Soziale Medien prägen unseren Alltag. Das war nicht immer so. Doch auch in Zeiten von Schallplatten und Röhrenfernsehern gab es bereits Ansätze partizipativer Mediengestaltung – und auch viel Selbstdarstellung, wie uns Prof. Tilman Baumgärtel im Interview erklärt hat.
Selfies, Shortclips und ganze Serien: Dank sozialer Netzwerke kann heute jeder der möchte, Inhalte ganz leicht selbst produzieren und veröffentlichen. Wie aber sahen eigentlich die Vorläufer von Youtube-Kanälen und Videoblogs aus? Und welche gesellschaftspolitischen Statements gingen von ihnen aus? Medienwissenschaftler Prof. Tilman Baumgärtel, Kurator der Oberhausener Kurzfilmtage 2017, zum Thema “Soziale Medien vor dem Internet” im Interview bei politik-digital.de.
Herr Baumgärtel, Soziale Medien und Internet. Das sind für die meisten zwei kaum trennbare Begrifflichkeiten. Welche Formen partizipativer Medien gab es eigentlich überhaupt vor dem Aufkommen der Online-Welt?
Den Konsumenten zum Produzenten von Medieninhalten zu machen – diese Forderung hat der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht schon 1930 für das Radio aufgestellt. Damals fehlten die technische Möglichkeiten, dem Publikum die Produktionsmittel zu überlassen. Radio war – wie auch der Film – noch technisch zu anspruchsvoll.
Aber der Wunsch, selbst Medien zu machen, ist so alt wie die Medien selbst. Und sobald das zum Beispiel durch Schmalfilm, Video, Offene Kanäle oder die ersten Online-Mailboxen möglich wurde, gab es auch Leute, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten – teils als Amateure, die Hochzeitsvideos drehten, teils aber auch Leute mit sozialen und politischen Zielen. Das hieß damals zwar noch nicht „Soziale Medien“. Diesen Zusammenhang zu den Internet-Angeboten der Gegenwart behaupte ich zunächst einmal. Aber bisher hat mir noch niemand widersprochen.
Wie kann man sich konkret die Kommunikation, aber auch die Produktion eigener Inhalte abseits neuer Medien vorstellen?
Das kann man so kaum verallgemeinern, das hängt zuallererst von den jeweiligen betreffenden Medien ab. Und selbst beim Piratenradio gab es zum Beispiel einerseits eine politische Fraktion, andererseits Radiopiraten wie Radio Caroline, die eher aus kommerziellen Gründen und mit Gewinnabsichten sendeten.
Welche Rolle spielten solche partizipativen Medien im gesamtgesellschaftlichen Diskurs und wie waren die Reaktionen der Allgemeinheit darauf?
Das ist unterschiedlich, weil die historischen wie die technischen Umstände immer wieder anders waren. Was mich bei den Programmen für die Oberhausener Kurzfilmtage besonders interessiert hat, war der Zusammenhang zwischen politischem und medialem Aktivismus seit Ende der 60er Jahre. Zu dieser Zeit gab es einerseits eine Reihe von technischen Entwicklungen (16mm, Super 8, Video), die den Zugang zur Medienproduktion erleichterten.
Andererseits hat sich durch die Studentenrevolte 1968 und die sich in den 70er Jahren entwickelnden Neuen Sozialen Bewegungen ein gesellschaftliches Umfeld für neue Formen der alternativen Medienproduktion (Piratensender, Videogruppen, offene Kanäle/Bürgerfernsehen) entwickelt. Diese Medienproduktion richtete sich damals zwar vor allen Dingen an politische Aktivisten. Aber heute sind das auch tolle Dokumente, wie für politische Forderungen gekämpft wurde, die inzwischen durchgesetzt sind: das Ende der Wehrpflicht und die Abschaltung der deutschen Atomkraftwerke, teilweise auch die Forderungen der Frauen- und der Schwulenbewegung.
Wie wurden diese Medien verwendet, um diese politische Akzente zu setzen?
Die Videos, die von Videogruppen wie der Medienwerkstatt Freiburg in Deutschland oder den Videofreex in den USA produziert wurden, verstanden sich als Teil einer „Gegenöffentlichkeit“, die eine Alternative zu der Berichterstattung der „bürgerlichen Medien“ darstellen sollte. Diese Vorstellung ist inzwischen leider teilweise von Kräften wie Russia Today, KenFM oder Breitbart News gekapert worden, die nicht gerade progressiven Vorstellungen verpflichtet sind. Trotzdem war es wichtig, dass es solche Stimmen gegeben hat, und das ist es auch heute noch. Und die Sozialen Medien der Gegenwart werden ja trotz Fake News und Polittrollen immer noch dafür verwendet, um solchen Stimmen Gehör zu verschaffen.
Viele sagen, Youtube und Co. wären heutzutage voller Selbstdarsteller. Ist das für Sie ein Abbild der postmodernen Gesellschaft oder sind lediglich die entsprechenden technischen Möglichkeiten jetzt für jedermann zugänglich?
Dass Video das Medium des Narzissmus ist, hat die amerikanische Kunsttheoretikerin Rosalind Krauss schon in den 70er Jahren geschrieben. Die vielen Dampfplauderer, Selbstdarsteller und Schminktipps-Verbreiter bei YouTube mögen zwar deprimierend sein. Und es stimmt einen schon traurig, wie hier zum Beispiel öde Geschlechterklischees höchst erfolgreich wieder aufgewärmt werden: Mädchen putzen sich heraus, Jungs zocken Ballerspiele.
Aber das Schlimmste ist eigentlich nicht, dass es solche YouTuber gibt, sondern dass sich das so viele ansehen, statt selbst ihr eigenes Programm zu machen. Das Versprechen von YouTube („Broadcast Yourself“) ist eigentlich bis heute nicht eingelöst worden. Trotzdem gibt es auch unter den YouTubern Beispiele dafür, dass auch aufdringliche Selbstdarstellung emanzipatorische Züge haben kann. Leute wie Marvyn Macnificent oder Ossi.Glossy geben zwar auch Schminktipps. Aber dass Jungs so etwas machen, kann man auch als Kritik an überkommenen Geschlechterrollen betrachten.
Dann zum Abschluss noch eine kurze Einschätzung: Wo sehen Sie Gefahren und Chancen in der Digitalisierung generell und in der Nutzung von partizipativen oder sozialen Medien im Speziellen?
Die sogenannten “Sozialen Medien” von heute befinden sich in der Hand von einigen wenigen Mammutunternehmen wie Google oder Facebook, die sich weitgehend nationalstaatlicher, politischer Kontrolle entziehen. Aller menschenfreundlichen Rhetorik zum Trotz sind sie letztlich vor allem wirtschaftlichen Interessen verpflichtet. Die Machtverhältnisse zwischen solchen Plattformen und ihren Nutzern sind vollkommen asymmetrisch. Anpassungen an nationale Gesetze nimmt zum Beispiel YouTube nur widerwillig und nachlässig vor. Auch Facebook lässt sich nur ungern Vorschriften machen, sondern orientiert sich an seinen eigenen „Community Standards“. Es ist unbegreiflich, wie YouTube so lässig mit dem Jugendschutz oder geistigem Eigentum umgehen kann, ohne dafür belangt zu werden. YouTube ist nicht nur die wohl größte Piratenbörse der Welt, sondern beliefert auch Kinder und Jugendliche mit ekligem Gangster-Hiphop und Gewaltvideos, die ihnen auf anderem Weg nicht zugänglich gemacht werden dürften.
In diesem Bereich haben sich Monopole gebildet, die dem möglichen gesellschaftlichen Nutzen dieser Angebote entgegenstehen. Jonathan Taplin argumentiert darum in seinem Buch „Move Fast and Break Things“, dass Unternehmen wie Google oder Facebook mit Hilfe der amerikanischen Anti-Trust-Gesetze zerschlagen werden müssen. Das mag eine richtige, aber kurzfristig kaum umzusetzende Forderung sein. Auf jeden Fall stellt sich die Frage, ob Facebook und YouTube immer noch die neutralen Plattformen sind, als die sie sich gerne darstellen, um keine Verantwortung für die Inhalte übernehmen zu müssen, die über sie verbreitet werden. Für mich spricht viel dafür, dass sie durch Moderation und algorithmische Kuratierung oder auch durch die Serien, die sie neuerdings produzieren, Medienunternehmen sind, die sich dann auch den Regeln und Gesetzen für Medienunternehmen unterwerfen müssten.
Vielen Dank für das Gespräch Herr Baumgärtel!
Titelbild: Radio room, by The Library of Virginia on Flickr