Ganz am Rande Europas liegt ein kleines Land, das sich dem digitalen Wandel verschrieben hat. Internet gehört hier zu den Grundbedürfnissen und ist überall zu haben. Ob Steuererklärung oder Arztbesuch: die E-Bürger erledigen alles übers Netz. Große staatliche Datenbanken stellen die Informationen bereit. Ein Blick auf Datenschutz in Estland zwischen Vertrauen und Vorreitern.

 Vom Balkan zum Computerhub

Aus dem nahen Finnland erklang die Mu isamaa, die estische Nationalhymne: Über den finnischen Sender YLE lauschten viele Esten zur Zeit der Sowjetunion den neusten Nachrichten und Entwicklungen in der ganzen Welt. Bis zur singenden Revolution verbot die sowjetische Führung das Vortragen estischer Lieder, weshalb der sprachlich, kulturell und geographisch nahe Nachbar Finnland dabei half, die eigene Kultur nicht zu vergessen.

Als Teil der Hanse waren die estnischen Städte bereits im Mittelalter offen für Austausch und Innovationen. Viele Völker wie die Dänen, Schweden und  Deutschen haben ihre Spuren in Estland hinterlassen. Unter der Sowjetunion wurde gar versucht, durch eine gezielte Ansiedlungspolitik von Russen die estnische Kultur aus dem Alltag zu verbannen.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 stand Estland wie viele postkommunistische Staaten vor einer wirtschaftlichen und kulturellen Selbstfindungsphase. Es waren vor allem die selbst noch sehr jungen Gründerväter des modernen Estland, die darin ihre Chancen erkannten. Anstatt an das veraltete sowjetische Erbe, das diese neue Politikergeneration selbst kaum mehr kannte, anzuknüpfen, fokussierten sie sich direkt auf die neusten Technologien. Bereits in den 1990er Jahren hatten sämtliche Schulen Estlands einen Internetzugang. Während in Deutschland erste wichtige Börsenmakler das Handy in Deutschland für sich entdeckten, telefonierte man in Tallinn bereits wie selbstverständlich mobil.

Der „Tiigrihüpe“, der Sprung des digitalen baltischen Tigers, wurde zum neuen einenden Symbol einer erstarkten noch jungen estnischen Nation. Große Anstrengungen und Einschnitte modernisierten das Land und brachten es an die Spitze des digitalen Wandels in Europa.

 Welcome to E-Estonia

Wer sich in Estland auf die Suche nach einem freien W-Lan macht, der braucht nicht lange suchen. Über 99% des Landes vom Strand bis in die dichtesten Wälder sind mit einem kostenlosen W-Lan Netz ausgestattet. Esten, die über keine eigenen Computer verfügen, haben die Möglichkeit, auf Banken, Postämtern oder sogar im Dorfladen kostenlos die Rechner zu benutzen. Internet ist in Estland als Grundrecht in der Verfassung verankert.

Von diesem Grundrecht machen die Esten fleißig Gebrauch. Als E-Bürger können sie sämtliche Behördengänge bequem online erledigen. Anstelle mühsam die Handschrift des Arztes zu entziffern, können Patienten einfach per ID-Karte das gewünschte Rezept vom Apotheker erhalten. Schüler lernen online, Entwickler tüfteln an immer neuen Ideen, Rentner skypen mit ihren Freunden von zu Hause aus. Es scheint fast, als sei das ganze Land durch und durch vernetzt. Diskussionen, Politik alles findet im Netz statt. Sogar der Gang zur Wahlkabine lässt sich mittlerweile bequem per Mausklick erledigen.

Wofür man in Deutschland drei Wochen braucht, das kann man in Estland in weniger als 15 Minuten erledigen. In wohl keinem anderen Land der Welt lässt sich so schnell und einfach ein Unternehmen gründen. Diese innovative technikfreundliche Haltung hat sicher dazu beigetragen, dass der weltweite Internettelefondienst Skype hier seine Wurzeln hat.

Das neue E-Estonia hat aber eine neue Zweiklassengesellschaft geschaffen. Auf der einen Seite bemüht sich die estnische Regierung um Zuwanderung und die Ansiedlung neuer Unternehmen im Land. Neubürger und Ausländer erhalten eine E-Residence, mit der sie, das Wahlrecht und die Aufenthaltsgenehmigung ausgenommen, sämtliche Angebote des digitalen Estlands nutzen können. Auf diese Weise sollen Investoren und Unternehmen angeregt werden in das kleine Land mit etwa 1,3 Millionen Einwohner zu investieren.  Prominentester E-Resident ist sicher der japanische Premierminister Shinzo Abe. Bis 2025 plant man in Tallinn, die Zahl der E-Residenten auf über 10 Millionen zu erhöhen.

Dem gegenüber steht die nach wie vor schwierige Integration der russischen Minderheit im Land. Während der sowjetischen Zeit waren diese bewusst in Estland angesiedelt worden und machen heute etwa 30% der Bevölkerung aus. Aufgrund der traumatischen Erfahrung des Verlustes der eigenen Unabhängigkeit von 1918 misstrauen viele Esten dieser Gruppe. Viele sehen in der russischsprachigen Minderheit einen verlängerten Arm der russischen Regierung, welche die eigene mühsam errungene Unabhängigkeit wieder in Frage stelle. Viele russischsprachige Bewohner in Estland sind nach wie vor staatenlos, da sie Russland nicht als Staatsbürger anerkennt und Estland ihnen die Einbürgerung verweigert oder massiv erschwert.  Bis heute sind trotz technologischem Wandel und neuem E-Government die Fragen von Integration und Teilhabe dieser Minderheit in Estland noch immer nicht gelöst worden.

 Vertrauen ist das sicherste Passwort

Ganz schön viele Dienste bietet das moderne E-Estonia seinen Bewohnern. Viele Dienste bedeuten aber auch viele Daten, die gespeichert und gesammelt werden. Insbesondere nach den Enthüllungen des NSA-Skandals ist die massenhafte Sammlung von Daten durchaus kritisch zu sehen. Jedoch beruhigt der estnische Präsident Toomas Hendriks Ilves, der selbst bereits in seiner Jugend erste Erfahrungen als Programmierer gesammelt hat: „Ich sorge mich aber nicht vor dem “Big Brother”, sondern vor Big Data. Davor, dass Unternehmen all die Daten, die sie von mir haben, gegen mich verwenden.“ Derzeit kümmern sich etwa 20 Mitarbeiter des Andmekaitse Inspektioon, kurz AKI, um den Schutz der  Daten. Das Vertrauen der Esten in ihre Behörden ist groß, denn sie können ihre Daten und den Zugriff darauf immer einsehen, kontrollieren und jeden Missbrauch direkt den Behörden melden.

Das Beispiel Estland macht zwei Dinge deutlich: Zum einen zeigt E-Estonia eindrucksvoll, welches Potenzial die modernen Technologien noch zu bieten haben. Leider bleibt Estland damit sehr allein, wenn es das Land nicht schafft, sein Know-How und seine Kompetenzen als Exportgut in andere Länder der EU und darüber hinaus weiterzugeben. Zum anderen zeigt sich, wo der Schlüssel für einen erfolgreichen digitalen Wandel liegt. Estland macht vor, wie Europa in den nächsten Jahren aussehen könnte. Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Das muss sie auch nicht, jedoch müssen wir lernen sie richtig zu interpretieren, mit ihr umzugehen und sie zu gestalten. Viele dieser Prozesse sind komplex und für die Bürger kaum nachzuvollziehen. Dafür ist vor allem viel Vertrauen nötig. Vertrauen in den Nutzen der Technologie, Vertrauen in die Sicherheit der Systeme und nicht zuletzt Vertrauen in die Kompetenz und Rechtsstaatlichkeit der obersten Datenschützer.

Titelbild: EstonianFlag by Ville Säävuori via Flickr licensed CC BY-SA 2.0

 

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