In der deutschen Netzbewegung herrscht Katerstimmung. Grund hierfür ist das jüngst verabschiedete Leistungsschutzrecht, gegen das die Netzbewegung hierzulande weitgehend erfolglos, allerdings auch nur halbherzig protestiert hat. Nun ist unter den Aktivisten eine Debatte über ihr politisches Scheitern ausgebrochen. Angestoßen wurde diese durch den Blogger, Autor und Berater Sascha Lobo. In seinem Blogartikel „Unsere Mütter, unsere Fehler“ berief er jüngst die vielbeschworene digitale Klasse zur vorgezogenen Zeugniskonferenz ein und ließ es heftig Sechsen regnen.
Neben einer Unfähigkeit zur strategischen Agendasetzung, sprachlichen Abkapselung und einer politischen Bündnisschwäche bescheinigt Lobo der deutschen Netzszene vor allem eine falsche Selbsteinschätzung ihrer gesellschaftlichen Reichweite und politischen Relevanz. Dabei geht es ihm einerseits um das unter dem Begriff Filter-Bubble [1] subsumierte Phänomen, dass die technischen Eigenschaften sozialer Netzwerke die Wahrnehmung ihrer Nutzer unbemerkt verzerren. Andererseits spricht Lobo einen generationellen Spalt in der Netzbewegung an, der schon im Rahmen der europaweiten Anti-ACTA-Protesten des Jahres 2012 zu beobachten war [2]: Die Altvorderen der Netzbewegung sind kaum in der Lage, ihren adoleszenten Nachwuchs kulturell zu integrieren und drohen sich selbst in einer generationellen Blase zu verlieren.
Anti-ACTA-Proteste in Europa im Februar und Juni 2012 (Quelle: Google Maps)
Dabei verfügt die Netzbewegung über ein reichhaltig gefülltes Reservoir für die Rekrutierung neuer Mitglieder: die Digital Natives. Gemeint sind damit diejenigen, deren Mediensozialisation bereits im fortgeschrittenen digitalen Zeitalter stattgefunden hat und die sich dementsprechend zu den Digitalisierungskonflikten der letzten zwei Dekaden intuitiv auf Seiten des Internets verorten. Welche Bedeutung die Digital Natives für die Netzbewegung auch in Deutschland haben, zeigte sich bei den Anti-ACTA-Protesten 2012. Die Teilnehmerzahlen der Demonstrationen gegen das Anti-Piraterie-Abkommen explodierten vor allem aufgrund der Mobilisierung von jüngeren Neuaktivisten im Alter zwischen 14 und 20 Jahren.
Das ganze Repertoire der jugendlichen Alltagskommunikation
Diese nahmen – zumeist in Freundescliquen – scharenweise an den über 55 Demonstrationen in der ganzen Republik teil. Sie wurden dabei weniger von den zentralen und alteingesessenen netzpolitischen Organisationen oder der Piratenpartei mobilisiert, sondern weitgehend über jugendkulturell angesagte soziale Netzwerke wie Facebook, Reddit oder Youtube. So riefen beispielsweise die politisch bis dato unauffälligen Youtube-Stars ihre zum Teil hunderttausenden jugendlichen Abonnenten zur Teilnahme an den Demonstrationen gegen ACTA auf. Durch diese Neumobilisierung machte die deutsche Netzbewegung eine Verjüngungskur durch: Die Neuaktiven engagierten sich eigenständig im Protest gegen ACTA und nutzten dabei das ganze Repertoire ihrer jugendlichen Alltagskommunikation. Sie gründeten Facebookgruppen für Demonstrationen, die über Google Maps bildgewaltig koordiniert wurden, produzierten Videos, die sie in ihren sozialen Netzwerken verbreiteten oder nutzten heimlich die Kopierer in ihrer Schule, um politische Flyer zu kopieren, die sie in Innenstädten verteilten.
https://www.youtube.com/watch?v=28dMok5EM-A&feature=player_embedded
Mr.Tutorial ruft zum Protest gegen ACTA auf
Die erfahreneren und meist ein bis zwei Jahrzehnte älteren etablierten Akteure der deutschen Netzszene standen dem Engagement der Jungen zunächst meist etwas ratlos gegenüber. Mancherorts versuchten sie den ungestümen Elan der Jungen etwas abzudämpfen, um organisatorische Fehler oder inhaltliche Entgrenzungen zu vermeiden. Dabei wurde immer wieder ein kultureller Spalt zwischen den verschiedenen Aktivisten-Generationen sichtbar, der sich oberflächlich an den verschiedenen digitalen Nutzerkulturen manifestiert: Während die Älteren vor allem über Blogs, Wikis und Twitter kommunizieren, nutzen die Jüngeren dazu vor allem Facebook oder Youtube.
Das neue und das alte Paradigma des Internets
Diese Differenz mag von außen betrachtet unbedeutend wirken, markiert jedoch einen grundsätzlicheren Konflikt zwischen dem neuen und alten Paradigma des Internets [3] sowie den Einstellungen ihrer Anhänger. So steht die inzwischen betagte Idee der Blogosphäre für eine relativ offene und autonom verwaltete Kommunikationsarchitektur, deren zentrales Ziel in der Herstellung und Sicherung kommunikativer Freiheit liegt. Diese Idee wurzelt tief in der Entstehungsgeschichte der Internetkultur und wird durch Konzepte wie freie Lizenzen, kollaborative Softwareprogrammierung oder Kulturproduktion reproduziert, die jedoch keine wirkliche massenintegrative Wirkung oder ökonomische Rentabilität entfalten konnten.
Die mediale Sozialisation der jüngeren Netzaktivisten vollzog sich dagegen vielfach in geschlossenen und kommerziell orientierten Kommunikationsumgebungen wie Facebook oder Youtube, die in den letzten Jahren enorme Wachstumsraten verzeichneten. Die jüngeren Nutzer haben mit dem strukturellen Bemühen um Freiheit und Autonomie jedoch weniger am Hut und unterwerfen sich trotz aller kreativen und subversiven Nutzerpraktiken letztlich den Regeln der großen Anbieter. Mit den etablierten Aktivisten teilen sie zwar beispielsweise eine Kritik am Urheberrecht, von dem sie sich in ihrer alltäglichen und kreativen Kommunikation subjektiv beschnitten fühlen. Nur selten entwickeln sich daraus aber belastbare Alternativkonzepte oder durchdachte Visionen.
Von der digitalen Avantgarde zu den Neumobilisierten
Hinzu kommen differente Rollenbilder, die aus abweichenden biografischen Erfahrungen resultieren. Die älteren Aktivisten, oftmals Anfang der 1970er bis 1980er Jahre geboren, haben den gesellschaftlichen Aufstieg des Digitalen parallel zu ihrem eigenen Erwachsenwerden meist intensiv miterlebt und die damit verbundenen Erfahrungen in die Konstruktion ihres individuellen Selbstbildes miteinbezogen. Dabei spielt die Wandlung der Sozialfigur des Nerds vom subkulturellen Außenseiter zur massenpopulären Leitfigur ebenso eine zentrale Rolle wie die Anknüpfung an die in den letzten Jahren populäre Erzählung einer digitalen Generation, wie sie sich exemplarisch in Christian Stöckers Buch „Nerd Attack“ [4] findet. Aus der Selbstwahrnehmung als digitale Avantgarde, und damit aus der für Generationskonflikte klassischen Perspektive einer nachwachsenden blockierten Elite, werden inzwischen handfeste politische Forderungen formuliert. Auch Netzaktivisten denken ab Mitte Dreißig mitunter an materielle Profanitäten.
Mit dieser Haltung und Perspektive haben die jüngeren Netzaktiven, die etwa Mitte bis Ende der 1990er Jahre geboren sind, nicht viel gemein. Altersgemäß unbefangener blicken sie mit einem verspielten Interesse auf Politik und das politische System. Die Kritik an ACTA fungierte für sie zwar als politisches Erweckungserlebnis, dennoch nicht unbedingt als zentrales Interessensfeld. Ganz ähnlich wie die zweite Mitgliedergeneration der Piraten interessieren sie sich für alle möglichen politischen Fragestellungen: Bildung und Geschlechterpolitik sind ebenso ihre Themen wie globale Gerechtigkeit oder Klimawandel. Jenseits einer allgemeinen kritischen Perspektive auf Politiker und Lobbyismus sowie einer idealisierten Vorstellung von (direkter) Demokratie mangelt es ihnen jedoch an einer übergeordneten Erzählung.
Im Rahmen der Proteste gegen ACTA schlossen sich diese zwei unterschiedlich geprägten und orientierten Gruppen im Rahmen eines kurzen politischen Gelegenheitsfensters zusammen. Ihre kulturellen und politischen Differenzen wurden dabei von der transeuropäischen Euphorie und politischen Dynamik der Proteste überbrückt. Während sich die Neumobilisierten offenbar nach dem Ende der Proteste in ihre Alltagswelten zurückgezogen haben, stehen die etablierten Akteure der Netzszene nun unter Zugzwang: Wollen sie nicht in einer selbstreferenziellen Sektiererei und fortschreitenden Überalterung enden, sondern die offensichtlichen gesellschaftlichen Potenziale nutzen, müssen sie ihre Bewegung für neue Impulse öffnen.
Dabei können sie die beschriebenen kulturellen Differenzen allerdings nicht ignorieren, sondern müssen diese produktiv nutzen. Erste Anzeichen für einen solchen Prozess finden sich in den mannigfaltigen Reaktionen auf die von Lobo angestoßenen Debatte, die zuallererst jedoch die eigentlichen Probleme reflektieren muss, bevor sie Lösungsansätze formulieren kann.
Dieser Beitrag ist ein Crosspost von: Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Bilder: Digitale Gesellschaft CC-BY-SA, Google Maps