Frank Schirrmachers Sammelwerk „Technologischer Totalitarismus“, nähert sich in verschiedenen Beiträgen unserem Umgang mit der Digitalisierung an. Wie können wir sie beschränken, nutzen, leiten? Und wie realistisch ist es eigentlich noch, sich der Digitalisierung individuell zu entziehen?
Digitalisierung und die Bequemlichkeit der Masse beim technologischen Totalitarismus
Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, hat Anfang 2014 einen bemerkenswerten und leidenschaftlichen Artikel mit dem Titel “Warum wir jetzt kämpfen müssen” veröffentlicht. Bemerkenswert ist er inhaltlich, aber vor allem deshalb, weil es (viel zu) selten geschieht, daß ein führender Politiker zu mehr Protest und der Auseinandersetzung mit einem Thema aufruft. Zumeist sollen wir doch in Sicherheit gewogen werden, dass die Politik auf dem richtigen Wege sei und es schon alles läuft.
Schulz stellt die aktuellen und zukünftig möglichen Folgen aus dem Umgang mit Daten und deren Sammlung dar. Er warnt vor den Risiken und Gefahren, die sich hieraus ergeben. Er fordert einen bewußteren Umgang, mehr Kontrolle und eben vor allem mehr Engagement und Kampf der Gesellschaft und ihrer Bürger ein. Folge dieses Essays war eine vom verstorbenen Frank Schirrmacher angeschobene Reihe von weiteren Artikeln unterschiedlicher Personen im Feuilleton der FAZ. Hans Magnus Enzensberger, Mathias Döpfner, Eric Schmidt, Sigmar Gabriel, Sascha Lobo, Gerhart Baum, Juli Zeh, Joaquín Almunia und Wolfgang Streck äußern sich neben anderen. Hierüber gibt es nun als Sammlung dieser Gedanken ein Buch mit dem Titel „Technologischer Totalitarismus“ , erschienen bei Suhrkamp. Aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln und Positionen wird dabei das von Schulz beschworene Thema betrachtet und bewertet.
Hans Magnus Enzensbergers Statement sollte man dabei vielleicht ob seiner unrealistischen Radikalität überspringen. Das Handy wegwerfen, keine E-Mails schreiben, nichts googeln, alles in bar zahlen und nichts im Internet bestellen ist wohl doch zu weltfremd, wenn auch sicher schützend, aber dabei eine der wenigen konkreten Handlungsanweisungen.
Schon beinahe legendär in seiner Wirkung war der offene Brief des Vorstandsvorsitzenden des Springer-Verlages, Mathias Döpfner, an den Chef von Google, Eric Schmidt. „Wir haben Angst vor Google“ ist das Leitmotiv angesichts der Marktmacht von Google. 92% aller Suchanfragen laufen über Google. Der nächste Wettbewerber ist bei 6 % und dummerweise aus China. Dabei geht Google inzwischen in viele andere Bereiche: Android als Betriebssystem für Smartphones und Tablets (Marktanteil 80%). youtube, googlemail, google maps, neuerdings eine Firma, die Drohnen herstellt, ein Unternehmen, das den Haushalt vernetzt, usw. Google ist sicher für das Verlags- und Zeitungswesen der größte gefährliche Ansprechpartner. Nimmt man noch Amazon, Facebook und Apple hinzu, hat man wohl einen Großteil des Marktes abgedeckt. Döpfner geht es vor allem um den aus dieser Marktmacht resultierenden Einfluss von Google über die generierten Werbeeinnahmen, die dem jeweiligen Urheber nicht zu Gute kommen. Ebenso steuert Google über seine Suchmaschinen-Algorithmen das Ranking von Inhalten. Döpfner spricht davon, dass bei einem Unternehmen der Traffic nach einer Änderung von Google um 70% einbrach.
Alle diese Firmen sammeln exzessiv Daten. Daten, die wir ihnen mehr oder weniger freiwillig geben oder die sich auch aus Korrelationen und Ableitungen ergeben. Ein Beispiel: Man weiß über uns, nach welchen Dingen und Begriffen jemand gesucht hat, wo er was bestellt hat, wohin es geliefert wurde, mit welchem Zahlungsmittel es bezahlt wurde, mit wem man geschäftlich und privat in Kontakt ist, welche Handynummer und Adresse man hat, wann man mit jemandem verabredet ist und wo man sich jeweils aufhält. In Zukunft ist dann auch ermittelbar, ob man zuhause ist, in welchem Raum, evtl. ob alleine oder mit mehreren Personen. Nicht alles und nicht immer und zu jeder Zeit ist für ein Unternehmen wie Google interessant, aber es besteht die Möglichkeit, diese Informationen zu nutzen und daraus ein Profil zu erstellen. Spätestens diese Möglichkeit ist für Geheimdienste dann der relevante Umstand. Allen den o.g. Unternehmen ist es gemein, dass sie mit der NSA mehr oder weniger freiwillig zusammenarbeiten. Aus Sicht der USA und der dort ansässigen Unternehmen ist die Spionage gegen Ausländer zulässig und die Zusammenarbeit überwiegend verpflichtend.
Viele beantworten für sich persönlich das Problem mit „ich habe nichts zu verbergen und bin kein Krimineller oder Terrorist, also stört es mich auch nicht“. Dies mag (hoffentlich) auch richtig sein. Man hat nur einerseits nicht die Möglichkeit, sich dem zu entziehen, sofern man sich nicht für ein Leben auf einer eremitischen Berghütte a la Enzensberger entschieden hat. Andererseits stellt sich eben die Frage, ob jeder eine so detaillierte Datensammlung über sich wirklich möchte. Der Satz ließe sich ja schließlich auch umdrehen und hieße dann „ich habe ja nichts zu verbergen und bin kein Krimineller und Terrorist, warum also willst du ohne Anlass meine persönlichen Daten?“.
Ist das Leben auf der Einsiedler-Hütte also keine Option, ist man zwangsläufig betroffen und kann sich dem auch nicht ohne Einschränkungen entziehen. Selbst wenn man keinerlei Smartphones nutzt, nicht bei Facebook ist, dann ist man dennoch sicherlich bei jemand anderem in einem dieser Systeme als Kontakt gespeichert oder im Kalender. Die mögliche Beeinträchtigung mag damit kleiner sein, aber sie ist eben nicht aus der Welt. Digitale Daten sind der Treibstoff des 21. Jahrhunderts. Dies sieht man schon alleine an Größe und Bedeutung der vorhin genannten Unternehmen. VW, Daimler und Bayer erreichen zusammen gerade die Marktkapitalisierung von Google alleine.
Die Eingriffe in unser Leben durch die Digitalisierung sind jetzt schon tief, und sie werden noch deutlich tiefer. Der Vergleich von Schulz mit einer ähnlich umwälzenden Epoche, der Industrialisierung, ist ganz sicher gerechtfertigt. Das Auftauchen der Dampfmaschine hat unser Leben komplett verändert. Die Folgen waren drastisch und so für die Menschen in ihrer Zeit auch nicht absehbar. In ähnlich umfassenden Umwälzungen befinden wir uns nun jetzt, und ähnlich unbemerkt von vielen Menschen. Ebenso wie vor 130 Jahren sind die Menschen massiv betroffen, merken es nur nicht im notwendigen Maße und stehen ohnehin Ungewissem gegenüber. Vieles ist zunächst Erleichterung und Verbesserung. Ob geschäftlich, im Alltag, beim Einkaufen, im zwischenmenschlichen Austausch, in der Information über etwas, dem ortsunabhängigen Arbeiten, dem Einkaufen, selbst bei der Frage, ob der Bus pünktlich ist.
Es mag auch hilfreich sein, festzustellen, wie der aktuelle Puls oder der Blutdruck ist. Problematisch wird es eben dann, wenn der Krankenkassenbeitrag am durchschnittlichen Herzschlag des Tages hängt und damit steigt oder fällt. Schwierig ist es, wenn die Kreditentscheidung nicht mehr von nachprüfbaren und vor allem nachvollziehbaren Bonitätskriterien abhängt und zudem jedwede Einzelfallentscheidung unmöglich wird. Mit der Kreditech gibt es inzwischen die erste Bank, die eine algorithmen-gesteuerte Kreditentscheidung fällt und selbst deren Vorstand nicht mehr sagen kann, warum A ein Darlehen erhält, aber B nicht. Einfluss haben Faktoren wie die gewählte Schriftart (weil Online-Zocker offenbar eine Vorliebe für eine bestimmte haben), die Frage, ob der Antrag per copy and paste ausgefüllt wird und auch wie die Facebook-Freundesliste aussieht. Bestellungen bei eBay und Amazon werden ebenso systematisch durchleuchtet. Der Algorithmus lernt und verändert sich dabei. Hat man demnach gerade die Bücher „Schuldenfrei leichtgemacht“ und „Mein Leben mit den Drogen“ bestellt, fällt vermutlich die so ermittelte „Bonität“ auf den Nullpunkt.
Somit entfällt für den Kunden (und auch den Banker) jede Chance, vielleicht den Parameter zu verbessern oder zu erklären, an dem die Kreditentscheidung scheiterte. Dies zeigt zwar umso mehr, dass das Bankensystem in jetziger Form vielleicht überflüssig würde, aber eben auch, dass der menschliche Einfluss nicht mehr gegeben ist. Ein wesentlicher Wert wie das zwischenmenschliche Vertrauen zählt nicht und hat schlicht keine Relevanz mehr.
Im Wesentlichen geht es jedoch um die Datenmengen, die über uns gesammelt werden und keinerlei Kontrolle mehr unterliegen. Ländergesetze wie z.B. das Briefgeheimnis in Deutschland greifen zu kurz. Ein ernstzunehmender Tipp ist übrigens, bei sehr vertraulichen Themen lieber ein Postkarte zu schreiben als eine E-Mail. Wie kaum änderbar, hinkt die Gesetzgebung und alles Regulatorische den geschaffenen Fakten hinterher. Das wird nie anders sein. Gesetzgebung will bedacht sein und ist überwiegend reagierend auf etwas, selten vorwegnehmend, selbst, wenn sie dies anders herum postuliert.
Die gesamte Wirtschaft geht einen Weg zur Digitalisierung. In wenigen Jahren wird unser kompletter Haushalt nicht mit uns reden, aber über uns. Jeder Kühlschrank, Toaster und jede Stehleuchte ist dann mit Rechenleistung ausgestattet, die vor fast 50 Jahren den Menschen zum Mond brachte. Alle Gegenstände reden dann über uns: Wann was verbraucht ist, was gekocht wurde, wann man zu Hause war. Das mag für das ein oder andere Alibi hilfreich sein, allerdings nicht, wenn es um die eigene Privatsphäre geht. Wir lassen uns unterschwellig terrorisieren und kontrollieren, ohne überhaupt das Bewusstsein dafür zu haben. Das Messer steckt in uns, es tut uns nur noch nicht weh und tötet uns (noch) nicht. Sensibilisiert mögen ja viele sein.
Viele erkennen sicher, dass die Bequemlichkeit und die Verbesserung des Alltages auch Nachteile auf der anderen Seite in sich tragen.
Nur: Was schade ist, ist, dass der in 2014 aufgebrachten Diskussion wenig nachfolgt. Die EU-Richtlinie ist immer noch nicht verabschiedet. Noch bedauerlicher ist der beklagenswert niedrige Schmerzpegel der Betroffenen: Eine ernstzunehmende Volksmeinung sieht man nirgends. Weder unglaublich umfassende und pauschale Datenabschöpfungen durch Geheimdienste bringen die Menschen wirklich auf die Straße, noch eben die erkennbaren Verwertungs- und Nutzungsmöglichkeiten durch unternehmerische Monopolisten oder Oligopole.
Man lässt mit sich geschehen. Und jedes große geschichtliche Unglück ist durch ein mit sich geschehen lassen entstanden. Den heutigen Generationen ist nicht eingängig, wie es zu einem NS-Staat mit Massenvernichtung kommen konnte. Dabei sind sie nicht besser und haben nichts aus diesen nur kurz zurückliegenden Entwicklungen gelernt: Sie sind ebenso passiv, wenn auch an anderen Stellen und hoffentlich nicht mit den gleichen furchtbaren Konsequenzen. Google und Co. sind weder Terroristen noch klassisches Diktaturen. Sie verfolgen konsequent ihr Geschäftsmodell und bieten ja auch tatsächlich deutlich positive Entwicklungen und Produkte. Sie nehmen nur die Schattenseite ihres Handelns nicht wahr genug. „Deshalb brauchen wir eine soziale Bewegung, die den Mut hat, das Notwendige zu tun, und die dafür notwendigen normativen und historischen Prägungen mitbringt.“ Das sagt der Präsident des EU-Parlamentes. Wie gesagt ein ungewöhnlicher Aufruf, wenn ein führender Politiker nach Revolution schreit. In der Sache selbst hat er nur Recht damit.
Gesellschaftliche Entwicklungen beklagen, aufgreifen, anprangern und ändern wollen, ist scheinbar nicht mehr die Sache der heutigen Generation. Der Elan, mit dem die Menschen in den 60er bis 80er Jahren auf die Straße gingen, kanalisiert sich heute in Youtube-Videos, Selfies, Instagram und Mode-Blogs. Nicht, dass dies grundsätzlich falsch und verwerflich wäre. Es führt nur dazu, dass es keine nennenswerten gesellschaftlichen Impulse und Entwicklungen gibt.
Die heute quer in alle Parteien hindurch verwurzelte Umweltpolitik und die grundsätzliche Einstellung, die Auswirkungen des Handelns von Politik und Wirtschaft auf Mensch und Umwelt zu prüfen und zu bedenken, hatte ihre Ursprünge in den Demonstrationen und gesellschaftlichen Bewegungen der 70er und 80er Jahre. Ohne diese Proteste ist es undenkbar, dass dieses Gewicht heute so breit vorhanden wäre. Merkels Ausstieg aus der Atomenergie ist unlösbar mit den grünen Bewegungen und der daraus folgenden gesellschaftlichen Implementierung verbunden. Der Start von gesellschaftlichen Veränderungen liegt demnach in Protesten der Menschen gegen bestimmte Entwicklungen. Was seinerzeit teilweise radikalen Charakter hatte und mit Gewalt bekämpft wurde, ist heute gesellschaftlicher Konsens.
Radikale Bewegungen im Sinne von Gewalt sind damals wie heute falsch. Radikalisierung im Denken und die Notwenigkeit, auf Missstände hinzuweisen, Entwicklungen Einhalt zu gebieten und Umsetzungen gesellschaftlicher und politischer Art zu fordern, ist jedoch der notwendige gesellschaftliche Katalysator, der überhaupt erst zu Veränderungen führt. Die gesellschaftlichen Themen sind vielfältig und haben eines gemeinsam: sie sind ungelöst und allesamt zu schwerwiegend, um nicht angegangen zu werden. Im Moment sind wir dabei, stillschweigend all jene Freiheiten und Rechte zu verlieren, für die jahrhundertelang Menschen in Europa gekämpft haben und auch gestorben sind. Sie werden uns nicht durch Diktaturen oder Kriege genommen, wir geben sie freiwillig her.
Wenn schon ein etablierter Politiker zum Kämpfen aufruft, dann ist es eigentlich schon zu spät. Und dennoch ist es nicht vergebens, wenn sich die bequeme Masse mal erheben würde, um klar für diese Werte einzutreten und sie für sich wieder einzufordern. Jeder fordert zu Recht für sich Individualität ein, will sich im Denken und Handeln nicht beschneiden lassen und seine Freiheiten nutzen. Der Trend zur individuellen Selbstfindung und zur Stärkung des eigenen Ichs verkennt dabei, dass dies nur dann möglich und umsetzbar ist, wenn die Gemeinschaft es ihm ermöglicht hat und schützt. Der Dissens zwischen Individuum und Kollektiv ist keiner, weil erst durch die Gemeinschaft das Individuum überhaupt ermöglicht wird.
Nahezu alle Regeln, die wir uns in nationalen Gesetzen über die letzten 120 Jahre erarbeitet, erkämpft und erstritten haben, alle Freiheiten daraus – all dies steht durch die Digitalisierung auf dem Spiel. Diese neue Welt findet in einem nahezu rechtsfreien Raum statt. Wir meinen in einem stabilen Staat mit demokratischen Regeln zu leben, tun es in unserer digitalen Parallelwelt jedoch im Augenblick nicht. Die digitale Welt ist ein wilder Westen mit Revolverhelden und ohne Sheriff. Manchmal guckt man dort um die Ecke hinein, aber keiner traut sich wirklich richtig hin und niemand hat den Mut, die Dinge wirklich in die Hand zu nehmen. Ohne den Mut der vorherigen Generationen wären wir nicht in der demokratischen Welt, in der wir leben. Es geht nicht weiter von alleine gut. Die digitale Welt fordert uns heraus. Sie fordert von uns heute den Mut ein, für den wir 50 Jahre später von den dann lebenden Menschen bewundert werden oder eben verachtet. Noch ist Zeit und Raum für uns, die Bewunderung zu ermöglichen.
Dies ist ein Crosspost von Gedankengemurmel. Der Artikel ist zuerst dort erschienen.