schönbergerSo „wild“wie es das Motto der re:publica 2014 vermuten lässt, wird die Zukunft gar nicht. Zumindest nicht, wenn unsere Gesellschaft damit fortfährt, im großen Stil Daten zu produzieren, auszuwerten und von diesen Analysen immer mehr staatliche, wirtschaftliche und private Entscheidungen abhängig zu machen. Auf der diesjährigen re:publica gab es eine Reihe von Veranstaltungen, die das große Thema „Big Data“ bedienten und aus unterschiedlichen Perspektiven thematisierten.
„Data is the new oil“, konstatierte Jonas Westphal zu Beginn seines re:publica-Vortrags über die Möglichkeiten informationeller Selbstbestimmung in sozialen Medien. Der IT-Journalist und Berater ist sich sicher: Der Datenschatz beschränke sich im Internet der Dinge nicht länger auf die Informationen, die wir bewusst ins Netz eingeben oder bei unserer Internetnutzung zurücklassen, sondern liege künftig vielmehr in den Informationen, die unsere Besitztümer sekündlich über uns sammeln. Die Menschen würden zunehmend dazu übergehen, sich die „Rechenmaschinen in ihr Haus zu holen“, so brachte es auch die Datenexpertin Yvonne Hofstetter auf den Punkt. Einrichtungsgegenstände, Autos oder Kleidungsstücke dienten der Industrie zunehmend als sensorische Instrumente und übermittelten per Datenspeicherung Aufenthaltsorte, Stromverbrauch, Ernährungsverhalten, Joggingstrecken oder Gesundheitswerte. Letztlich, so subsumierte es Jonas Westphal, werden die Dinge uns besser kennen als wir uns selbst.

Echtzeit-Verarbeitung und künstliche Intelligenz

Doch die smarten Geräte, Gadgets und Applikationen durchdringen nicht nur unseren Alltag und sammeln in großem Ausmaß Daten, sie werden auch immer intelligenter. Sie werden miteinander kommunizieren und auf der Grundlage lernender Algorithmen und Echtzeit-Berechnungen selbstständig Entscheidungen treffen können. Die dafür notwendige Technologie der Multisensordatenfusion ist das Metier des von Yvonne Hofreiter geführten Datendienstleisters Teramark Technologies. Die Unternehmerin zeigte in ihrem Vortrag „Big Data? Intelligente Maschinen“ auf, wohin es führt, wenn die mathematische Berechnung durch Maschinen, also künstliche Intelligenz, menschliche Entscheidungskraft immer mehr ablöst. Als Beispiel nannte sie den Hochfrequenzhandel an den Börsen, der sich längst nur noch in leistungsstarken Rechenzentren abspiele. Der Mensch sei in diesem virtuellen Geschehen und im Kampf der Rechenleistung nicht länger nur der Zuschauer, sondern könne die Geschehnisse auch nicht mehr nachvollziehen. Die Folge seien nicht zuletzt unvorhersehbare Crashs, so Hofstetter.
Mit der Erschließung sozialer Daten würden nun auch Menschen zunehmend diesem Rationalisierungsdruck der Algorithmen unterworfen. Die Datenexpertin warnte nachdrücklich vor der Akkumulation entsprechender Technologien in den Händen weniger mächtiger Wirtschaftsunternehmen. Diese würden, im Gegensatz zu staatlichen Behörden, die gewaltigen Datenmengen auch nicht wieder löschen, sondern möglichst umfänglich nutzen. Angesichts dessen müsse man die jüngsten Expansionsbestrebungen des Google-Konzerns mehr als kritisch betrachten. Der Kauf des Militärroboter-Herstellers Boston Dynamics oder des Drohnenproduzenten Titan Aerospace ließen keinen Zweifel daran, dass das Unternehmen weiterhin daran arbeite, an immer mehr Informationen zu gelangen.

„Daten sind wichtiger als Algorithmen“

Während Yvonne Hofstetter die Bedeutung der Algorithmen und der simultanen Verarbeitung von Daten betonte, stand für den Rechtswissenschaftler Victor Mayer-Schönberger (im Bild)  in seinem Vortrag über die ethischen Grenzen von Big Data vor allem die Speicherbarkeit der immensen Datenmengen im Vordergrund. Durch die massenhafte Verfügbarkeit von Informationen ließen sich Datenfragmente und -bündel zu immer detaillierten Gesamtbildern verknüpfen und so sehr exakte Vorhersagen treffen. Während früher noch das so genannte GIGO-Prinzip („Garbage in, garbage out“)  gegolten habe, nach dem unzureichende Daten auch immer zu unzureichenden Ergebnissen führen müssten, würden wir aktuell einen Punkt erreichen, an dem dieses Prinzip nicht länger Allgemeingültigkeit besäße.
Die schiere Masse an Informationen mache jedwede Unschärfe der Prognose wett oder in den Worten des Redners: „Daten sind wichtiger als Algorithmen“. Speichert ein Unternehmen oder der Staat also möglichst viele Daten, so können mögliche Ungenauigkeiten letztlich durch den Abgleich dieser vielen Daten miteinander ausgeglichen werden. Ein Unternehmen wie Google könne für diese Arbeit den gesamten Datenschatz des Internets benutzen, wodurch die so erzeugten Berechnungen auch immer exakter würden. Ein Beispiel dafür ist das Übersetzungsprogramm Google Translator, mit dem das Unternehmen innerhalb weniger Jahre erreichte, woran sich vorher viele Spezialisten die Zähne ausgebissen hatten.

Macht der Korrelationen

Aktuell bestehe eine Tendenz, konstatierte Mayer-Schönberger, immer weitreichendere Entscheidungen von diesen Vorhersagen, abhängig zu machen, um gesellschaftliche und private Risiken zu minimieren und zum Beispiel im Strafrecht (Bewährungsauflagen, Freilassung, Tatprognose), im Gesundheitssystem oder der Versicherungsbranche eine effektivere Prävention betreiben zu können. Dabei seien jene Verfahren am gefährlichsten, die von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt implementiert würden. Längst würden intelligente Systeme benutzt, um Menschen zu diskriminieren, so der Schweizer.
Mayer-Schönberger warnte davor, dass Menschen in Zukunft aufgrund berechneter Verbrechenswahrscheinlichkeiten bestraft werden könnten und nicht länger auf der Grundlage moralischer Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen würden. Es würde schlicht das Ende der moralischen Verantwortlichkeit bedeuten und auch das Ende der Schuld, so wie wir sie kennen. In Zeiten, in denen Daten und damit auch unsere Handlungen nicht mehr vergessen werden, sei dies höchst brisant. Freie Selbstbestimmung sei unter diesen Bedingungen nur noch eine Illusion.
Entsprechend plädierte der engagierte Redner für das Vergessen und die Irrationalität. Dafür sei es zwingend notwendig, dass wir über unsere Informationen selbst bestimmen könnten. Jonas Westphal brachte diese Forderung folgendermaßen auf den Punkt: „I want my data back“. Wie das im Bereich der sozialen Netzwerke funktionieren könnte ,veranschaulichte der Autor mit seinem Versuch, die dezentralen Protokolle des Web 1.0 mit der Interkonnektivität der Web 2.0-Ära zu vereinen. Bereits bestehende alternative Konzepte sozialer Medien wie Diaspora seien zwar zum jetzigen Zeitpunkt nicht konkurrenzfähig, langfristig aber eine wünschenswerte und adäquate Alternative zu Facebook und Co..
Bild: re:publica (CC BY 2.0)
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