Der Arabische Frühling hat die Bedeutung neuer Medien für demokratische Transformationen ans Licht gebracht. Nun treten zunehmend deren Repressionspotentiale für Autokraten aus dem Schatten der Reformeuphorie. Konsequent aus Sicht westlicher Sanktionspolitik wäre daher ein rigoroser Ausfuhrstopp der Informationstechnologie, die beim Aufbau von Überwachungsapparaten im Nahen Osten mithalf.
Besser könnte sich die Ohnmacht des Westens nicht ausdrücken: Um dem unverminderten Morden in Syrien unter den Augen der UNO-Beobachter Einhalt zu gebieten, verhängte die EU am vergangenen Montag ein Exportverbot für Luxusartikel wie Uhren oder teure Lebensmittel. Die Maßnahme erscheint skurril, wenn man sich die Versäumnisse der EU-Politik etwa bei der Beschränkung von sogenannten Dual-Use-Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch eingesetzt werden können, vor Augen führt. Immerhin ist dem Europäischen Parlament bewusst, dass auch Informationstechnologie zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden kann. In einem Beschluss zum Thema Menschenrechten in der Welt vom 18. April 2012 fordert das Parlament in Straßburg die EU-Kommission auf,
“spätestens im Laufe des Jahres 2013 Vorschläge für intelligente Regulierungsmaßnahmen, einschließlich erhöhter Transparenz und Rechenschaftspflicht für die (in der) EU (niedergelassenen) Unternehmen vorzulegen, um die Überwachung der Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen zu verbessern, die auf die Sperrung von Webseiten, die Massenüberwachung, die Überwachung des gesamten Internetverkehrs und aller (mobilen) Kommunikationen, die Abhörung und Transkription privater Gespräche, die Filterung von Suchergebnissen und Einschüchterung von Internetnutzern einschließlich Menschenrechtsaktivisten abzielen.”
Kurz: Die EU will nicht weiterhin als Kollaborateur autokratischer Repression gelten. Damit zieht Europa Lehren aus der Causa Vodafone. Das britische Telekommunikations-Unternehmen hatte sich in den letzten Wochen der Mubarak-Herrschaft im Januar 2011 den Forderungen ägyptischer Staatsorgane untergeordnet, Dienste vorübergehend zu sperren, Regierungspropaganda per SMS zu verbreiten und gezielt Oppositionelle zu beobachten – erst als sich Amnesty International an die Spitze der Kritikwelle stellte, distanzierte sich Vodafone vom ägyptischen Regime. Bereits vor Jahren hatte die Menschenrechtsorganisation die Mitverantwortung der großen IT-Konzerne für Internetzensur angeprangert. Bislang jedoch störte es weder verantwortliche Unternehmer noch Politiker, dass u.a. in China, Weißrussland, Ägypten, Usbekistan, Iran, Syrien oder Vietnam die freie Meinungsäußerung nicht nur beschnitten wird, sondern auch zu Verhaftung und Folter führen kann – dank westlichem Know-How.
Westliche Technologie wird über China eingekauft
So begrüßenswert die Resolution des EU-Parlamentes auch ist – den Ausgang des Serienkonfliktes wird sie nicht mehr beeinflussen: Zu langsam mahlen die Mühlen des Staatenverbundes, völkerrechtlich bindende Beschlüsse in Form von Richtlinien oder Verordnungen umzusetzen. Beschleunigen könnte das Verfahren die Executive Order von US-Präsident Barack Obama, die am 23. April in Kraft trat. Darin verfügt die US-Regierung die Sanktionierung von Firmen, die durch die Weitergabe von Kommunikations-Technologie Menschenrechtsverletzungen in Syrien und den Iran ermöglichen. Dazu gehören in erster Linie die Telekommunikationsanbieter beider Länder, die iranische Datak Telekom und die syrische Syriatel. Aber auch IT-Firmen dritter Länder wie die chinesische ZTE (Zhong Xing Telecommunication Equipment Company Limited) könnten in Zukunft geahndet werden. ZTE hat nach Angaben der New York Times Ende 2010 Überwachungs-Technologie im Wert von 100 Millionen Euro an den Iran geliefert. Zudem treten die Chinesen als Zwischenhändler für Softwareprodukte US-amerikanischer Firmen auf. Mehr als 20 US-Firmen wie IBM, Brocade Communications Systems oder Cisco Systems Inc waren an einem Deal mit ZTE und der iranischen Telecommunication Company of Iran (TCI) vom Juni 2011 beteiligt.
Auch wenn diese Produkte bislang nicht nach Iran gelangt sind, zeigt der Fall, wie leicht westliche Informationstechnologie trotz bestehender Embargos den Weg zu autokratischen Abnehmern findet. Deshalb ist der Vorstoß Obamas, auch gegen Firmen aus Drittstaaten vorzugehen, ein notwendigiger Schritt zur Sicherstellung der Wirksamkeit der Ausfuhrverbote. Und ein weiterer hin zur Prävention von Repression und Genozid in der Welt. Dieses Ziel hatte Obama bereits im August 2011 zum “Kerninteresse nationaler Sicherheit” erhoben – eine moralische Verantwortung, die sich aus dem Versagen seiner beiden Vorgänger Bill Clinton und George W. Bush in Ruanda bzw. Darfur ableitet. Wie ernst es die US-Regierung mit dem Anspruch universaler Repressions-Prävention meint, muss sich erst noch zeigen. China beispielsweise hat sein Zensursystem 2006 bei der amerikanischen IT-Firma Cisco eingekauft. Und an Ländern des Nahen Ostens – etwa Bahrain, Saudi Arabien und Kuwait – verdienen McAfee, Netsweeper und Blue Coat Systems seit Jahren mit dem Verkauf zensurtauglicher Software, wie das Wall Street Journal im März vergangenen Jahres aufdeckte. Laut Recherchen der OpenNet Initiative (ONI), die sich der Aufklärung weltweiter Filter- und Überwachungspraktiken verschrieben hat, gehören sogar mindestens neun Ländern Afrikas und des Nahen Ostens zu den Kunden westlicher Sicherheitssoftware.
Gaddafi spionierte mit französischer Software
Doch nicht nur US-Firmen machen mit dem Zensurbedürfnis in der Region Geschäfte. Ägyptens ehemaliger Präsident Hosni Mubarak verwendete die Software FinSpy des deutsch-britischen Herstellers Gamma International. Ein Umstand, der erst in dem Moment Beachtung fand, als das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) auf Anordnung des Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) Anfang 2012 eine leicht modifizierte Software für Einsätze im Rahmen der Quellen-TKÜ testete. Was als Kritik an der vermeintlichen Beschneidung der Bürgerrechte in Deutschland begann – Stichwort Staatstrojaner – mündete in der Forderung nach mehr Transparenz beim Export deutscher Technikgüter, die möglicherweise zum Zweck der Repression und Zensur in anderen Ländern zum Einsatz kommen. Gemeinsamer Befund von Spiegel und der Bundesfraktion der Grünen, die die “Kleine Anfrage zu Export deutscher Zensur- und Überwachungstechnik an autoritäre und totalitäre Staaten” vom 15. November 2011 an an die Regierung stellte: Die Bundesregierung versuchte die Interessen der deutschen Wirtschaft vor der geplanten EU-Reform zur strengeren Kontrolle bei der Ausfuhr der Dual-Use-Güter zu schützen.
Weitere Ermittlungen des ARD-Magazins FAKT deckten auch die Verwicklung von Siemens (ab 2007 Nokia Siemens Networks) samt Tochterfirma Trovicor auf. Auf Anfrage räumte Siemens ein, im Jahr 2000 Überwachungstechnik an Syrien verkauft zu haben. Kurz zuvor hatte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz bei der Bundesregierung nachgefragt, ob ihr der entsprechende Export eines deutschen Unternehmens” bekannt war und gemeldet wurde. Wie Notz am 12. April auf gruen-digital.de publik machte, hat die Bundesregierung auf die geltende Syrien-Embargo-Verordnung vom 18. Februar 2012 verwiesen, die die Weitergabe von Kommunikationsüberwachung verbietet. Eine Verordnung, gegen die sich die Bundesregierung verschwiegenermaßen gesträubt hatte. Eine Verschwiegenheit, die wie auch beim undurchsichtigen Verkauf von 270 “Leopard 2”-Panzern nach Saudi-Arabien auf Ablehnung stößt.
Letztlich aber ist es der Vorwurf der doppelten Standards, dem sich die deutsche Regierung stellvertretend für westliche Interessen im Nahen Osten stellen muss. Eine Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft wie die EU muss endlich konsequent ihre Werte über die Partikularinteressen ihrer Wirtschaft stellen. Damit die neuen Medien auch künftig zur Wahrnehmung der Bürgerrechte beitragen – und nicht diese beschneiden. 2011 wurden laut Reporter ohne Grenzen 200 Internetjournalisten verhaftet. Zum Welttag gegen Internetzensur am 12. März 2012 verkündeten die Journalisten, dass die Internetfreiheit weltweit in 26 Ländern teils massiv kontrolliert wird – mit 15 dieser “Feinde des Internet” treibt die EU bedenkenlos uneingeschränkten Handel.