Ende September veranstaltete unser freier Autor Stephan Raab ein Seminar über die Parallelen und das Zusammenspiel von Religion, Digitalisierung und Identitätsfindung. Hier fasst er die Erkenntnisse zusammen.
Wie gehen Religionen mit Digitalisierung um? Eine unserer Sommerreihe stellte die Gretchenfrage. Aber wie gehen Religionen in Zeiten der Digitalisierung miteinander um? Dieser Frage widmeten sich die Dialogperspektiven vom 26.-30.09. in Horn- Bad Meinberg.
Digitalisierung als Dialog
Wir befinden uns mitten im Prozess der Digitalisierung. Die Grenzen zwischen virtueller und realer Welt verschwimmen immer weiter. Aber Internet bedeutet für jeden etwas anderes. „Das Internet ist für mich ein Ort der politischen Meinungsbildung.“ „Das Internet ist für mich eine Möglichkeit der Repräsentation.“ „Für mich ist das Internet vor allem ein Diskursmedium“. Diese unterschiedlichen Auffassungen im interreligiösen Diskurs standen im Zentrum des Seminars „Religion und Technologie“ in Horn Bad Meinberg. Das Seminar ist Teil der Dialogperspektiven, welche seit 2015 jährlich durch das jüdische Ernst Ludwig Ehrlich Studierendenwerk organisiert werden. Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionen und Weltanschauungen treffen hier mit Expertinnen und Experten zusammen, um gemeinsam über ein zentrales Thema zu diskutieren: die Rolle von Religion für Individuum und Gesellschaft, hier anhand des technischen Wandels.
Im Rahmen von vier Arbeitsgruppen wurden das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, die Entstehung von Scifi-Religionen, Chancen und Risiken des Transhumanismus erläutert. Hier durfte ich mit Studierenden verschiedener Herkunft und Religion für politik-digital.de aufbauend auf der Reihe Religion und Internet die Parallelen zwischen Identität im Internet und die Diskussion um die Leitkultur betrachten.
Informatik eine Religion für sich?
Kann ein Informatiker auch Theologe sein, oder ein Theologe Informatiker? Beide scheinen in verschiedenen Welten zu leben, doch glaubt man dem Werk „Das brandneue Testament“, so werden Parallelen deutlich. Im Film sitzt Gott in einem großen Büro und bestimmt über seinen Computer die Gebote, welche das Leben der Menschen schwer machen sollen. Daher war es naheliegend, zu Beginn des Seminares beide Welten miteinander zu verknüpfen.
So verschieden Informatik und Theologie auch sein mögen, beide verbindet eine Aufgabe, konkret gesagt, das Ziel Antworten zu finden. Beide pflegen ihre besonderen Rituale, sei dies der Besuch eines Gottesdienstes oder einer Codeparty. Beide versuchen Komplexität zu reduzieren, folgen eigenen Regeln und Grundsätzen, schaffen Ordnungen und Systeme. Beide unterscheiden sich aber in einer Sache grundlegend. Für die Informatik ist das richtige Ergebnis zentral. Handlungsanweisungen für Computer sind entscheidend, aber widerlegbar. Für die Religion sind die Wahrheitsfrage und Sinnfrage zentral, Religion ist hingegen Überzeugung und kann als solche nicht ohne weiteres widerlegt werden. Beide streben aber nach Sinn und Ordnung.
Identität mehr als Internet
Schaut man sich das Leben in einer digitalen Welt an, wird schnell deutlich, dass die Digitalisierung nicht eine rein technische, sondern vor allem eine soziale und gesellschaftliche Frage darstellt. Einerseits dient das Internet als Parallelwelt zur Realitätsflucht, sich auszuprobieren. Andererseits bietet das Internet auch die Möglichkeit von Kommunikation, Identifikation, Teil einer Gruppe etwa in den sozialen Medien zu werden, Zugehörigkeit zu erfahren. In diesem Sinne dient der digitale Raum auch als Ort der Selbstdarstellung und sozialen Bestätigung.
„Im Internet kann ich sein, wer ich will!“, meinte die Pfarrerin und PR-Referentin Iris Battenfeld im interreligiösen Podiumsgespräch. Sie betreibt den Twitter Account Pressepfarrerin. Die Zeit im Netz empfindet sie als angenehm, um Leute zu treffen. Wenn sie gerade keine Lust habe, so würde sie einfach nicht twittern. Die Theologin und ehemalige Geschäftsführerin des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Österreich Sarah Egger entgegnete: „Ich bin lieber im Moment. Daher fällt es mir schwer eine Nachricht dazu zu schreiben!“. Die Wienerin betreibt den Blog Davidsplitter. Ihr ginge so vieles durch den Kopf, dass sie es als positiv empfinde, diese Gedanken mit Menschen zu teilen. Die muslimische Bloggerin Safiye Aslan von denkerinnen.de gab allerding zu Bedenken, jede Nutzerin und jeder Nutzer sei in einer gewissen Blase. Daher plädierte sie dafür: „Wir müssen einen gemeinsamen Raum schaffen, in welchem sich alle Weltanschauung begegnen können!“.
Digitaler Raum für Diskussion
Aber wie soll dieser Raum aussehen? Im dritten Teil des Seminars stand die Frage nach den Parallelen zwischen Digitalisierung und der Frage nach einer spezifischen Leitkultur im Raum. Das Internet als technische Infrastruktur ist gekennzeichnet durch seine dezentrale Struktur. Einen Kern für das Internet gibt es nicht. Dennoch existieren verschiedene Knotenpunkte, an welchen die großen Datenströme zusammenkommen und verarbeitet werden. Sie stellen sozusagen die Leitfäden für das globale Netz. Aber kann dies auch für die „Leitkultur“ gelten?
Klar ist, dass die Prozesse von Globalisierung und Digitalisierung zusammenhängen. Zwar wurden auf diese Weise Menschen aller Regionen miteinander verbunden, doch erkannte der amerikanische Geograph Arjun Appadurai eine fundamentale Problematik für den Globus: „Je globaler die Welt wird, desto deutlicher werden die Unterschiede sichtbar!“. Heute konkurrieren verschiedene gesellschaftliche Modelle, Religionen und Weltanschauung darum, die global vernetzte Welt miteinander zu verbinden. Hier scheint die Religion wieder bedeutsamer zu werden, wie der Publizist Erik Händeler feststellt: „Religion macht den Unterschied. Religion vermittelt Werte; Werte bestimmen wie Menschen miteinander umgehen […] wie sie Staat und Wirtschaft organisieren!“
Ein Fazit aus den anderen Arbeitsgruppen lieferte auf dieses Spannungsfeld mögliche Antworten. So gehen bestimmte Strömungen davon aus, alles müsse auf beweisbaren, klaren Fakten beruhen, die Religion verliere so ohnehin ihre Legitimation. Der Transhumanismus geht hier einen Schritt weiter, indem sich der Mensch praktisch selbst zu den Göttern aufschwinge. Das einzige, was zählen würde, das wäre der technische Fortschritt. Irgendwann als Cyborgs hätte die Menschheit alle Mängel des menschlichen Körpers überwunden und wäre unsterblich. Noch viel weiter gehen verschiedene neue Science-Fiction-Religionen. Einige wie die Präastronautik behaupten, Außerirdische hätten einst die Erde besucht. Diese wären aufgrund ihres technischen Fortschrittes als Götter verehrt worden. Doch könnten moderne Raumschiffe es den Menschen ermöglichen diese Götter zu besuchen, zu ihnen aufzusteigen. Andere sprechen gar vom Mind Uploading, man könne der realen Welt entfliehen und eine neue bessere Welt in einer Art selbst geschaffenen virtuellen, digitalen Garten Eden erlangen.
Vernetzt und doch verbunden
Bisher ist das meiste davon noch Fiktion, Utopie oder Dystopie. Nichtsdestoweniger ist dies erst der Anfang einer Entwicklung voller Veränderungen und Umwälzungen. Aber was bleibt? Wer sind „wir“ in dieser globalen Welt? Angesichts von steigender Zuwanderung und Pluralisierung der Gesellschaft ist eine neue Debatte über die spezielle deutsche Identität erwacht. Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang der Begriff der „Leitkultur“.
Der letzte Teil des Seminares widmete sich insbesondere diesen Begriff. Einige Teilnehmer lehnten den Begriff vollkommen ab, da sie diese Debatte als überflüssig empfanden, andere bedauerten, der Begriff werde vor allem als Kampfbegriff von bestimmten Gruppen missbraucht. Der Tag der deutschen Einheit gab dennoch Anlass über die Veränderung in und der deutschen Gesellschaft nachzudenken: Was bedeutet es heute ein Teil Deutschlands zu sein?
Fazit:
Die Frage nach einer spezifischen deutschen Identität konnte im Seminar nicht beantwortet werden. Es bestand viel eher Einigkeit in Vielseitigkeit, dass es einen festen Kriterienkatalog nicht geben könnte, der definiere, was Deutschland ausmache und was nicht. Viel eher ist die Frage parallel zur Digitalisierung zu betrachten. Der Cyberspace verändert sich ständig je nach den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer und passt sich diesen an. Auf der Suche nach den Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Miteinander müssen wir etwas ähnliches, sich stetig veränderndes schaffen.
Das Bedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit ist angesichts einer entgrenzten Welt groß. Hierzu müssen wir gemeinsame Räume des Austausches und des Dialoges finden. Eine Woche mit Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen zu verbringen, ob beim Freitagsgebet, der Schabbatfeier oder einem ökumenischen Gottesdienst, macht deutlich, dass eher der Diskurs als das Ergebnis entscheiden ist, denn die Digitalisierung wird vieles im stetigen Wandel halten, auch das gesellschaftliche Miteinander.
Titelbild: Photo by Chris Liverani on Unsplash
Bilder im Text: Redaktion, CC-BY-SA 3.0