem Ende zuneigen. Das schaffen wir doch nie.

The Migrant Trail – so heißt das Spiel, an dessen schwierigen Entscheidungen ich verzweifle. Als Teil der Website theundocumented.com soll es auf die vielen Lateinamerikaner aufmerksam machen, die als illegale Einwanderer durch die Wüste von New Mexiko fliehen, um in den USA Fuß zu fassen. Es ist ein Teil der amerikanischen Webseite gamesforchange.org, einem der führenden Anbieter für Serious Games. Seit einigen Jahren wird das Konzept von digitalen Spielen, die nicht bloß der Unterhaltung, sondern auch der Wissensvermittlung dienen sollen, immer populärer. Von Umweltschutz, unheilbaren Krankheiten bis zur Entwicklungszusammenarbeit, werden hier fast alle problematischen Themen der heutigen Zeit verarbeitet.

Wissen durch Mitgefühl?

Während das Ziel aller Serious Games die Wissensvermittlung ist, gibt es doch große Unterschiede in der Umsetzung der Spiele. Hier kommt es vor allem auf das Medium an, mit dem gespielt wird.  Der Großteil der Spiele lässt sich online aufrufen und direkt in einem Webbrowser spielen. Diese Minispiele sind meist so konzipiert, dass sie in 30 Minuten abgeschlossen werden können. Sie dienen also als erst Annäherung an ein Thema und lassen sich zum Beispiel sinnvoll in den Unterricht einbinden. Einige der Browsergames, wie zum Beispiel Das kostet die Welt der NGO Welthungerhilfe, sind mit Spendenaufrufen verknüpft. Der erspielte Highscore kann direkt als Geldsumme gespendet werden, um die Tätigkeiten der NGO zu unterstützen. Ausführlichere Spiele mit zahlreichen Levels und verschiedenen Aufgaben gehen tiefer auf die Problematik ein, und versuchen so komplexere Themen detailliert zu erklären. Sie zeichnen sich außerdem meist durch eine wesentlich bessere Grafik aus, und benutzen teilweise sogar reales Videomaterial, wie das Spiel Inside the Earthquake Haiti. Solche Spiele sind meist nicht kostenlos, und können für den Computer heruntergeladen oder für die Spielekonsole gekauft werden. Hier wird teilweise der Erlös des Spiels an eine unterstützte Organisation gespendet.

Laut Tobias Miller, Medienpädagoge der Webseite spielbar.de, ist vor allem die Balance zwischen Wissen und Entertainment ausschlaggebend für den Erfolg des Spiels. Nur wenn die Kindern und Jugendlich auch Spaß am Spiel haben, werden sie auch freiwillig und über einen längeren Zeitraum gespielt. Ein zweites Merkmal, das für den Lerneffekt eines Serious Games ausschlaggebend ist, ist das Vermitteln von Empathie. Wenn ein Spiel so ausgerichtet ist, dass beim Spieler Mitgefühl erzeugt wird, ist die Chance höher, dass er oder sie sich auch danach noch mit den Inhalten beschäftigt.

 


Spendenaufruf des Spiels Das kostet die Welt 

 

Serious Games ernsthaft spielen?

Die Effektivität der Spiele in Hinblick auf die Wissensvermittlung ist also von Spiel zu Spiel unterschiedlich. Selbst wenn ein Spiel in der Theorie gut konzipiert ist, bedeutet dass für die Praxis noch nicht viel. Nicht alle Kinder und Jugendliche für die ein Großteil der Serious Games ausgerichtet ist, nehmen die Spiele ernst nur weil das Thema ein reales ist. Ein Beispiel hier ist das Spiel 1378 (km) aus dem Jahr 2010, in dem die Thematik der Grenze zur Zeiten der DDR vermittelt wird. Hierbei kann man unter anderem in die Rolle des Grenzsoldaten schlüpfen, der die Flüchtlinge möglichst mit friedlichen Mitteln aufhalten soll, jedoch auch seine Waffe benutzen könnte. Schnell wurde das Spiel als “makaber” und “Ego-Shooter” Spiel bezeichnet, da Spieler doch öfter zur Waffe gegriffen hatten, als sie das eigentlich tun sollten.  

Auch aktuellere Spiele, in denen Themen wie syrische Flüchtlingsrouten, Bürgerkriege oder Naturkatastrophen dargestellt werden, können aus ethischer Sicht hinterfragt werden. Ist es in Ordnung, dass wir vor unserem Computer sitzen und den Überlebenskampf von Menschen simulieren, die womöglich im selben Moment genau dies erleben? Realisieren wir, nachdem unsere Spielfigur viermal gestorben ist und wir das Spiel einfach neu gestartet haben, dass Menschen in der realen Welt dies nicht tun können? Auch wenn die eindrucksvollsten Grafiken und ein durchdachtes Skript ein Spiel leiten, bleibt es für uns eben doch nur ein Spiel, während es für tausende Menschen die Realität ist. Wird so nicht die Diskrepanz zwischen “uns” und “ihnen” umso größer?

Manche Spielen führen wiederum die eigene Intention gleich selbst ad absurdum. Phone Story möchte auf die Nachteile unseres Smartphone-Verschleißes aufmerksam machen. Das Spiel will zeigen, wie die Giftstoffe der entsorgten Handys in afrikanischen Ländern immense Schäden anrichten. Der erste Klick auf die Webseite des Spiels zeigt jedoch, dass man das Spiel unter Anderem als App auf sein Smartphone herunterladen kann. 

In der Theorie sind Spiele, die über die bloße Entertainment-Funktion hinausgehen, also sicherlich sinnvoll. Kindern spielend beizubringen, was es denn nun mit dem Klimawandel auf sich hat, ist eine gute Alternative zu langweiligen Lehrbüchern. Gerade jedoch wenn es um das Leiden anderer Menschen geht bleibt es fraglich, ob es gerechtfertigt ist so etwas auf dem Computerbildschirm zu simulieren, um möglicherweise einen nur geringen Lerneffekt zu erzielen.

Bist du sicher, dass du mit Diego weiterlaufen möchtest? Das Risiko von einem Ranger erfasst zu werden erhöht sich nun stark.
Sicher bin ich mir nicht, jedoch entscheide ich mich trotzdem fürs Weiterlaufen. Mal sehen was passiert. Schon nach wenigen Minuten werden wir von den Rangern entdeckt – ein paar Sekunden später sitze ich im Gefängnis und mein American Dream hat sich in Luft aufgelöst. Seufzend klappe ich meinen Bildschirm zu.

 

Titelbild: Screenshot from theundocumented.com, The Migrant Trail Game

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