Edward-Snowden_klpixelDie Debatten in der Post-Snowden-Welt übersehen meistens einen wichtigen Punkt: Überwachung, das vermeintliche Produkt des Staats, ist ebenso ein Baby der privaten Wirtschaft. Ob Werkzeuge oder Experten, Infrastruktur oder Ideologie – Überwachung wird heute maßgeblich vom Markt geprägt. Edward Snowden stellt sich mit seinen Enthüllungen in mehrfacher Weise gegen diese Entwicklung. Auf diese Weise belebt er die Figur des Bürgers und zieht den Staat zur Verantwortung. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki kommentiert.
Total-Überwachung gehört in westlichen Demokratien zu den angenommenen und zu den geduldeten Szenarien. Die weit verbreitete Akzeptanz geht auf die Neuzeit zurück. Die staatlichen Überwacher galten als Beschützer – sowohl in der Gestalt von distanzierten Autoritäten als auch von konkreten Vertrauenspersonen im Alltag der Bürger. Sie profilierten sich durch Fürsorge, Verantwortung, Wachsamkeit und boten größtmöglichen Schutz – sowohl für den Einzelnen als auch für dessen Eigentum. Insbesondere nachts, wenn die meisten schlafen. Für dieses Rundumversorgungspaket erwarteten die Überwacher Disziplin und Gehorsam. Man musste sich an deren Normen und Gesetze halten.
Das waren in der Neuzeit “Stoff, Form und Gewalt eines staatlichen Gemeinwesens” (Thomas Hobbes). Und heute? Der Staat bietet nicht mehr Schutz, sondern Sicherheit. Das ist ein entscheidender Unterschied. Neuerdings zum “Super-Grundrecht” avanciert, dient Sicherheit als Legitimation für verfassungswidrige Operationen. Für den Staat ist in Friedenszeiten jeder Exzess denkbar: Ob nun für die paranoide Übererfüllung seiner Beschützerfunktion oder für die Vernachlässigung eben dieser Pflicht.
Die seit dem 11.09.2001 unablässig “boomende Sicherheitsindustrie” (Naomi Klein) katalysiert beide Extreme: Der mit der privaten Wirtschaft verwachsene Überwachungsstaat ist den Produktversprechen der Sicherheitsfirmen erlegen und wird im Zuge dessen zu neuartigem Größenwahn beflügelt. Andererseits entzieht er sich seiner Verantwortung, wenn er Überwachung an private Dienstleister auslagert.

Duldung und Division

Der Fall Snowden zeigt: Die Zumutungen haben einen Punkt erreicht, an dem die Duldung einem Aufbegehren weicht. Aus “ich weiß, dass ich Zugang zu ungeheurem Wissen habe” wird “ich kann nicht länger mit dem Wissen um dieses Wissen leben”. Snowdens innere Kehrtwende wäre ein Identifikationsangebot unter vielen, wenn das Problem nicht uns alle beträfe. Und so drängt es sich geradezu auf, dass zudem aus “wir wissen, dass wir nicht wirklich wissen wollen, wie es nun genau ist” so etwas wird wie “wir können nicht länger mit dem Wissen um unser Nicht-Wissen-Wollen leben”.
Darüber hinaus zeigen Snowdens Enthüllungen über die Zusammenarbeit zwischen Staaten und transnationalen IT-Konzernen: die Überwacher sind auf maximale Distanz zu ihren Subjekten gegangen, die sie nur noch datentechnisch erfassen, einsortieren und analysieren wollen, aber für die sie nicht mehr sorgen wollen, geschweige denn Verantwortung übernehmen wollen.
Eine tiefe Kluft tritt deutlicher denn je zu Tage: Die Division zwischen Staat und Bürger. Das zeigt sich in den Enthüllungen selbst – sowohl in der großen Erzählung als auch in jedem einzelnen Detail. Und die Berichterstattung über die Enthüllungen zementiert diese Spaltung. Man setzt entweder auf Personengeschichten oder auf die Skandalisierung von Machtmißbrauch. So werden Snowdens Situation und die Inhalte seiner Enthüllungen von einander getrennt. Kein Bericht strebt eine Synthese an.

Bürger und Staat zusammendenken

Bürger- und Staatsfragen zusammenzudenken, liegt offenbar nicht im Interesse von Journalisten. Selbst jene, die politisch engagiert das Wort ergreifen, verweigern sich in dieser Sache. John Naughton etwa betont, nicht Snowden sei die Geschichte, sondern das, was seine Enthüllungen über die Zukunft des Internet aufzeigen. Lorenz Matzat gibt wiederum zu verstehen, er habe den Staat in dieser Sache abgeschrieben, der Bürger hingegen müsse sich neu sammeln. Jedoch erinnert uns der zwischenzeitig an einem Flughafen gestrandete und dann in Russland Asyl suchende Edward Snowden daran: ein Staat ohne Bürger und umgekehrt ein Bürger ohne Staat sind nicht denkbar.
Snowden macht deutlich: Wer einen Bürger, der wie Edward Snowden außerordentliche Zivilcourage beweist, zum Staatsfeind erklärt, schwächt nicht nur die Identität des Bürgers. Sondern auch des Staats. Welche Legitimation hat die USA noch als Rechtsstaat, wenn sie berechtigte Kritik aus den Reihen ihrer Bürger unterdrückt? Diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn der Gegenstand der Kritik staatliche Programme sind, die nicht nur auf der Beschneidung von Bürgerrechten basieren sondern darüber hinaus sogar darauf ausgerichtet sind, Bürger in ihren Freiheiten und Rechten massiv einzuschränken. Wäre dem nicht so, könnten wir folgende Fragen beantworten: Wird Snowden jemals wieder ein freier Bürger sein können? Wird er jemals Anerkennung finden von jenem Staat, dem sein konstruktives Aufbegehren als Bürger gilt? Doch das steht wohl genauso in den Sternen wie der Verbleib des Bürger-Modells an sich.
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Die Veränderungen von Staatlichkeit lassen offen, ob und wie wir in Zukunft in der Lage sein werden, uns als Bürger zu begreifen. Welche Rechte werden wir haben? Auf welchen Gesetzen werden sie fußen? Welches Selbst-Bewusstsein wird uns antreiben? Wie groß und in welcher Weise ausgeprägt wird unser Wille zum Politischen sein? Welches Verhältnis zum Staat werden wir haben? Eines ist klar, und auch daran erinnert: Sowohl der Bürger als auch der Staat – beides muss immer und immer wieder erkämpft werden, weil beides nicht gegeben ist (allenfalls nur auf dem Papier oder als Lippenbekenntnis). Und weil beides überformt ist durch die Logik des Marktes. Das heißt aber auch, dass der Kampf sowohl auf der politischen Ebene als auch auf der intellektuellen Ebene geführt werden muss. Wir müssen Staat und Bürger auch neu denken.

Hindernisse und Hürden

Die Kluft zwischen Bürger und Staat ist inzwischen eine immer größer und undurchdringlicher werdende Schattenzone, in der auch PRISM, Tempora und XKeyscore entstehen konnten. Diese Schattenzone rund um die Geheimdienste wird strukturell zusehends ununterscheidbarer von der Schattenzone des Staats, die aufgrund der immer weniger parlamentarischen/demokratischen Prozessen unterworfenen Gestaltung von Politik entsteht. Diese Entwicklung hin zu einem “neoliberalen Staat” (David Harvey) begünstigt die Wirtschaft und ermöglicht die so genannte privat-public-partnership sowie die Privatisierung staatlicher Leistungen.
Denn auch so lässt sich die Auflösung des Staats lesen: Er löst sich nicht in Luft auf, stattdessen lösen sich seine vertrauten Konturen und Strukturen auf, an dessen Stelle neue treten: Staatliche Überwachungsinfrastrukturen etwa, die in weitgehend undurchsichtiger Weise auf verschiedenen Ebenen privatisiert sind. Erstens werden sie nicht mehr allein von Behörden, sondern zu großen Teilen von privaten Security-Anbietern betrieben. Zweitens kauft der Staat auf dem freien Markt Sicherheitsprodukte ein. Drittens unterstützt der Staat die IT-Industrie mit Subventionen sowie Sonderrechten und bittet im Gegenzug um freien Zugang zu Kundendaten.
Ob die besagten Schattenzonen lediglich eine Begleiterscheinung des Transformationsprozesses sind oder ob sie das Wesen des neuen Staats ausmachen – das wird auch die zivilgesellschaftliche Transparenzbewegung so schnell nicht beantworten können. Zwar adressiert sie mit ihrer Forderung nach Abschaffung der Schattenzonen den richtigen Punkt. Doch zeigt sich schon heute: Nicht nur die Verweigerung der Transparenz, sondern auch das Transparenz-Washing ist ein großes Problem. Apropos: “US-Regierung will Details zur Telefonüberwachung offenlegen” (Spiegel Online). Das “Offenlegen” wird von hochbezahlten Image-Agenturen betreut. Es zielt auf die Orchestrierung von Transparenz und damit auf die systematische Irreführung jeglichen Engagements seitens der Bürger.

Was bringt der “Snowden-Effekt” in Bewegung?

Ohnehin ist dieses Engagement heutzutage nicht mit allzu rosigen Aussichten aufgeladen. Verglichen mit der Weltrevolution 1968 gehen heute weltweit deutlich mehr Menschen auf die Straße. Die Regierungen sind jedoch weniger denn je gewillt einzulenken, geschweige denn auf die Proteste zu hören. Entsprechend realistisch gibt sich Snowden. Gefragt nach der schlimmsten Konsequenz seiner Enthüllungen über die Überwachungsprogramme sagt Snowden: “das sich nichts ändert.”
Bereits jetzt absehbar ist, dass der “Snowden-Effekt” (Jay Rosen) einiges in Bewegung bringt. Er setzt unbequeme Themen auf die Agenda von Politik und Massenmedien und hält sie dort erstaunlich lange ‘oben’. Nebenbei könnte der “Snowden-Effekt” Bürger und Staat zu einer Renaissance verhelfen und damit Begriffe neu beleben, denen der Beigeschmack einer kafkaesk-verwalteten Welt anhaftet.
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Die Frage der Stunde ist ob und wie Bürger und Staat neu aufgeladen werden können: Kann einer wie Edward Snowden, der sich weitaus seriöser präsentiert als der geistesverwandte Bradley Manning – kann ein solcher Bürger- und Staats-Idealist das Ideal des Bürgers und das Ideal des Staats neu beleben? Und damit gleichsam neue Ideale des Bürgers sowie des Staats definieren helfen?

Von EZLN über WikiLeaks zu Snowden

Edward Snowden hat mehrfach zu verstehen gegeben, dass er mit seinen Enthüllungen der USA nicht schaden möchte – im Gegenteil. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter entpuppt sich als demokratietheoretisch geschulter Bürgerrechtler, wenn er in seinen Ausführungen auf die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte verweist. Er macht den Schritt an die Öffentlichkeit in einem besonderen Moment: Noch während Bradley Manning der Prozess gemacht worden ist, sichtlich darum bemüht alle potenziellen Whistleblower einzuschüchtern, legte er Informationen nach, die die von Manning angestoßenen Debatten über das Verhältnis von Staat und Bürger in neuer Weise befeuern.
Während Manning den Rohstoff (Informationen) lieferte, verstand es WikiLeaks den Informationen eine Perspektive, eine Stoßrichtung zu geben: die Rechenschaftspflicht öffentlicher Institutionen reaktivieren. Die Whistleblower-Plattform konnte die an sie gerichteten Erwartungen nicht vollends erfüllen. Doch hat sie ein wichtiges historisches Bindeglied geschaffen zwischen disparaten Ansätzen und Bewegungen, die die Rolle des (aufbegehrenden) Bürgers und die Aufgaben des Staats auf ihre Agenda gesetzt haben. Der Fall Snowden erscheint vor diesem Hintergrund als Sperrspitze einer diffusen Bewegung, die so unterschiedliche Strategien verfolgt wie Raumbesetzungen und Online-Aktivismus. Und das in so unterschiedlichen Ländern wie Deutschland und Mexiko.
Einmal aus der Vogelperspektive betrachtet: Die jüngsten Aufstände rund um den arabischen Frühling, die Occupy-Bewegung, netzpolitische Initiativen (u.a. Ad-Acata) sowie die Riots von Paris bis London beerben die globalisierungskritischen Bewegungen nach den Ausschreitungen von Seattle im Jahre 1999. Ihren Vorläufer haben jene wiederum in den Aktionen der EZLN. Sie besetzen seit den frühen 1990er Jahren eine verarmte Region in Süd-Mexiko und verzichten dabei auf Waffengewalt. Ihren öffentlichen Druck entfalten sie stattdessen medial. Dabei gilt das Aufbegehren nicht primär den multinationalen Konzernen und der globalen Wirtschaft, die als primäre Ursachen für das Elend gelten. Vielmehr wendet sich ihr Widerstand gegen den Staat. Wer sonst könnte Rechte garantieren? Wer sonst könnte den Ausverkauf des Landes und somit auch die Macht der multinationalen Konzerne eindämmen?

Willkommen im Bürgerkrieg!

Es ist eine Bewegung, die sich (noch) nicht als solche begreift. Ob wir hier über die 99% sprechen oder eher eine Minderheit der Weltbevölkerung, sei dahin gestellt. So oder so: All jene, die sich heute noch in einem sich auflösenden beziehungsweise im Entstehen begriffenen Rechtsrahmen bewegen und engagieren sind noch “informelle politische Subjekte” (Saskia Sassen), die im bevorstehenden Geschichtsabschnitt zu “formal politischen Subjekten” reifen, sprich: die neuen Bürger werden.
Dass dieser Prozess nicht ohne Kampf möglich ist, daran erinnern Tiqqun. Das Autorenkollektiv aus Frankreich meint: Recht zu haben reiche nicht aus, man müsse auch in der Lage sein, Veränderungen herbeizuführen. Tiqqun ist nicht so dumm Gesetze (und Rechte) für “nutzlos” (Evgeny Morozov) zu erklären, sondern relativiert ihre gesellschaftspolitische Funktion und verweist nicht zuletzt auf das Dilemma der Rechtsdurchsetzung – deren schleichende Privatisierung einerseits, deren Aufhebung andererseits. Konsequenterweise ruft Tiqqun den Bürgerkrieg aus. Unter anderem mit dem Ziel, den Rechtsstaat zu reanimieren.
Man kann den “Snowden-Effekt” mit “Paranoia” und “Getöse” (Otto Schily) abtun, aber damit weder das “Ende der Debatte” (Frank Schirrmacher) legitimieren, noch den “kommenden Bürgerkrieg” in Abrede stellen. Zu ernsthaft bedrohen sowohl die Überwachungsverfahren als auch deren Undurchsichtigkeit die Gesellschaft. Die Vermählung von Staat und Wirtschaft ermöglicht ein post-panoptisches Schattenregime der “sozialen Klassifizierung” (David Lyon), der “kumulativen Benachteiligung” (Oscar Gandy), der “datenbasierten Diskriminierung” (Kurz/Rieger) sowie der “Adiaphorisierung” (Zygmunt Baumann) – derweil sich die Spaltung zwischen Bürger und Staat verschärft.

Bedrohungen, Gegenmittel, Forderungen

Wenn Rechtsstaat und Bürgerschaft erkämpft werden müssen, dann sind Grundrechte nicht alles, aber wichtig. Schutzrechte müssen zugunsten des “Super-Grundrechts Sicherheit” (Hans-Peter Friedrich) verteidigt werden. Datenschutz etwa gehört in der Post-Snowden-Welt ganz oben auf die Agenda. Ebenso die Forderung nach einem Whistleblower-Schutz. Vielleicht muss sogar eine “Whistleblower-Gewerkschaft” (Ulrich Beck) her.
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Die Rechenschaftspflicht öffentlicher Institutionen muss durchgesetzt werden. Geheimdienste sind davon nicht ausgeschlossen. Die Komplexität der Technik, nationale Sicherheit oder Betriebsgeheimnisse privatwirtschaftler Partner können nicht ernsthaft als Argumente herhalten um die Undurchsichtigkeit der neuen Überwachungsverfahren zu legitimieren.
Transparenz als Kontrollmechanismus kann ein probates Gegenmittel sein. Doch kann es nicht Transparenz, um der Transparenz willen sein. Wir, die Bürger von morgen, müssen uns fragen: Wie wollen wir Transparenz herstellen? Wozu genau? Was dann machen damit? Unreflektierte Transparenz kann nicht zuletzt dem Daten- und Informationsfetischismus zum Opfer fallen. Deshalb gilt auch analog dazu: Leaks nicht der Leaks willen. Es geht vielmehr darum auf der wachsenden Informationsbasis der Leaks und den daraus resultierenden gesellschaftspolitischen Konsequenzen möglichst bald nicht nur noch mehr Informationen zu leaken, sondern auch Medizin, Essen, Häuser und öffentliche Netz-Infrastrukturen.

Das nicht-wirtschaftliche Moment

Zu Beginn des 21. Jahrunderts lösen Konzerne aus dem IT-Bereich das Militär als Technologie-Avantgarde ab. Darüber hinaus ersetzen sie den Staat als Container, in dem wir uns aufgehoben fühlen. Die Allgegenwart der Ökonomisierung zeitigt nicht nur einen neoliberalen Staat, sondern auch Sinnsysteme wie Facebook, die Menschen das ersehnte Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln. Hier ist das Verhältnis von Bürger und Staat an einem Nullpunkt angekommen. Hier ist es in fortgeschrittener Auflösung begriffen.
Wollen wir das Verhältnis von Bürger und Staat neu im Konnex Technologie und Zugehörigkeit denken – dann gilt es nicht zuletzt für das “nicht-wirtschaftliche Moment” (Philippe Aigrain) unserer digitalen Ära zu sensibilisieren. Wie auch immer das Selbstverständnis als Mitglied eines sozialen Netzwerks (ob Kunde, Konsument oder Produkt, ob unfreiwillig oder selbstbestimmt überwachtes Objekt), längst überformt es das Mindset des Bürgers. Sich als Bürger neu zu begreifen (mit allem was dazu gehört, mit allen Konsequenzen, auch im Hinblick auf den Staat) das bedeutet heute das “nicht-wirtschaftliche Moment” auf die eigene Existenz zu beziehen. Sich als Bürger zu rekonzipieren, bedeutet Nicht-Kunde, Nicht-Konsument, Nicht-Produkt der (Selbst-)Überwachung zu sein. Zumindest für einen Moment, in dem sich potenziell alles neu ordnet.
Schließlich bedeutet es Bürgerschaft mit anderen zu teilen – als Lebensgefühl, als Gesinnung, als innere Notwendigkeit. Wie es Edward Snowden mit uns tut: Statt weiterhin ein Angestelltendasein zu fristen, hat er sich, seinem Gewissen folgend, auf seine Rolle als verantwortungsvoller Bürger besonnen. Statt die Informationen an den Meistbietenden zu verkaufen, macht er sie der Öffentlichkeit in Zusammenarbeit mit glaubwürdigen Journalisten frei zugänglich. Statt sich von den Massenmedien als Widerstandspopstar feiern zu lassen, lässt er sein Wissen sprechen. Zwecks konstruktiver Kritik am Staat. Snowden zeigt damit nicht zuletzt, dass das “nicht-wirtschaftliche Moment” ein besonders kostbares Moment ist in Zeiten, die hoffnungslos überladen scheinen mit den Werten und der Logik des Marktes. Darüber hinaus zu denken, fällt schwer. Etwa genauso schwer, wie sich selbst als Bürger und den Staat als Rahmen der eigenen Existenz zu begreifen. Wie das doch möglich ist – das führt Snowden in einer sehr radikalen Weise vor.
 
Dieser Artikel ist ein Crosspost und wurde zuerst in der Berliner Gazette veröffentlicht.
Bilder: Portrait von Edward Snowden: Standbild aus einem Film von Laura Poitras (Praxis Films); Demonstration: See-ming Lee