Starker Mann hin oder her – Ägyptens Facebook-Revolutionäre sind unzufrieden mit ihrem neuen Präsidenten. Nach zwei Monaten im Amt hat der Muslimbruder Mohammed Mursi von den 64 Wahlversprechen bislang nur eines eingelöst. Wie lange bleibt es ruhig?
Keine Frage – der erste gewählte Präsident Ägyptens, Mohammed Mursi, steht vor einer schweren Aufgabe. Die Wirtschaft liegt nach jahrzehntelanger Korruption darnieder, Kriminalität und Arbeitslosigkeit sind so hoch wie vor Ausbruch des Arabischen Frühlings, das Militär bedroht die institutionelle Ordnung und die Priorisierung der Beziehungen zu Israel und den USA stößt die Verbündeten in der Region vor den Kopf. Doch die größte Herausforderung für Mursi dürfte darin bestehen, die Gräben zwischen den drei politischen Lagern des Landes – Islamisten, Vertreter des alten Regimes, Liberale – zu überwinden und die Vorbehalte gegen die islamische Regierung abzubauen. Gerade das religiös gemäßigte, liberale Lager fürchtet einen Gottesstaat nach Vorbild der islamischen Republik Iran. Das Dilemma für die Tahrir-Jugend, den Motor der “Revolution des 25. Januar” und anderer, die die seit 1953 währende Herrschaft der Generäle zu Fall gebracht haben: Sie müssen den Muslimbrüdern vertrauen, um eine Rückkehr ins “alte System” zu verhindern.
Während ägyptische wie internationale Kommentatoren den jüngsten Coup Mursis – die weitgehende Entmachtung des Militärs – vorwiegend als Befreiungsschlag der jungen Demokratie gegen den Würgegriff der Mubarak-Eliten werten, fragt der Journalist Hesham Sallam des Egypt Independent nach der Rolle der steigenden Unzufriedenheit der Revolutionäre als Triebfeder hinter Mursis Machtdemonstration. Nach seiner Lesart hätten die über die Social-Media-Kanäle verbreiteten Aufrufe zu Massendemonstrationen gegen die “Herrschaft der Bruderschaft” am 24. August 2012 Mursi zum entschiedenen Handeln bewegt. Es sind Blogger und Bürgerjournalisten wie Jano Charbel, die erneut auf die Straße gehen werden, um ihren Unmut angesichts von “Inkompetenz, Lügen, Zensur und Begnadigung der Straftaten der Generäle” zu äußern. Dabei ist das Stimmungsbild gemischt: Für einige der ägyptischen Social-Media-Aktivisten und Journalisten ist die harte Hand Mursis Mittel zum Zweck, um sich vom Militärrat zu emanzipieren. Für andere hat sich nicht viel verändert im Vergleich zur Ära Mubarak. Zwar machen die Islamisten dem Militär in diesen Tagen die Macht ernsthaft streitig, das Wahlvolk hingegen fühlt sich wie zuvor mit den drängenden Missständen im Stich gelassen.
Vorbild Obameter
Mursi hatte nach der Wahl einen 100-Tage-Plan vorgelegt, um die mangelnde Sicherheit, den chaotischen Verkehr, die steigenden Benzinpreise, die schlechte Nahrungsmittelversorgung sowie die hartnäckige Vermüllung der Städte anzugehen. Das ambitionierte Versprechen mit insgesamt 64 Punkten halten selbst Mitglieder der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), der Mursi angehört, für kaum einlösbar. Doch die ägyptische Jugend nimmt den Muslimbruder beim Wort und wacht über die Einhaltung der Versprechen – mit Hilfe des Mursimeters. Modell für das von der Antikorruptions-Organisation Zabatak entwickelte Online-Tool, das den Fortschritt des 100-Tages-Planes dokumentiert und bewertet, ist das Obamater des Pulitzer-Preisträgers PolitiFact. Darin werden alle Versprechen gelistet und mit einem Status der Erfüllung versehen. Das nüchterne Ergebnis zur Halbzeit: Zehn Wahlversprechen hat Mursi bisher angepackt und gerade mal eines eingelöst: In den Freitagsgebeten wird der Gesellschaft nun ein bewusster Umgang mit Müll gepredigt. Sauberer ist es dagegen nur dank der freiwilligen Putzeinsätze seiner Anhänger geworden.
Für die Tahrir-Jugend ist demnach das eingetreten, was Blogger und Global Voices-Autor Tarek Amr vor den Wahlen als “worst case scenario” bezeichnet hat: die Entscheidung zwischen unsicherer islamistischer Zukunft und Rückkehr ins korrupte, undemokratische System. Das Dilemma: Wer die Inkompetenz der Muslimbrüder und den autoritären Umgang mit den Medien kritisiert, spielt reaktionären Kräften in die Hände, die den Weg für eine erneute Militärherrschaft ebnen wollen. Mit dem offenen Aufruf zum Militärputsch haben Sympathisanten des “alten Systems” wie Talkmaster Tawfiq Okasha (Faraeen TV) oder die Tageszeitung Al-Dostour Präsident Mursi gezielt provoziert. Die Regierung reagiert mit Lizenzentzügen, Regierungsgegner widerum klagen die Beschneidung der Pressefreiheit an. Die mediale Schlacht um die Deutungshoheit im Lande ist in vollem Gange. Die Ägyptische Menschenrechtsorganisation EOHR spricht von einem Rückschlag für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Zuvor hatte der von den Islamisten kontrollierte Shura-Rat, die zweite Parlamentskammer, alle Chefredakteure staatlicher Zeitungen ausgewechselt. Schon spricht man in Kairo von der Pressezensur als “vererbtes System“. Ist Mursi auf dem Weg, ein zweiter Mubarak zu werden?
Internationalaisierung des Machtkampfes
Ägyptens junge Demokratie entgleitet den Revolutionären, die das Land nach liberal-demokratischem Vorbild neu aufbauen wollten. Ihr notgedrungener Hoffnungsträger Mursi bringt mit der Entmachtung des Militärs die Konsolidierung der jungen Demokratie in Gefahr. Die Wahrscheinlichkeit eines Pusches steigt. Doch damit nicht genug: Der Machtkampf zwischen Militärrat und Muslimbrüder wird nicht nur im eigenen Land ausgetragen. Mit dubiosen Attacken auf US-amerikanische Muslime in Ägypten sollen vermutlich auch die USA in den Konflikt hineingezogen werden, die Ägypten seit Jahrzehnten mit milliardenschwerer Militärhilfe gefügig hielt. Pfründe, die die Generäle gefährdet sehen, wenn Mursi sich vom mächtigen Verbündeten abwenden und möglicherweiese doch den unpopulären Separatfrieden mit Israel aufkündigen sollte. Dabei wäre dem Muslimbruder die Unterstützung in der arabischen Welt sicher. Ein weiteres Indiz für die Internationalisierung des Konfliktes ist der von der staatlichen Nachrichtenagentur angekündigte historische Besuch Mursis in Teheran. Die Annäherung an den Iran dürfte die Ängste vor einer Islamisierung im Land noch weiter schüren.
Am 24. August wird sich zeigen, wie unzufrieden die jungen Freiheitskämpfer mit ihrem ersten gewählten Präsidenten tatsächlich sind. Sollte der Protest so gewaltig ausfallen, wie ihn die Propagandisten herbeireden, ist der Muslimbruder Musi gut damit beraten, seine erkämpfte Handlungsfähigkeit schnell unter Beweis zu stellen. Am besten 63 Mal. Das würde nicht nur den Ägyptern, sondern auch den Überlebenschancen der Demokratie zugutekommen.