Eine Herausforderung für die Parteien: Gerade
jetzt bietet das neue Medium ungeahnte Chancen
politischer Information
Manche Leute sind über den Mangel an Qualität des
nunmehr in seine heiße Phase tretenden
Wahlkampfes so verbittert, daß sie zur Strafe nicht
wählen werden. Zwar würde ihnen niemals in den Sinn
kommen, Supermärkte zu meiden, weil ihnen deren
billige Wurfsendungen auf die Nerven gegangen sind.
Aber bei den Produkten Kohl und Schröder sind sie
pingelig schlechte Werbung, keine Stimme. So rächt
sich, daß Wahlkampagnen heute von politisch
desinteressierten Werbeagenturen und für jeden
Nonsens verwendbaren spin doctors ohne inhaltliche
Pointe geführt werden. Zu Staats-, Demokratie- und
Politikverdrossenheit kommt Wahlverdrossenheit.
Die Dinge einfach darstellen
Aber wie würde das Wahlvolk auf den immer
geforderten argumentativen Wahlkampf reagieren, der
ihnen die anstehenden politischen Entscheidungen und
Regelungen tatsächlich so komplex und differenziert
darbieten würde, wie sie nun einmal sind? Politiker
werden, sagen sie, vom Publikum gezwungen,
komplizierte Dinge einfach darzustellen sonst
langweilen sich die Leute und schalten ab. In dieser
Linie ist es nur konsequent, wenn der Wahlkampf
amerikanisiert wird, also leicht kommunizierbare und
polarisierungsfähige Formeln verwendet und Personen
in den Vordergrund stellt. Daß Politik personifiziert und
Personen politisiert werden, ist freilich keine Erfindung
der Amerikaner. Schon Konrad Adenauer und auch
Willy Brandt gewannen Mehrheiten mit Reduktion von
Inhalt und der Vermarktung ihrer Person in
Überlebensgröße.
Da nun Amerikanisierung schon als Ursache
ausgemacht ist, wird das abgeneigte Publikum schwer
davon zu überzeugen sein, zu Wahlkampfzeiten mal
ins Internet zu schauen und im dortigen politischen
Angebot zu surfen. Oder ist der Verdruß am
Wahlkampf gar nicht so verbreitet? Immerhin haben
laut Umfragen fast zwei Drittel der Stimmbürger
bekundet, den laufenden Wahlkampf mit Spannung
oder Interesse zu verfolgen. Wie dem auch sei: Auf die
nächste Stufe der Amerikanisierung deutscher oder
anderer europäischer Wahlkämpfe kann man sich
schon einstellen, denn Cybercampaigning (zu deutsch:
Wahlkampf im Internet) gewinnt auch in der
Bundesrepublik langsam an Bedeutung. Keine Partei,
von den großen Volksparteien bis zu Splittergruppen
wie der Partei Bibeltreuer Christen, verzichtete 1998
darauf, Wahlkampfseiten ins Netz zu legen. Für die
Kleinen ist diese Art politischer Werbung sogar
besonders attraktiv, denn nichts ist billiger. Auch
Spitzenkandidaten siehe schroeder98.de,
guido-westerwelle.de oder joschka.de unterhalten
aufwendige Kandidatendomains, Quereinsteiger (wie
jost-stollmann.de) pflegen ihre personality pages. Der
Kanzler profitiert indes vom Amtsbonus unter
bundeskanzler.de und hat sich am 18. September gar
zu einem zweistündigen Online-Chat mit den
Netzbürgern in der virtuellen Parteizentrale (cdu.de)
verabredet.
Braucht der gut informierte Bürger diesen
Schnickschnack? Blicken wir nach Amerika und
England, wo bei den letzten Präsidentschafts- und
Kongreßwahlen oder den Wahlen zum Unterhaus das
Internet erstmals auf breiter Front als Wahlkampfarena
aufgetaucht ist. Dort wurden erste Erfahrungen mit dem
neuen Medium gemacht und Eindruck geschunden,
also alle verfügbaren technischen Mittel eingesetzt, das
heißt: Es blinkte und flimmerte gewaltig auf dem
Bildschirm. Interaktive Gimmicks und Gewinnspiele,
Audio- und Videodateien, Java-Applets und dergleichen
wurden angeboten, um Aufmerksamkeit zu erzeugen
und Passanten, die das Internet normalerweise als
Spiel- und Marktplatz nutzen, zu beeindrucken.
Ausgefuchste Nutzer messen die Quallität der
politischen Seiten an ihrem technischen Mehrwert und
der ästhetischen Oberfläche, und ihnen gegenüber
müssen die Parteizentralen und Kandidaten gewisse
Standards und Innovationsfähigkeit unter Beweis
stellen. Da Präsenz im Internet Modernität
symbolisiert, machen Parteizentralen und
Einzelbewerber überhaupt ein virtuelles Angebot.
Technische Hochrüstung und simulierte Interaktivität in
Form von Gewinnspielen und Chats allein machen die
Kampagne noch nicht besser als konventionelle
Wahlwerbung. Und sie entscheiden auch keine
Wahlen, wie das amerikanische Beispiel gezeigt hat.
Dafür ist schon die aktuelle Zahl der regelmäßigen
Nutzer politischer Angebote im Netz zu klein und zu
wenig repräsentativ. Trotz dieser Begrenzung stellen
sie für die politischen Wettbewerber eine interessante
Zielgruppe dar, die sie nicht vernachlässigen dürfen.
Denn unter ihnen sind eine Menge hochgebildeter,
einkommensstarker Wechselwähler, die unterm Strich
Wahlen eher entscheiden können als die schrumpfende
Stammwählerschaft, die auch auf postalische
Massenwurfsendungen oder den Stand in der
Fußgängerzone verzichten können.
Anders als es ein zähes Vorurteil besagt, sind
Internet-Kunden politisch durchaus interessiert. Und für
sie ist das Netz ein pull-Medium, also eine
Informationsquelle und ein Kommunikationsraum, den
sie gezielt nach eigenen Wünschen aufsuchen, nicht
das push-Medium, als das insbesondere das
Fernsehen angesehen werden kann. Gewiß liegt auch
im Netzwerk der Netzwerke eine Menge unbrauchbarer
Informationsmüll. Aber die Aktivität des gut informierten
Bürgers zu steigern, darin liegt das eigentliche
Potential des Internet-Wahlkampfes und der
wesentliche Unterschied zu konventionellen
Kampagnen von oben nach unten, bei denen es kaum
eine Rückkopplung gibt.
Nicht allein technische Reife, Erscheinungsbild oder
raffinierte Spielerei, sondern wirkliche Interaktivität zu
steigern, ist also die Herausforderung. Wenn sich
Parteien und Kandidaten ihr stellen, besteht die
Chance, Richtungs- und Detailalternativen zu
versachlichen. Wer lediglich per Mausklick im Weißen
Haus bei Bill & Hillary Clinton vorbeischaut, kommt
nicht einmal als Voyeur auf seine Kosten; wer sich
aber einmal die Mühe macht, auch in lokale
Wahlkämpfe in Minnesota oder Massachussets
Einblick zu nehmen, bekommt eine Kostprobe davon,
wie differenziert die politische Argumentation im Netz
sein kann.
An diesen Ansprüchen gemessen, enttäuscht der
deutsche Internet-Wahlkampf, der mit der Leipziger
Oberbürgermeisterwahl und der Niedersachsenwahl
eingeläutet und nun flächendeckend ausgeweitet
worden ist. Seine Veranstalter nutzen die neuen
Medien noch wie alte Massenmedien, in die sie zum
größten Teil digitales Glanzpapier legen, also mehr
vom selben und eine Zweitverwertung dessen, was
jeder Bürger auch offen in die Hand gedrückt bekommt.
Das Internet fungiert zumeist noch als digitaler
Schatten man bildet das übliche Bild des
Parteivorsitzenden ab, das Parteiprogramm, Adressen
und Termine. Damit lassen sich viele Wähler nicht
mehr abspeisen. Sie erobern sich den virtuellen
Diskussionsraum, indem sie sich an den auch
angebotenen Foren und Online-Chats beteiligen. Mit
anderen Worten: Das Internet ist als politische Arena
immer nur so gut und demokratisch, wie es die
vernetzten Stimmbürger machen.
Dabei können Anbieter, die nicht parteipolitisch
gebunden sind und den Wahlkampf als Periode
erhöhter politischer Aufmerksamkeit nutzen, helfen,
intelligente Wählerbildung zu betreiben. Dazu zählen
Angebote wie wahlatlas.de der Friedrich-Ebert-Stiftung,
eine simulierte Abstimmung in einem Online-Wahlkreis
(wahlkreis329.de) oder die sehr informative und
gründliche Hintergrund-Seite wahlen-98.de. Zu
erwähnen sind auch die Online-Ableger von
Tageszeitungen, Wochenmagazinen sowie Rundfunk-
und Fernsehstationen, die sich erfreulich von der
bloßen Verdoppelung ihres Materials im Netz
entfernen.
Hier bestimmen die üblichen Verdächtigen (spiegel.de,
focus.de, stern.de) das Bild, aber auch agile
Kleinanbieter wie zum Besipiel die Koblenzer
Rhein-Zeitung mit wahltag.de machen auf sich
aufmerksam. Ebenso findet man jene
Wahlkampf-Elemente, die sich originär im Internet
entwickelt haben: zum Beispiel die
Online-Nachrichtenzentrale wahlkampf98.de, die
Wahl-Leitfäden der populären Suchmaschinen Yahoo
oder Lycos, die Wahlberichterstattung des arrivierten
Online-Magazins telepolis.de oder die
Börsensimulation Wahl$treet (wahlstreet.de). Der dort
abgewickelte Handel mit Parteiaktien stellt ein recht
zuverlässiges Prognoseinstrument für den
Wahlausgang dar.
Am Wahlabend werden die meisten Wähler wie üblich
von 17.58 Uhr an vor der Mattscheibe sitzen und
Prognosen, Hochrechnungen und Elefantenrunden
verfolgen. Ein kleiner, aber feiner Teil der Wählerschaft
wird jedoch auf den PC-Monitor blicken und die
Onlive-Übertragung betrachten. Damit geht ein erster
Testlauf über neue Möglichkeiten politischer
Kommunikation zu Ende, der in vieler Hinsicht zur
herkömmlichen Zuschauerdemokratie paßt, in mancher
Hinsicht aber schon Wege in die
Beteiligungsdemokratie weist. Zugleich markiert dieses
Ende aber auch einen Neuanfang, denn die im
Internet-Wahlkampf erweiterte und stabilisierte Arena
politischer Kommunikation bleibt auch nach dem 27.
September bestehen.
In virtuellen Ortsvereinen
Die zahlreichen Vernetzungen zwischen
Nachrichtendiensten und Parteien sorgen dabei für eine
größere Offenheit der politischen Information; die
Angebote liegen bei einer guten Verweisstruktur immer
nur einen Mausklick voneinander entfernt. Für die
Parteien bedeutet das, daß sie immer stärker wie
Nachrichtenzentralen und Diskussionsforen agieren
müssen, wenn sie ein anspruchsvolles Publikum
erreichen wollen. Am deutlichsten zu beobachten ist
dies bei virtuellen Ortsvereinen, in denen sich das
Verhältnis zwischen Parteiführung und -basis zu
drehen beginnt und Nicht-Mitglieder an Einfluß
gewonnen haben.
Wenn die Parteien ihren eigentlichen
Verfassungsauftrag, an der Meinungs- und
Willensbildung mitzuwirken, ernster nehmen wollen, ist
das Internet ein ideales Feld, übrigens auch zur
Rekrutierung von Anhängern und Sympathisanten, die
sich den virtuellen Ortsvereinen ursprünglich eher durch
technische Motivation denn aufgrund einer
vorgegebenen Parteiidentifikation angenähert haben. Da
diese ohnehin rasant schwindet, wären die Parteien gut
beraten, ihre aufwendige Internet-Ausstattung für eine
intelligentere Betreuung ihrer Funktionäre, Mitglieder
und Anhänger zu nutzen. Parteien haben (genau wie
die alten Medien) mit dem Internet jedenfalls einen
potentiellen Rivalen bekommen. Deshalb sollten sie
sich als kommunikative Knoten im Netz positionieren
und ihre Online-Erfahrungen an Reformdiskussionen
koppeln, die offline laufen, um nicht bald schon als
wenig bemerkte Randerscheinungen im Abseits zu
landen digital und analog.