Politische Kommunikation im Internet ohne die politische Elite: In seiner Nachbetrachtung der Präsidentschaftwahl 2009 analysiert der bolivianische Blogger Miguel Buitrago das Engagement von Parteien, klassischen Medien und Wählern im Netz.
Am 6. Dezember 2009, einem Sonntag, machten sich die Bolivianer auf den Weg an die Wahlurnen – zum fünften Mal in nur vier Jahren. Das Land stand unter dem Einfluss tief greifender politischer Veränderungen. Evo Morales, seit 2005 im Amt und der erste indigene Präsident in der Geschichte des Landes, versuchte, die Demokratie durch eine Neuschreibung der Verfassung zu revolutionieren. Die Präsidentschaftswahlen sollten darüber entscheiden, ob Morales mit der politischen Transformation des Landes fortfahren sollte oder ob die Wähler einen anderen Weg bevorzugen würden. Insofern war es eine wahrhaft historische Wahl für Bolivien.
Darüber hinaus waren aber noch zwei weitere Merkmale der Wahl „historisch“: Zum einen erlangte Morales mit 64 Prozent der Stimmen einen Grad der Unterstützung, den keiner seiner Vorgänger je erfahren hatte. Zum anderen erreichte die politische Bedeutung des Web 2.0 bei dieser Wahl ihren vorläufigen Höhepunkt. Die sozialen Medien waren entscheidend an der Berichterstattung über den Wahlprozess beteiligt und die Kommunikationskanäle der Web-Community trugen ganz erheblich dazu bei, den Wahlprozess für die Bürger Boliviens und den Rest der Welt transparent zu gestalten und damit zu legitimieren.
Business as usual
Als die Kampagnen der Parteien anliefen, erkannte zunächst niemand der politischen Protagonisten, welche Rolle das Web 2.0 bei diesen Wahlen spielen würde. Die politische Elite konzentrierte sich vor allem auf die traditionellen Medien, wie sie es auch bei vorangegangenen Wahlen getan hatte. Die Regierung zum Beispiel war davon überzeugt, dass sich die meisten Bolivianer in erster Linie durch Fernsehen oder Radio informieren würden und vereinnahmte daher alle verfügbaren Sendezeiten in den staatlich kontrollierten Rundfunk- und Fernsehstationen für die eigene Propaganda. Die Opposition versuchte dagegen größtenteils, ihre Botschaften über privaten Medienanbieter zu vermitteln.
Elektronische Medien spielten in den politischen Kampagnen dagegen nur eine Nebenrolle. Die traditionellen Kommunikationskanäle im Wahlkampf wurden oftmals nur durch Websites ergänzt. Die Opposition nutzte daneben auch Foren, wie etwa Yahoo–Gruppen, um über die Kampagnen zu diskutieren oder Unterstützern anzuwerben. Die Regierungspartei richtete darüber hinaus ein Kommunikationsbüro ein, von dem aus der gesamte Informationsfluss der Kampagnen gesteuert wurde. Auf einer zugehörigen Website wurden Fotos, Nachrichten und Kommentare zur Präsidentschaftskampagne gesammelt und aufbereitet. Es gab sogar ein englischsprachiges Informationsangebot für internationale Journalisten.
Trotzdem war für die politische Elite der Wahlkampf „business as usual“. Das Internet spielte eine untergeordnete Rolle bei den Kampagnen, von einer E- Bewegung ähnlich wie bei Obama konnte keine Rede sein. Massenmails, Video-Streams, Unterstützerseiten auf Facebook und Twitter-Nachrichten fehlten gänzlich.
Bürgerwebwahlkampf 2.0
Auf der Seite der Bürger zeichnete sich jedoch ein anderes Bild ab. Nachdem frühere Wahlen so gut wie immer unter Betrugsverdacht gestanden hatten, bedurften die Wahlen von 2009 dringend einer Legitimierung vor der Wählerschaft und der internationalen Staatengemeinschaft. So kam es, dass vor allem junge Wähler beschlossen, die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Seit 2007 hatte sich in Bolivien eine zunehmend junge, dynamische Blogosphäre entwickelt. In den Monaten vor der Wahl organisierte sich diese Bloggemeinschaft, um eine außerordentliche Berichterstattung am Wahltag liefern zu können. Websites schossen wie Pilze aus dem Boden, um den permanenten Informationsfluss, der sich über Twitter und Facebook ergoss, aufzubereiten.
Auszählung per Twitter überwacht
Insbesondere die Twittermeldungen zur Wahl transportierten nicht nur die Stimmung der Leute, sondern kanalisierten auch die Informationen der Bewegung über Hashtags – kleine Kürzel, die eine thematische Sortierung der Tweets erlauben. Das erwies sich besonders am Wahltag als äußerst hilfreich, um Probleme und Unregelmäßigkeiten beim öffentlichen Auszählen der Stimmen zu dokumentieren.
Bei Facebook war die ‘Gruppen-Anwendung’ ein nützliches Instrument, um die Bürgerbewegungen zu organisieren. Besonders der Kontakt zu den Auslandswählern lief über das soziale Netzwerk ab. Denn zum ersten Mal in der Geschichte konnten Exil-Bolivianer aus allen Teilen der Welt an Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Viele luden Fotos, Videos und Kommentare in ihren Profilen hoch und teilten so ihre Wahlerfahrungen in ihren jeweiligen Ländern mit.
Klassische Medien verhalten
Auch die bolivianischen Mainstream-Medien versuchten sich an der eDemokratie-Bewegung im Netz zu beteiligen, wenn auch mit weniger Herzblut. Die größten Zeitungen des Landes, wie etwa La Razon, El Deber, El Diario, Los Tiempos, Fides und Fernsehsender wie die Periodistas Asociados de Televisión (PAT), die Asociación de Televisoras Bolivianas (ATB) und Red Unitel schmückten ihre elektronischen Angebote mit einer Fülle von Verlinkungen zu Twitter, Facebook und Youtube. PAT Network streamte dazu ihre Berichterstattung zur die Wahl über Justin.tv.
Die Präsidentschaftswahl vom 6. Dezember 2009 war die erste in Bolivien, die nicht nur durch die klassischen Medien, sondern auch durch die Bürger nachrichtlich begleitet wurde. Diese Wählernetzwerke hatten sich aus eigenem Antrieb im Internet organisiert und die komplexeste unabhängige Wahlberichterstattung in der bolivianischen Geschichte auf die Beine gestellt. Dies war ein wesentlicher Beitrag um zu zeigen, dass Bolivien zu fairen, freien und transparenten Wahlen fähig ist. Für ein Land mit einer so jungen Demokratie wie Bolivien ist dies von besonderer Bedeutung.
Übersetzt aus dem Englischen von politik-digital.de. Demnächst in der Serie “Politics en Blog”: Berichte aus dem Libanon, Ägypten, Nepal u.a.
Bild: Sebastian Schneider / pixelio.de (CC-BY-2.0)