Ein Bildungskanon ist immer auch ein Kanon der Medien, über
die er transportiert wird. Denn ein Kanon gibt einerseits jene
verbindlichen Inhalte vor, die über die Zugehörigkeit zu
bildungsbürgerlichen Kreisen entscheiden.

Andererseits ist ein
Kanon an die Medien gebunden, in denen er zu finden ist – das
heißt, er enthält Benutzungsregeln für ihren Gebrauch. Zu den
institutionalisierten Säulen des Bildungskanons zählen Museen,
Theater und Bibliotheken. Ihre Medien sind Bücher, Lexika,
Fachzeitschriften und Zeitungsfeuilletons. Ihre Benutzungsregel ist
die Chronologie: Sie sind von A bis Z durchkonzipiert, werden
im Idealfall von der ersten bis zur letzten Seite, vom ersten bis
zum letzten Akt konsumiert.

Seit die digitalen und interaktiven Medien Wirtschaft und
Gesellschaft erobern, hat erwartungsgemäß auch eine
Kanondebatte eingesetzt. Sie rückt die Frage nach den
wandlungsbedingten Risiken und Chancen der digitalen
Revolution in den Mittelpunkt. Diese Debatte ist richtig und
falsch zugleich: Denn es geht dabei nicht mehr nur um die Liste
der maßgeblichen Bücher oder der mustergültigen Autoren. Es
geht um ein völlig neues Leitmedium.

Je krampfhafter versucht wird, einen klassischen Bildungskanon
oder die dazugehörigen Sekundärtugenden zu reformulieren,
desto deutlicher wird, dass ein derartiges Vorhaben unter den
gegenwärtigen Bedingungen unmöglich geworden ist. Und wie
immer in derartigen Situationen beginnt auch hier ein
Schaukampf: Apokalyptische Protagonisten sehen mit der neuen
Medientechnologie das abendländischen Denken untergehen;
affirmative Technikeuphoriker preisen die Chancen für
Ökonomie, Demokratie und Bildung.

Wissen lässt sich als die Fähigkeit eines Menschen begreifen,
selbst etwas in Gang zu setzen. Das bedeutet für das digitale
Zeitalter: Nicht die potenziell erreichbaren Informationen,
sondern die Kompetenzen der Auswahl, Bewertung und
zweckorientierten Nutzung sind die entscheidenden
Schlüsselqualifikationen für den Wissenserwerb. Nur wer neben
den technischen Voraussetzungen über diese inhaltlichen
Kompetenzen verfügt, ist in der Lage, der so genannten
Informationsflut zu begegnen. Nur der kann gewonnene
Erkenntnisse in soziales und politisches Handeln einfließen lassen.
Nur der kann als "gut informierter Bürger" eine aktive Rolle in
der heutigen Gesellschaft wahrnehmen. Die so gern attestierte
"digitale Spaltung" der Gesellschaft tritt dabei nicht nur als eine
materielle Frage des Zugangs auf, sondern vor allem als eine
kulturelle Frage der adäquaten Aneignung neuer Medien durch
ihre Nutzer. Daher entscheiden soziale Herkunft, Bildungsgrad,
Geschlecht und Alter über Informationsarmut oder -reichtum.

Was sind die neuen Kulturtechniken in einer nichtlinearen
High-Tech-Kultur? Dazu gehört, zielsicher von Informationsinsel
zu Informationsinsel zu springen – um dabei die Konvergenz von
Medien, Inhalten und eigenen Interessen herzustellen. Das kann
nur jeder für sich selbst. Nur wer flexibel und zugleich zielsicher
ist, kann Orientierung und Kontinuität aus dem Chaos der
Informationen gewinnen. Allein auf die inhaltliche Wertung eines
nur noch schemenhaft erkennbaren Bildungskanons zu vertrauen
reicht dabei nicht mehr aus. Und hier liegt die Chance eines
konvergenten Bildungskanons: "Alte" Inhalte und Maßstäbe mit
"neuen" Medien und Aneignungsweisen zu verbinden – um sie
wechselseitig zu überprüfen. Gemeinsame Werte und wichtige
Wissensbestände einer Gesellschaft lassen sich nicht aus sich
selbst oder ihrer Tradition heraus begründen. Sie müssen ihre
Relevanz stets neu legitimieren.

Dieser Artikel erschien zuerst in der taz vom 13. November 2000