dionysos 2Politikverdrossenheit und Misstrauen sind die Ursachen dafür, warum es neue Strömungen wie Occupy Wall Street und Piratenpartei gibt. Menschen misstrauen der Macht der Politik, aber auch der Medien. Hier schafft das Web 2.0 schnelle Möglichkeiten zu einer neuen Form der Demokratie mit direkter Beteiligung des Volkes.

Der Traum erscheint verlockend. Das Volk entscheidet und beeinflusst die politischen Prozesse und Mandatsträger direkt und unmittelbar, Politiker sind nur noch ein ausführendes Organ, das umsetzt, was die Mehrheit des Volkes durch direkte Abstimmung beschlossen hat. Keine politische Klasse würde dabei mehr ihre Macht missbrauchen können oder Entscheidungen treffen, die sich letztlich gegen den Willen des Volkes richten. Eine Neuinszenierung der griechischen Urform des Staates ist das Ziel, das dadurch nun in greifbare Nähe zu rücken scheint.

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Jacques de Saint Victor, Raymond Geuss: Die Antipolitischen. Mit einem Kommentar von Raymond Geuss. Hamburger Edition (Hamburg) 2015. 130 Seiten. ISBN 978-3-86854-289-9 . D: 12,00 EUR, A: 12,30 EUR, CH: 17,30 sFr

Jacques de Saint Victor, Professor für Rechtsgeschichte und Politik in Paris und Gastprofessor in Rom, hegt jedoch große Zweifel. De Saint Victor sieht gerade in vermeintlich transparenten und urdemokratischen Verfahren direkter Internet-Abstimmungen die Gefahr für die Demokratie an sich. So rückständig dies bei anfänglicher Betrachtung auch klingen mag, gibt es durchaus stichhaltige Gründe und Argumente, die seine Haltung belegen.

De Saint Victor analysiert die italienische Grillo-Bewegung, bei der es der namensgebende italienische Komiker tatsächlich bei der ersten Wahlteilnahme auf 25,5 % der Sitze im italienischen Parlament geschafft hat. Grillo ist ein Verfechter der puren Internet-Demokratie, ausgeübt durch ausschließliche Partizipation des Bürgers im Netz. Politiker sollen nur noch den Volkswillen umsetzen, ohne ihn zu verändern. Auf diese Bewegung bezieht sich de Saint Victor in seinen Ausführungen dann auch.

Ob nun die Grillo-Bewegung, Piratenpartei oder Occupy – abseits mancher nationaler Unterscheide begegnen alle Bewegungen den vorhandenen Parteien und dem demokratischen System mit Misstrauen. Sie sehen ihre Aufgabe in der Kontrolle der anderen und deren Macht. Zudem möchten sie Transparenz in die undurchsichtigen Abläufe und politischen Entscheidungen bringen und das Volk zu einem direkten Entscheider machen. Bei einigen dieser Volksbewegungen beginnt das grundlegende Problem jedoch  schon damit, dass sie oft nur wenige eigene politische Ansätze verfolgen. Zentrale Anliegen sind Kontrolle und Transparenz.

Um es relativ weit an den Anfang zu stellen – „Die Antipolitischen“ ist ein interessantes Essay und auch wirklich lesenswert. Es will jedoch etwas zu viel, greift zu kurz in der Analyse der Motive der sehr unterschiedlichen Volksbewegungen und bietet auch zu wenig Raum für eine Zukunftsprognose. Die Analysen und Kritikpunkte zur direkten Demokratie durch de Saint Victor sind jedoch eine Überlegung wert und dabei strukturiert dargestellt. Insofern bleibt es dem Leser überlassen, sich ein eigenes Bild über die ableitbaren Zukunftsperspektiven zu machen.

Vielleicht war das der Grund, de Saint Victors Essay durch einen Beitrag von Raymond Geuss zu ergänzen. Geuss, Philosophie-Professor in Cambridge, gelangt in seinem als Kommentar bezeichneten Aufsatz zu einer ähnlichen Analyse und Kritik, allerdings sind seine Schlussfolgerungen andere. Geuss sieht die Bewegungen und deren Ansätze zur direkten Demokratie ebenso kritisch wie de Saint Victor, aber auch als möglichen Motor zum Wandel der bestehenden Strukturen. Im Folgenden betrachte ich deshalb die Ansätze beider gleichermaßen, da sich die Kritikpunkte nicht grundsätzlich unterscheiden.

Direkte Demokratie vor 2.500 Jahren

Zunächst lohnt sich jedoch ein Blick zurück in die Vergangenheit, sowohl zu den griechischen Ursprüngen als auch zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, um sich vor Augen zu führen, warum wir aktuell eben keine ALLEN gemeinsame und direkten politischen Entscheidungen treffen, sondern dies auf Mandate und Abgeordnete in einer parlamentarischen Demokratie übertragen haben.

Die Athener Ur-Demokratie war tatsächlich eine direkte Demokratie. Man traf sich, diskutierte und stimmte ab. Politische Ämter wurden durch Los besetzt, um die besseren Chancen des Redegewandteren, Schöneren oder besser Auftretenden zu verringern und für Chancengleichheit zu sorgen.

Doch je mehr Menschen dort lebten und in das System mit einbezogen wurden, umso komplexer und zahlreicher die Entscheidungen wurden, desto mehr stießen diese Verfahren und Praktiken an die Grenzen des Systems. Man kann mit 300 Menschen innerhalb einer Polis sicherlich geordnete Debatten führen, nicht jedoch mit drei Millionen. Es kämen von ihnen weder genug zu Wort, noch könnten sich alle drei Millionen zu einem festen Zeitpunkt versammeln. Dabei ist die Debattenkultur eine zwingende Voraussetzung für eine demokratisch-parlamentarische Institution. Nur auf diese Weise ist es möglich, gehört zu werden, andere Argumente aufzunehmen, sich eine Meinung zu bilden oder auch schlicht seine Meinung zu ändern. Eine fehlende Debattenkultur ist ein wesentlicher und nachvollziehbarer Kritikpunkt an einem direkten politischen System.

Im Internet ist sicherlich ein Austausch in schriftlicher Form möglich. Jeder, der zum Beispiel Kommentare auf Zeitungsseiten verfolgt, wird aber schnell bemerken, dass es hier zu bemerkenswerten und kaum steuerbaren „Auswüchsen“ kommen kann. Verbaler Austausch per face-to-face-Kommunikation ist zudem direkter und auch wesentlich schneller. Das Internet beschneidet also die Diskussion um wesentliche Elemente und nimmt demnach der politischen Debatte viele ihrer Entfaltungsmöglichkeiten und Inhalte.

Nach dem 2. Weltkrieg ab 1947 ging es in Deutschland um die Wiedereinführung einer handhabbaren Demokratie und die Verfestigung ihres Verständnisses in der Gesellschaft. Auch wenn bei den Alliierten vielleicht manches Zerrbild über die Deutschen vorherrschte, hatten sie im Hinterkopf, dass Hitler letztlich mit legalen Mitteln und durch Wahlen an die Macht kam. Er erreichte zwar nie eine absolute Mehrheit, aber eben dennoch eine demokratische Basis, die dazu ausreichte, die Macht zu übernehmen. Die zahlreichen Wahlen in den 1930er Jahren und die ständig und kurzfristig wechselnden Regierungen, zum Teil durch Notverordnungen am Parlament vorbei regierend, prägten diese Zeit und gedankliche Basis.

Nach Kriegsende kehrten die Alliierten und die Väter des Grundgesetzes zu einer Variante einer „gemischten Demokratie“ zurück, deren Urform von Aristoteles beschrieben wurde. Plebiszitäre Elemente wurden gemischt mit aristokratischen, wenn auch nicht in ihrer originären Form. Ziel sollte sein, dass Deutschland durchgängig regierbar ist, sich nicht erneut in eine Präsidialdemokratie verfestigt und zudem eine gerichtliche Kontrolle parlamentarischer Entscheidungen ermöglicht wird. Aus diesem Grund entstand das Rechtsorgan des deutschen Bundesverfassungsgerichtes, das den Missbrauch der Gesetzgebung durch Regierungen kontrollierbar machen soll. Das Funktionieren dieser Kontrolle ist immer wieder bewiesen worden.

Die zusätzlichen Elemente direkter Demokratie, die das Grundgesetz mit der Möglichkeit von Abstimmungen auch vorsieht, sind hingegen in der Realität nicht ausgestaltet. Gesetzesinitiativen hierzu sind bisher gescheitert. Es bestand allerdings bei Gründung der Bundesrepublik die Angst, dass wie beim Nationalsozialismus populistische Strömungen Teile des Volkes vereinnahmen und instrumentalisieren könnten und die Oberhand gewinnen. Auch aus diesem Grund wurde die gemischte Demokratie gewählt und der Bundespräsident, anders als der Reichspräsident, nicht mehr vom Volk gewählt und in seiner Macht beschränkt.

Beide Beispiele zeigen, dass es Gründe gab, nicht auf eine reine direkte Demokratie zu setzen. Die Entwicklungen und Hintergründe sind andere, die Ergebnisse jedoch ähnlich.

Was spricht gegen eine direkte Demokratie?

Wie belegt, gibt es also auch historisch betrachtet seit 2.500 Jahren immer wieder Überlegungen, die durchaus berechtigte Einschränkungen einer direkten Demokratie vorsehen und deren Gründe nachvollziehbar sind. Dazu kommen die Erwägungen aus den speziellen Eigenheiten des Internets.

Drei Gründe sprechen gegen die direkte unmittelbare Demokratie. „In der Demokratie gilt die Meinung des Unwissenden genauso viel wie die Meinung des Wissenden“. Der Satz von Platon spitzt es sehr scharf zu. Wissend und Unwissend ist dabei nicht zwingend eine Frage der Intelligenz, sondern der Kompetenz im jeweiligen Thema. Wie dargestellt fehlt im Internet der politische und inhaltliche Dialog, der ja nicht nur dazu dient, einen anderen zu überzeugen, sondern auch Wissen zu vermitteln.

In der Forderung nach Transparenz versteckt sich einerseits, dass der Politiker seine Handlungen, Gedanken und Bewegungen offenzulegen habe. Andererseits bleibt der Bürger jedoch seinerseits im Schatten der Anonymität. Zudem kann er nicht erkennen, ob im Internet dargestellte Meinungen Anderer tatsächlich transparent dargestellt werden oder vielleicht nur Vervielfältigungen geschickter Aktivisten sind. Eine vermeintlich durch ihre Wiederholung und Anzahl breite Meinung ist in Wirklichkeit vielleicht nur eine sehr kleine. Nach dem „Spiegeleffekt“ sind Verstärkungen möglich, und Extremes wird durch Wiederholung scheinbar zum „Normalen“.

Die direkte und unmittelbare Ausführung des plebiszitären Willens ist ebenso ein Kritikpunkt des Autors. Politik benötigt eben auch Zeit zur Reife der Gedanken und Argumente, die man ihr nimmt, wenn eine sofortige Abstimmung erfolgt. Wie oben beschrieben, ist die politische Diskussion ein wesentliches Element. Fehlt dieses, beraubt man die Demokratie einer wichtigen Funktion. Im Internet lässt sich schwerer ein Abgleich herstellen zwischen der vorgetragenen Position und der Persönlichkeit des Vortragenden oder seiner konkreten Interessen, die Einfluss auf seine Position haben oder haben könnten. Dies bleibt oft in der Anonymität verborgen.

Und drittens ist eine mögliche Folge die Unbeständigkeit und fehlende Konsistenz solcher Entscheidungen, die nicht von einem größeren Plan geleitet werden, sondern von aktuellen und oft täglich wechselnden Stimmungen, welche ebenso auch ausgenutzt werden könnten. Eine stetige politische Richtung mit System und Idee wäre vielleicht nicht möglich.

Fazit

Jedes dieser grundsätzlichen Argumente ist sicherlich auf die eine oder andere Weise auch widerlegbar, in den grundlegenden Aussagen sind de Saint Victors Argumente jedoch nicht zu verkennen. Er vertritt eine radikale Meinung, wenn er die aktuellen politischen Strömungen allesamt als antipolitisch verteufelt. Vielleicht liegt dies an seiner Begrenzung im Wesentlichen auf die eingangs erwähnte italienische Grillo-Bewegung. De Saint Victor übersieht hier den Wunsch von Teilen der Bevölkerung, einen anderen und modernisierten Weg gehen zu wollen. Offensichtlich gibt es Irrungen und Wirrungen bei so mancher Strömung, Bewegung und Partei, aber auch einen erkennbaren Zusammenhang zwischen einer zunehmenden Unzufriedenheit und den aktuellen politischen Systemen und ihren Ausprägungen.

De Saint Victor arbeitet die einzelnen Kritikpunkte an der „Maus-Klick-Herrschaft“ gut heraus. Er stellt die Widersprüchlichkeit einer „Demokratie“-Bewegung Grillos dar, die innerlich tatsächlich anti-demokratisch ist und im Grunde diktatorisch geführt wird. Ob dies nun allerdings für alle Bewegungen gleichermaßen gilt, ist zweifelhaft. Ganz sicher jedoch sind De Saint Victors grundsätzliche Analysen richtig. Kein Bürger wird sich abends nach der Arbeit hinsetzen und dann erst einmal 15 Abstimmungen im Internet vornehmen wollen. Erst recht nicht nach der Lektüre z.B. eines Handelsabkommens wie CETA mit einem Vertragstext von rund 500 Seiten (mit allen Dokumenten sogar 1.600!) oder aktuell 500 Seiten Stellungnahme zur Änderung der Tötungsparagraphen im Strafgesetzbuch. Sollte er dennoch ohne einschlägige Beschäftigung mit dem Für und Wider abstimmen, käme der Bürger wohl nicht zu einer fundierten Entscheidung, sondern nur zu einer emotionalen oder populistischen.

Geradezu erschaudern lässt einen auch die Vorstellung, der am Computer sitzenden „Wutbürger“ entlädt seine Stimmung und zweifelhaften Ressentiments nicht nur auf diversen Zeitungsseiten und Facebook, sondern nun auch noch in einer Online-Abstimmung.

Jacques de Saint Victor gelingt in seinem Essay eine fundierte Aufarbeitung der Probleme direkter Demokratie. Er lässt nur leider eine Idee vermissen, wie man Bestehendes mit Neuem so kombiniert, dass ein gangbarer Weg in die Zukunft entstehen kann. Keineswegs kann und sollte man ihm den Vorwurf machen, dass er sich gegen direkte Demokratie an sich stellt. Seine Bedenken, wie auch die von Geuss, sind jedoch ernstzunehmende Einwände, die man auch als solche behandeln muss. Es mag sein, dass das von ihm gewählte italienische Beispiel auch tatsächlich das ungeeignetste sein kann, weil Grillos Bewegung auf eine „Maus-Klick-Herrschaft“ hinaus möchte. Davon kann man allerdings nicht ableiten, dass nun alle Bewegungen der Bürger so gestaltet seien.

Ausblick

Die Unzufriedenheit der Menschen ist greifbar und auch nachzuvollziehen. Sie muss ernst genommen werden, sei es im Positiven oder auch im Negativen. Es wäre ein Fehler, diese Stimmung nicht aufzugreifen, weil dies die Demokratie an sich eher gefährdet als stärkt. Im Gegenteil – wenn es gelänge, einen Großteil dieser ja erkennbar politischen Energie nicht im Extremen zu belassen, sondern in bestehende Systeme und Strukturen zu kanalisieren, können am Ende alle gewinnen und den Staat stärken. Im anderen Fall besteht die Gefahr des extremistischen Zerfaserns an den Rändern.

Es ist eine gewaltige Chance der Re-Politisierung unserer Gesellschaft. Einige Mittel direkter Demokratie sind sinnvoll und machbar. Willensbildung, Ideenfindung und auch manch konkrete Abstimmungen könnten so erfolgen. Die Idee hingegen, dass wir nun alle virtuell per Klick abstimmen, um die Gesetzgebung an uns zu nehmen, ist schlicht nicht umsetzbar und am Ende tatsächlich auch anti-politisch und anti-demokratisch.

Überlegenswert wäre vielleicht ein anderes Element attischer Demokratie: Eventuell hielte die Drohung eines Scherbengerichts so Manchen von allzu wilden Ideen ab. Damals konnten auffallend Ehrgeizige oder auch politische Störenfriede vom Volk für 10 Jahre verbannt werden, um die Demokratie nicht zu gefährden. Manch Geschichtliches wartet vielleicht nur auf einen neuen Aufgriff.

Bild: [Ananabanana] (CC BY-NC-SA 2.0)

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