Der Starr Report beschreitet neue Wege bei der Vermengung von Fernsehen und Internet. Das umfangreiche
Material über Präsidenten und seine Praktikantin wird so allmählich zum neue Infotainment-Format: das "Hyperserial"

Der Starr Report auf dem Weg zum "Hyperserial"


Als am 11. September 1998 das amerikanische Repräsentantenhaus den
Untersuchungsbericht zur Lewinsky-Affäre im Internet veröffentlichte, brach in
den analogen wie digitalen Blätterwäldern das große Rauschen aus. Die Adresse
www.house.gov/icreport führe zum "Medienereignis des Jahrzents" (taz), der
Schriftsteller Stewart O´Nan erkannte darin den "ersten historisch bedeutsamen
Einsatz des World Wide Web", Entertainment Weekly bezeichnete den Bericht als
"herausragende Satire und Anzeige für Altoid-Pfefferminztabletten", das
amerikanische Online-Magazin Denizine schließlich
klassifizierte das HTML-Konvolut als "größte frei zugängliche Porno-Site".

Die nachfolgende Fernseh-Demütigung Bill Clintons durch die Übertragung der
Video-Aufzeichnungen des Verhörs sowie die Veröffentlichung weiterer
Materialien aus Kenneth Starrs Aktenschränken sorgte für die kontinuierliche
Eskalation der Affäre, die schließlich in der formellen Einleitung des
Impeachment-Verfahrens gegen den US-Präsidenten zu münden scheint.

Und auch in der deutschen Presse-Landschaft sorgt der Starr Report noch immer
für Nachbeben. Drehte sich die Diskussion zunächst um die Trennung von
Öffentlichkeit und Privatheit, geriet bald die Zukunft eines durch das
Internet herausgeforderten Journalismus in den Mittelpunkt und inzwischen
breitet sich allmählich
Verwunderung und Bestürzung ob der Langlebigkeit der Affäre und der Paralyse
der amerikanischen Politik aus.

Die Lebensdauer und die Reichweite der "Zippergate"-Affäre wurden zu einem
nicht unbeträchtlichen Teil gerade durch die ausführliche Online-Publikation
des Berichts erhöht. Eine aktuelle Betrachtung der Ereignisse muß daher auf
mehr als nur die simple "Ver-Öffentlichung" durch den Sonderermittler Starr
eingehen, sondern auch die Vielfalt der Online-Reaktionen erfassen, die den
ursprünglichen Bericht in einem Sammelsurium aus Entgegnungen, Ergänzungen,
Persiflagen, Kommentaren und Analysen haben aufgehen lassen – und
selbstverständlich fehlen auch nicht die kommerziellen Trittbrettfahrer, die
die schlüpfrige Materie als Werbeträger für eindeutige Web-Angebote nutzen.

Diese unübersichtliche Gemengelage hat es inzwischen mehr als problematisch
werden lassen, von einer Instrumentalisierung oder gar "Vergewaltigung des
Mediums Internet" zu sprechen – der Starr Report ist längst von einer
Dokumentensammlung mit investigativem Anspruch zu einem vielfach verwobenen
"Hypertextkörper" mutiert.

Woraus besteht nun die seit Anfang September stetig und mit wechselnder
Intensität um je neue "Körperteile" erweiterte Datenmenge?

Waren die präsidentellen
"rebuttals" aus dem Weissen Haus
lediglich ein matter Reflex auf die detailreichen Starr-Aufzeichnungen, hat
sich inzwischen ein kleiner Kosmos von guten und schlechten, informativen und
verwirrenden, privaten wie kommerziellen Web-Sites entwickelt. So verhilft
etwa die Nischen-Suchmaschine gomonica.com zum Einstieg in die Welt von Bill,
Monica, Kenneth und anderen Mitwirkenden. Unter der Adresse starrsearch.com
bereitet eine "Lesehilfe" den umfangreichen Berichtstext nach Schlagworten
häppchenweise auf und erlaubt auch statistische Auswertungen nach
Worthäufigkeiten.

Offenbar hat die besonders die Form der Aufbereitung des Berichts mit Hilfe
ausführlicher Erzählpassagen ("narratives") eine literarische Weiterführung im
Web herausgefordert: So hat das renommierte digitale Erotikmagazin
nerve° den Text auf die Passagen der
"sexual encounters" von Bill und Monica beschränkt, inzwischen buhlt auch eine
erste auf dem Untersuchungsbericht basierende "erotic novel", um die Gunst der
Leser.

Allerdings findet im Netz auch eine journalistische Auseinandersetzung mit dem
Thema statt, und dies auf breiter Front: Renommierte Eckpfeiler politischer
Online-Nachrichtenservices wie allpolitics.com
oder die Microsoft-Publikation Slate haben dem Starr Report ausführliche Analysen und
Kommentare gewidmet. Ein echtes Web-Glanzlicht liefert das "Clinton/Starr
Transcript" – das New Yorker Online-Magazin
"Feed" hat das Verhör des Prasidenten in
einen Chat-Room verlegt und liefert mit einem köstlichen Mitschnitt den
augenzwinkernden Ausblick auf den investigativen Journalismus von übermorgen.
Nicht zuletzt hat die umstrittene Veröffentlichung der Story über eine
außereheliche Beziehung des republikanischen Abgeordneten Henry Hyde durch das
kalifornische Online-Magazin "Salon"
eine handfeste Debatte um
journalistische Ethik vom Zaun geborchen, die zudem den wachsenden
Konkurrenzkampf zwischen Offline- und Online-Medien unstreicht.
In diesem Daten-Dschungel ist ein "Über-Blick" schlichtweg nicht mehr möglich,
stattdessen finden die Online-Leser ganz verschiedene Einstiege in ein Gewebe
aus Texten ganz unterschiedlicher Provenienz. Deren eigentlicher Mittelpunkt
bezieht sich auf den vom "Autorenteam" um Kenneth Starr vorgegebenen "plot",
zieht eine große Zahl von Lesern an, hat längst ein komplexes Eigenleben
entwickelt und ist so allmählich zu einer eigenständigen Textsorte mutiert –
sie trägt die Züge eines ersten populären Online-Romans.

Diese in den USA zunehmend Verbreitung findende Einschätzung hat auch schon zu
ersten Versuchen einer "textuellen Analyse" geführt – Annalee Newitz zieht das
Konzept der Intertextualität zur Einordnung des Reports heran (New York Press,
7.-13. Oktober 1998). Sie stellt zunächst eine Verbindung des Starr Reports
mit der Telefonsex-Novelle "Vox" von Nicholson Baker her – Monica Lewinsky hat
dem Präsidenten das Buch in einem "jetzt berühmt-berüchtigten Moment" (Newitz)
geschenkt. Über diesen textuellen Querverweis gelangt die Autoren zu dem
Schluß, daß der "Starr Report zeigt, wie die 90er Jahre der Entwicklung neuer
Formen massenmedial vermittelter Sexualität Vorschub geleistet haben. Einer
Sexualität, die die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen
Sex und Nicht-Sex in Frage stellt." Der unterhaltende Wert des Starr Reports
ergebe sich somit aus dem "Drama um juristische Spitzfindigkeiten" und der
Frage, ob Clinton seinen "präsidentellen Hintern durch ein juristisches
Schlupfloch quetschen kann".

Offenbar kommen Impulse für eine weitergehende Analyse des noch immer eifrig
fortgeschriebenen "Starr Hypertext" derzeit eher aus der Literatur- als aus
der Politikwissenschaft. Aufschlußreich könnte auch das Konzept des
"Hyperserial" sein, das Janet Murray entwickelt hat – sie ist Direktorin des
"Program in Advanced Interactive Narrative Technology" am Massachussetts
Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Dieses Erzählformat gründet auf das
sukzessive Zusammenwachsen alter und neuer Medienumgebungen und kombiniert
erzähltechnische Anleihen aus Fernsehsendungen mit den
Darstellungsmöglichkeiten des Internet. Ein Hyperserial besteht laut Murray
etwa aus "Tagebucheinträgen, Fotoalben, telefonischen Nachrichten, aber auch
aus Dokumenten wie Geburtsurkunden, juristischen Materialien oder
Scheidungsunterlagen". Der Clou des Hyperserials liegt jedoch im
multiperspektiven Zugang zur eigentlichen Story: "Auch kleinere Charaktere
werden zu potentiellen Protagonisten ihrer eigenen Geschichten, und bieten
somit alternative Handlungsstränge, die den ursprünglichen plot erweitern."

Ein Streifzug durch die Web-Welt des Starr Hypertextes bestätigt bereits
jetzt, nur fünf Wochen nach der digitalen Erstveröffentlichung des
Untersuchungsberichtes, daß zahlreiche Elemente eines "Hyperserials" vorhanden
sind – ein stetig wachsendes "virtuelles Autorenteam" bastelt für eine große
Lesergemeinde am weitverzweigten Online-Storyboard um Ermittler, Präsident und
Praktikantin. Wie diese Geschichte enden wird, ist noch lange nicht klar, die
nächsten Kapitel werden es zeigen – und die werden offline wie online
geschrieben.