NSA-Überwachungsskandal, Big Data oder der Arabische Frühling. In seinem neuen Buch “Das digitale Wir” widmet sich der ehemalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz Peter Schaar den Auswirkungen von Internet und Digitalisierung auf Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft, aber auch der Ausgestaltung der derzeitigen Informations- und Transparenzgesellschaft und ihrer Entwicklung.
Shoppen in einem großen Einkaufszentrum. Supermärkte, Fachgeschäfte mit den verschiedensten Waren, aber auch Banken, Spielhallen und gemütliche Bars, die zum Verweilen und Freunde treffen einladen. Sehr viel ist dort umsonst zu haben. Nur eine einzige Gegenleistung verlangen alle Geschäfte: Eine freundliche Servicekraft notiert alle privaten Daten am Eingang. Grundlegendes wie Name, Adresse und Beziehungsstatus bis zu Intimsten wie die sexuelle Präferenz. Gerne auch mit Kopie des Personalausweises und des Adressbuchs. In der realen Welt würde das kein Kunde über sich ergehen lassen. Im Internet ist das selbstverständlich. Mit diesem Bild zeigt Peter Schaar in “Das digitale Wir” deutlich, welcher Überwachung sich die Menschen im Internet aussetzen und welche Daten sie dort äußerst freiwillig preisgeben.
Schaar befasst sich in seinem Werk mit der Entwicklung des Internets. Zu Beginn der Digitalisierung gingen einige Menschen noch von einem herrschaftsfreien Raum aus, der Gleichheit für alle mit sich brächte. Der anfängliche Traum von Freiheit und Selbstbestimmtheit durch und im Internet hat sich verflüchtigt. Der öffentlich zugängliche Bereich des Internets wird von einigen großen Konzernen kontrolliert, die den Nutzern verlockende Angebote präsentieren, doch auch ihre Monopolstellung vielfältig ausnutzen.
Digitales “Wir” gegen digitales “Ich”
Mit der Entwicklung hin zu einer Big Data Gesellschaft und des “Internet of Things” über die Sharing Economy und den ausgerufenen Siegeszug des schnellen Geldes mit dem schnellen Netz und der Rechenleistung beschreibt Schaar die Ergebnisse der Digitalisierung. Darüber hinaus zeigt er die Folgen der scheinbaren omnipräsenten Transparenz auf die Einzelperson und vom Netz zur analogen Welt auf.
Durch das ganze Buch zieht sich die Einstellung des Datenschützers und ehemaligen Bundesbauftragten für den Datenschutz Peter Schaar, die sich auch im Untertitel wiederfindet: “Der Weg in eine Transparente Gesellschaft”. Gegen eine einseitige Transparenz, nämlich die des Nutzers. Für ihn steht fest: Es darf nicht beim gläsernen Bürger und Staat gegen intransparente Internetkonzerne bleiben. Der scheinbaren Freiheit von Informationen und Beteiligungsmöglichkeit stehen Internetmonopolisten wie Google und Facebook entgegen, die durch ihre geheimgehaltenen Algorithmen die Suchergebnisse beeinflussen und sogenannte Filterblasen generieren, ohne dass staatliche Institutionen oder die Nutzer Einfluss auf die Ergebnisse hätten.
Wie politisch auf das Internet reagieren
Der Datenschützer spart auch nicht mit Kritik an der Politik. So an der amerikanischen Regierung, die Anfang 2010 für eine unbeschränkte Nutzung von elektronischen Medien eintrat und die “Internetfreiheit” zu einer Priorität der amerikanischen Politik erklärte. Kurze Zeit später veröffentlichte die Enthüllungsplattform WikiLeaks diplomatische Depeschen und militärische Dokumente, die der US-Gefreite Bradley (Chelsea) Manning an sie weitergegeben hatte. Für die Weitergabe der Informationen wurde er zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Auch die politische Landschaft und Gesellschaft hat sich durch das Internet gewandelt. Viele Politiker nutzen Social Media, um den Kontakt zu den Wählern auch außerhalb des Wahlkampfes zu halten. Offen bleibt jedoch die Frage des Umgangs mit dem Datenschutz, insbesondere bei Firmen mit Sitz und Servern außerhalb der EU.
Das Internet bietet neue Möglichkeiten. Für den Journalismus, der neue Absatzmärkte aber auch neue Arten des Schreiben entwickelt. Für die Zivilgesellschaft, die sich scheinbar vielfältiger durch offeneren Informationszugang und Online-Petition beteiligen kann. Aber auch für die Politik, die das Neuland erkunden und durch Online-Wahlen und staatlicher Social Media Auftritte die Bürger zur Beteiligung und Erhöhung der Wahlbeteiligung anregen möchte. All diese Ansätze und Entwicklungen führt Peter Schaar an, beschreibt aber auch deren Probleme.
Der “Arabische Frühling” ohne Social Media?
Vor dem sogenannten “Arabischen Frühling” zeigte die “Twitter-Revolution” im Iran bereits 2010, welche Wege das Internet dem Protest ermöglichte. Viele Protest-Teilnehmer mobilisierten und vernetzten sich über Mobiltelefone und das Internet, besonders über den später namensgebenden Kurznachrichtendienst. Dort wurde in den Folgejahren in Tunesien und Ägypten Facebook genutzt, um die Rebellion aufrecht zu erhalten und Bilder und Informationen unter der Regimesperre zu teilen. Schaar bezieht dazu kritisch Position: Die Wirkung des Internets würde überschätzt, “wenn […] eine Art Automatismus zwischen der Zugänglichkeit von Facebook, Twitter & Co. und dem Erstarken der Opposition gegen undemokratische Regierungen hergestellt wird.”
Lasst niemanden zurück!
Abschließend wagt Schaar einen Blick in die Zukunft. Zusammenfassend, auch für das gesamte Buch, lässt sich der letzte Satz als Apell verstehen: “Niemand darf zurückbleiben!” Auch wenn er im letzten Kapitel, im Gegensatz zu den fundierten Ausführungen der vorherigen Kapitel, eher kurzangebunden bleibt, so zeigt er doch eindringlich auf, dass das Internet und die Digitalisierung einen aktiven Gestaltungswillen der Politik und Gesellschaft brauchen, um digitale Gleichberechtigug für alle, Machtbegrenzung von Monopol-Firmen, aber auch der Sammelwut der staatlichen Institutionen, zu erreichen.
Das Buch ist sehr lesenwert, da Peter Schaar auf 200 Seiten auch für Nicht-Netzaktivisten verständlich und unterhaltsam die Entwicklung des Internets, dessen Chancen aber auch die Gefahren für die Zivilgesellschaft, Politik und Einzelpersonen ausführt. Seine Aussagen und Beschreibungen untermauert der Datenschützer wissenschaftlich mit vielseitigen Quellen. Dabei zögert er nicht, neben Kritik an den Unternehmen und Politik auch eigene Fehler oder falsche Prognosen der Netzgemeinschaft aufzuzeigen.
Bild: luckey_sun (CC BY-NC 2.0)