Hand in Hand mit einem großen Firmen-Konsortium startet die
deutsche Hauptstadt Europas größtes Stadtinformationssystem. Ziel dieser
Partnerschaft: Wenigstens im Internet soll Berlin zur Weltmetropole werden und
als digitale Stadt Modellcharakter für andere deutsche Großstädte erlangen.
Mit Gesamtinvestionen in zweistelliger Millionenhöhe wird ein
gigantisches digitales Abbild Berlins ins Internet gestellt: Die Bürger können künftig
Behördengänge vom heimischen PC aus absolvieren, durch eine virtuelle
Shopping-Mall klicken, eine eigene Homepage einrichten oder mit ihren Mitbürgern in Foren
über den Stadtsmog plaudern.
Vorher: Berlin 1.0 Nachher: Berlin 2.0
All diese Ideen sind nicht neu und werden so oder ähnlich bereits seit Jahren in Amsterdam
(www.dds.nl) und Münster und nicht zuletzt in Berlin praktiziert. Neu an
der Internetseite mit der eingängigen Adresse berlin.de ist vor
allem der Wille zur Größe, die Zusammenlegung von Behördendiensten, Online-Shopping, Stadtinformationen
und Bürgerforen. Während Konzerne wie Disney, Netscape oder Bertelsmann derzeit an ähnlichen Infotainment-Angeboten,
sogenannten Internet-Portalen basteln, ist berlin.de das erste Beispiel dafür, wie eine ganze Stadt
im Internet vermarktet werden soll. Das Angebot richtet sich dabei ebenso an Besucher aus aller Welt
wie auch an die Bürger vor Ort: Es werden bereits öffentliche Terminals geplant, die in Getränkeautomaten
integriert sind, gesponsert von Coca-Cola.
Die Projektleitung liegt in den Händen eines Konsortiums, bestehend aus der Daimler-Chrysler-Tochter
debis mit dem Handelskonzern Metro Holding AG, immerhin Deutschlands größtem Lebensmittelkonzern.
Diese beiden Unternehmen haben ihre Internet-Aktivitäten zur Betreibergesellschaft
Primus-Online Berlin Brandenburg zusammengelegt, und kooperieren außerdem eng mit der
Berliner Volksbank.
Ein paar Einwände vorab: Die private Datenstadt als Ausverkauf der Öffentlichkeit
Da in den meisten Zeitungsberichten über berlin.de die kritischen Stimmen auffällig rar sind,
hier ein paar Einwände vorab, die nörglerisch anmuten mögen, aber möglicherweise die Dimension
des Projekts erst erkennbar machen. Die einzigartige Fusion aus Stadtinformationen und Privatkapital
ist nicht aus purer Innovationsfreude, sondern aus der Not geboren. Der Berliner Senat fällt seit dem
Auslaufen der Berlin-Förderung von einem Haushaltsloch ins nächste, und nur die radikale Privatisierung
der digitalen Stadt ermöglichte die zweistellige Millioneninvestition. So blieben diverse innovative
Medienfirmen aus der Region außen vor, etwa der erste Berliner Stadtinformationsdienst "kulturbox"
oder die profilierte Datenschmiede "art+com", die schon den Börsengang
der Telekom mit einer
sensationellen Animation bebildert hatte. Anstatt einer Gruppe aus vielversprechenden Berliner
Multimediafirmen die Chance zu geben, sich mit dem neuen Stadtinformationssystem zu profilieren
und damit für den Standort Berlin zu werben, wurde der Auftrag nach Auswärts vergeben. Zwar fand
eine öffentliche Ausschreibung statt – aber Geld konnte Berlin nicht bieten. Nur seinen guten Namen.
Und genau der könnte durch die neue Datenstadt gefährdet sein.
Konflikte zwischen Verwaltung und Dienstleister sind vorprogrammiert. Eine "hübsch verpackte
Zeitbombe" nennt der Spiegel diese Public-Private-Partnerschaft (PPP), während der verantwortliche
Berlin.de-Projektleiter Horst Ullrich die Allianz von Großkapital und
Senat für schlicht "notwendig und zukunftsweisend hält". Der Berliner Senat hat den Wert der
eigenen Marke entdeckt: "Unser Kapital in dieser Partnerschaft besteht in der zugkräftigen Marke ‘Berlin‘",
so Ulrich. Ob diese Marke sich verkaufen läßt, dazu später mehr.
Endlich wird Berlin wieder Weltstadt, wenn auch zunächst in der Welt der globalen Datennetze.
Eine Weltstadt der etwas andern Art, die erste voll globalisierte und privatisierte Stadt der Welt,
definiert und präsentiert durch international operierende Unternehmen: Landesverwaltung und lokale
Bezirksämter werden im Datenraum herabgewürdigt zu reinen Inhaltslieferanten, auf neudeutsch auch
"Content Provider" genannt. Verantwortung und Erlöse aber gehen auf eine Tochter des internationalen
Konzerns Daimler-Chrysler über und auf den größten deutschen Nahrungsmittelkonzern Metro. Im Stadtbild
selbst werden die Behördeninformationen von einem der weltweit größten Getränkehersteller präsentiert.
Berlin.de, das ist der Ausdruck der Globalisierung und des Fusionsfiebers, der Ohnmächtigkeit lokaler
Verwaltungen den globalen Datenströmen gegenüber. Berlin.de ist ein Vorausblick auf einen Staat, den
man bezeichnen könnte als die "Berlin.de-Republik."
Denn der Ausverkauf der städtischen Öffentlichkeit ist keineswegs auf den Berliner Cyberspace beschränkt
– in der gesamten Stadt werden derzeit öffentliche Räume privatisiert und "gefährliche Orte" festgelegt,
an denen die Polizei nach Gutdünken Platzverweise erteilen kann. 12.500 private Wachleute patrouillieren
zudem durch die Stadt. Und ganze Stadtteile werden von vorneherein als private Shoppingmalls geplant.
Bestes Beispiel: Der gerade eröffnete Teil des Potsdamer Platzes, der sich ganz unverholen "Daimler City"
nennt, benannt nach dem Betreiber der steinernen Immobilie und des digitalen Stadtinformationssystems.
Stadtverwaltung und Bürger werden Zaungast in der eigenen Stadt, hofiert allein als Kunde und Besucher –
nicht als Souverän.
Die Planungen der digitalen Stadtväter
Soviel zum Horror-Szenario, das sich manch kritischem Netz- und Stadtbürger aufdrängen mag. Wie aber
stellen sich die Anbieter selber die Datenstadt der Zukunft vor?
Seit März 1996 ist Berlin bereits mit einem drögen Informationsangebot im Netz unter der Adresse berlin.de
vertreten. Nun endlich kommt das lang überfällige Update: "Inspiriert hat uns am Anfang natürlich das Modell
der digitalen Stadt in Amsterdam", so Ulrich.
In der digitalen Stadt sollen öffentliche Bereiche und Kommerz für den User sichtbar getrennt werden: So ist
der städtische Teil am Emblem des Berliner Bären erkennbar. Während die Informationsseiten des Bundeslandes
Berlin werbefrei bleiben sollen, soll es den Bezirksämtern erlaubt sein, auf ihren Seiten Werbung anzubieten.
"Da erschließen sich für die Stadt neue
Einnahmequellen", sagt Ulrich. Die Einnahmen werden dann jedoch zwischen Verwaltung und Betreiber aufgeteilt.
Nach dem gleichen Modell soll auch die Hälfte der Einnahmen der privaten Anbieter an Primus Online gehen.
Die Benutzer können auch Markierungen, sogenannte Bookmarks anlegen und sich so
ihr persönliches Berlin.de schaffen. Außerdem soll ein elektronischer Stadtplan hausnummerngenau zum Standort
der jeweiligen Veranstaltung führen, die angeklickt wird.
Zwei Redaktionsteams sollen umfangreiche und aktuelle Informationen bereitstellen. Auf Seiten der Stadt
arbeitet Ulrich mit einer sechsköpfigen Mannschaft, während beim Betreiber Primus-Online knapp 30 Mitarbeiter
das Angebot bearbeiten. Dadurch soll ein bürgernaher
Allround-Service entstehen, der zum Beispiel Auskunft darüber gibt, wo noch ein Kindergartenplatz frei ist,
oder wann die Lesung eines Lieblingsschriftstellers beginnt.
Doch wie gelangen die neuen Öffnungszeiten der Bezirksbehörde Spandau ohne Umwege in das Angebot von berlin.de?
Ein Content Management System (CMS) macht es möglich. Mit Hilfe dieses Redaktionssystems können die
Sachbearbeiter in den jeweiligen Ämtern der Stadt ständig neue Daten in
das Angebot einspeisen und die alten aktualisieren. Ob sie sich jedoch
mit ihrer Mitarbeit an der virtuellen Amtsstube langfristig selber
überflüssig machen, bleibt offen. Vielleicht sogar zu hoffen, würde manch einer sagen, denn
die öffentliche Hand ist immer noch der größte Arbeitgeber vor Ort, ohne die dafür notwendigen
Steuereinnahmen zu haben.
Derartige Bedenken oder Hoffnungen zerstreut Ullrich, wahrscheinlich zu Recht: "Auf die Individuelle Beratung
und kompetente Verwaltung der Bürgerdaten werden wir auch in Zukunft nicht verzichten können.
Das sind keine Prozesse, die sich vollständig
automatisieren lassen." Nach anfänglichen Widerständen sei die Bereitschaft zum Mitmachen in den
Berliner Amtsstuben mittlerweile groß, sagt er: Von ca. 150 städtischen Einrichtungen werden fast
die Hälfte (62) vom Start an mit einer eigenen Homepage dabei sein, 77 weitere
folgen in Kürze, nur knapp ein dutzend hat bisher zu den Online-Plänen
geschwiegen.
Die Schulungen der verantwortlichen Beamten laufen bereits. In der Regel sind es die
Presseverantwortlichen oder die EDV-Beauftragten in den Behörden, denen diese neue Aufgabe zuwächst.
Im nächsten Schritt sollen aber auch mehrere Sachbearbeiter in einer Behörde Zugriff auf das Redaktionsystem
haben. "Auf diese Art machen wir den Bürgern Informationen zugänglich, die behördenintern ohnehin vorliegen
und sowieso erstellt werden müssen", so Ulrich.
Jede Behörde erhält ihren individuellen Auftritt, der sich jedoch an der Corporate Identity von
berlin.de orientiert. Auch das dürfte einzigartig sein: Die Uniformität der Verwaltungen weicht der
Uniformität einers Firmenkonzeptes. Damit das in der Praxis auch funktioniert, schließt jede Behörde
eine Einzelvereinbarung mit dem Betreiber Primus-Online ab. "Die verpflichten sich damit, regelmäßig
und aktuell in ihrem Angebot zu berichten, wenn sie das nicht tun, kommt das einem Vertragsbruch gleich",
so Ulrich über das Modell in der Praxis. Erstmalig in der deutschen Geschichte kann so ein Unternehmen
per Gerichtsentscheid mehr Bürgernähe von den Behörden einklagen. Bislang gab es zu diesem Zweck
nur das Presserecht und die Auskunftspflicht der Behörden. Nun wird diese Öffentliche Aufgabe
privatrechtlich und kommerziell umdefiniert. Wer weiß, vielleicht sogar zum allgemeinen Nutzen?
Unter Berlin.de sollen die größte City-Community Deutschlands enstehen. So können sich
die Berliner kostenlos eine E-Mail-Adresse sowie eine Homepage unter Berlin.de bestellen.
Eine Woche vor dem offiziellen Startschuß hat die digitale Hauptstadt bereits 2000 Datenbürger.
Auch wenn Kanzler Schröder noch von Bonn aus, regiert, unter gerhard.schröder@berlin.de hat man
ihm bereits eine elektronische Ansschrift in der virtuellen Haupstadt
reserviert.
"Wir verfolgen das Prinzip einer offenen Plattform, die das reale Berlin
in all seiner Breiten und allen Facetten widerspiegelt", erklärt Korp.
Dagegen argwöhnen Kritiker, hier besetze ein Industrieriese wie die
Daimler-Chrysler-Tochter debis nicht nur im realen Berlin mit dem
Potsdamer Platz das Zentrum der Hauptstadt, sondern habe sich gleich
auch Cyber-Berlin unter den Nagel gerissen. Ein Vorwurf, den der Priumus-Online-Manager
routiniert zurückweist: "Jeder ist uns willkommen. Wir verstehen uns
nur als Betreiber der Plattform Berlin.de, der sich um die notwendige
Infrastruktur in Form von Technik, Abrechnungslösungen etcetera kümmert.
Es liegt an den Berlinern, diese Plattform mit Leben zu füllen. Wir wollen
und werden da nichts reglementieren. Unser virtuelles Abbild von Berlin soll
möglichst vollständig sein", versichert er.
Neben den Berliner Behörden werden zum Start von berlin.de 2.0 rund 40
Content-Partner Inhalte zu Kultur, Sport und Politik liefern, darunter
der Berliner Tagesspiegel und das Info-Radio-Berlin. Finanzieren wird
sich die Plattform jedoch durch Unternehmen, die sich in einem separaten
Bereich von berlin.de mit ihren Produkten und Dienstleistungen präsentieren
und diese online zum Verkauf anbieten. "Das ‘Shop-Paket‘ für Einsteiger, bei
dem sie 20 Produkte zum Verkauf anbieten können, erhalten sie für 500 Mark im Monat",
so Korp. Bislang haben bereits 40
Unternehmen ihre Teilnahme am Virtual Shopping zugesagt. "Das ist ein ungeahnter Erfolg", sagt
Korp, "denn wir wir verkaufen ein doppelt virtuelles Produkt: Eine Site, die
es noch nicht gibt und eine Form der elektronischen Bezahlung, die erst noch aufgebaut werden muß."
Deshalb werde die Shopping-Mal zum Startschuß am kommenden Dienstag auch noch nicht geöffnet
sein, sagt Korp: "Unser Hauptaugenmerk liegt zunächst einmal auf dem Angebot von Bürgerinformationen.
Mit dem Shopping geht es dann 1999 richtig los. Die Unternehmen werden dann mit ihren Shops
Teil einer großen virtuellen ‘Berliner Mall’, die in ihren Einkausmöglichkeiten, der Berliner
Friedrichsstraße in nichts nachstehen soll."
Die individuelle Umsetzung der Auftritte, die technische Betreuung und die Abrechung übernehme
dabei Primus-Online. "Wir geben unseren Kunden außerdem eine Zahlungsgarantie", so Korp. Bereits
zum Start werde es eine virtuelle Kreditkarte geben, die
in den vergangen Monaten im Feldversuch erprobt wurde.
Attraktiv soll der virtuelle Berlin-Shop aber nicht nur für die sogenannten Big Player sein:
"Jedem Malermeister geben wir mit Berlin.de eine prominente Adresse, wo er gut sichtbar und
schnell zu finden ist", preist Ulrich die Vorzüge der digitalen Präsenz auf der Stadt-Plattform an.
Langfristig soll also der elektronische Handel, auf neudeutsch "E-Commerce" genannt, für die
Refinanzierung des millionenteuren Angebots sorgen, denn Abo-Gebühren sind für ein Angebot
der öffentlichen Hand undenkbar: "Berlin.de wird für die Bürger immer
kostenfrei bleiben", so Ulrich.
Doch wofür ein Informationsangebot, das nur eine vernetzte Minderheit erreicht? Schließlich
verfügt heute erst jeder zehnte Berliner über einen privaten Internet-Zugang. Zum einen hoffen
die Planer von Primus-Online auf die Verbreitung der Set-top-Box, die einfacher zu bedienen und
günstiger als ein PC ist. Vor allem aber, und das könnte der wichtigste Beitrag bei der Modernisierung
der Stadt sein, sollen vom kommenden Jahr an in "sozial kontrollierten Bereichen" wie etwa Museen
oder Bibliotheken, Infoterminals aufgestellt werden, über die die Berliner das städtische
Informations-Angebot abrufen können. Begonnen werden soll in einer ersten Testphase mit 80 bis
120 Terminals, zur Jahrtausendwende soll es dann bereits über 500 solcher Info-Kioske im gesamten
Stadtgebiet geben. Möglicherweise allesamt gesponsert von Coca Cola. Aber ein solches Privat-Engagement
zur Verschönerung der Stadt hat schließlich tradition in Berlin: Die ersten Litfaßsäulen wurden
nur zugelassen, weil sich Herr Litfaß, ein Berliner Drucker, verpflichtete, in jede Werbesäule
ein öffentliches Pissoir einzubauen.
Am spannendsten und vielleicht beklemmendsten wird die Vision dort, wo Primus Online auf
die eigene Funktion als politisches Forum verweist: "Wir wollen den Bürgern dieser Stadt ein Angebot
machen, daß sie nicht nur konsumieren, sondern an dem sie auch aktiv partizipieren", sagt Korp. So
soll Berlin.de nicht nur eine Shopping Mall sein, sondern gleichzeitig ein Bürgernetz werden.
Chats und Foren mit Vertretern der Stadt und anderen Berliner Persönlichkeiten sind geplant.
Den Anfang macht Oberbürgermeister Diepgen, der am 21. Dezember paralell bei politik-digital und
Berlin.de einen einstündigen digitalen Dialog bestreiten wird. Konkret wird "nach dem Vorbild der
USA- auch über Abstimmungen per Mausklick nachgedacht, auf neudeutsch "Electronic Voting".
"Sobald die Resonanz entsprechend ist werden wir elektronischen Umfragen als ‘vote of the week‘ durchführen",
verspricht Korp. "In dieser Wahl der Woche sollen die Bürger über aktuelle Fragen zur Lage
in Berlin abstimmen können." Man übertrage diese Idee spaßeshalber einmal vom Netz in die reale Welt:
Die Wahllokale werden in Supermärkten eingerichtet, die Wahlurne neben den Grabbeltisch gestellt.
Sind Abstimmungen, egal ob am Monitor oder auf Papier, bei Privatanbietern wirklich in den richtigen
Händen? Und wie würde ein Bürgerforum befinden, wenn es zum Beispiel darum ginge, die Macht von Primus
Online selber einzuschränken? Würden berlin.de-Bürger gegen Debis votieren, wenn es um einen neuen
Bebauungsplan am Potsdamer Platz ginge? All das sind hoffentlich nur Spekulationen, denn soweit wird
es wohl nie kommen.
Außerdem hat Primus Online genügend andere Herausforderungen zu meistern, die eher in die Fachkompetenz
als Informationsdienst fallen. Kaum geht das neue berlin.de online, schon planen die Entwickler die
Erweiterung ihres Angebots: "Der nächste Schritt geht natürlich in Richtung dreidimensionale Stadt",
beschreibt Korp die Zukunftsperspektive. Noch allerdings hält Projektleiter Ulrich die existierenden
Demoversionen wie beispielsweise von der Berliner Firma echtzeit für "noch nicht ausgereift".
Dennoch ist berlin.de mit echtzeit und anderen Firmen im Gespräch über mögliche Geschäftsmodelle
für eine realistische Nachbildung der Stadt, die dann auch visuell über eine reine Ansammlung
von Internetseiten hinausgehen würde.
Berlin als Teststrecke und Kampfarena der Infosysteme
Keine Stadt der Welt ist derartig gut geeignet, ein Stadtinformationssystem durchzutesten, wie Berlin.
Denn im Berliner Cyberspace tobt der härteste Wettbewerb der Welt. Während Amsterdam oder Helsinki
jeweils nur eine einzige Digitale Stadt entworfen haben, konkurrieren in Berlin mindestens fünf
verschiedene Systeme miteinander: Schon als Christo 1995 den Reichstag verpackte, überraschte die
Kulturbox die Bürger mit einem umfassenden Dienst mitsamt interaktivem Stadtplan
und Hotelregister. Art+com, Die älteste Datenschmiede der Stadt, bastelte schon
damals an einem global erweiterbaren Stadtnavigationssystem namens Terravision. Gleichzeitig gründete
in Kreuzberg eine kleine Aktivistengruppe die Internationale Stadt als einen der ersten Provider der
Stadt und bot der gesamten Kulturszene im Datenraum ein Zuhause, man plante sogar die Vernetzung mit
London, Amsterdam, Paris, Madrid. Die Firma echtzeit spezialisiert sich auf realistische Abbildung der
Stadt in drei Dimensionen und verknüft diese künstliche Welt mit Informationen zu Kultur und Kommerz.
Und 1997 kam dann noch die alberne Spielewelt Cyberlin hinzu, mit einer interaktiven Unterhaltungs- und
Shoppingwelt komplett mit eigener Seifenoper und Deutschlands größtem Internetcafé. Hinter jedem dieser
stadtbezogenen Datenräume steht eine andere Vision und eine andere Geschäftsstrategie, sie alle konkurrieren
miteinander und lernen voneinander. Wer baut die beste virtuelle Stadt? Bislang wurde kein Sieger gekürt,
denn die Bürger und selbst die Medien waren bislang indifferent. Die Internationale Stadt, die antrat,
eine neue, bessere Form des demokratischen Gemeinwesens zu erfinden, löste sich 1997 sogar frustriert
wieder auf. Doch seit berlin.de den Markt an sich reißen will, kommt eine neue Dynamik in die Szene.
Neue Allianzen bilden sich, lieblose Seiten werden aufgeputzt, Daten, die jahrelang auf Festplatten
schlummerten, werden Internetfähig gemacht.
Als erster Dienst nahm Berlin Online, das zeitungsorientierte Informationsangebot
des Gruner + Jahr- Verlages, die Herausforderung von berlin.de an, putzte seine Seiten auf und will nun
sogar mit Plakaten werben – in der steinernen, realen Stadt. Damit kündigt sich in Berlin kündigt ein
Kräftemessen zweier Giganten aus unterschiedlichsten Branchen an: das Verlagshaus Gruner+Jahr gegen die Auto-
und Nahrungsmittel-Multis Debis-Metro.
Der Größenwahn hat dabei System, denn all den kleinen, wenn auch feinen Anbietern fehlt das notwendige
Finanzpolster: Erst in drei bis fünf Jahren werde sich berlin.de amortisieren, sagt Bernd Rumscheid, "man
muß schon einen langen Atem mitbringen, um solch ein System aufzubauen." Während Gruner + Jahr sein Angebot
durch den Erlös der gedruckten Auflage finanziert, richtet sich die größte Hoffnung bei Primus Online auf
den Export – Berlin ist nur das Testfeld, eine Art Schaufenster, um auch andere Regionen als Kunde zu
gewinnen. Mit dem Land Schleswig-Holstein ist sich das Konsortium unter Führung der debis bereits vor
vier Wochen einig geworden: Im kommenden Jahr wird unter der Adresse www.schleswig-holstein.de eine
weitere Plattform für Handel und Information geschaffen, nach dem Vorbild von berlin.de. Außerdem
befindet sich Primus-Online in Verhandlung mit den Hansestädten Bremen und Hamburg. "Wir denken ebenfalls
intensiv über ein solches Public-Private-Partnership-Modell nach", erklärt Eike Buba, Projektleiter
von Hamburg Online. Berlin wird also zum Testfall für viele Regionen. Die Modelle, die hier miteinander
konkurrieren oder kooperieren, tragen nicht nur einen Wettstreit um den ohnehin kränkelnden Berliner
Markt aus, sondern vielmehr um die Zukunft der digitalen Stadt selber: wie das ungehemmte Aufeinandertreffen
der Verwaltung, der Medien, der kommerziellen Interessen und der Bürgerinteressen im multimedialen
Zeitalter aussehen wird. Ob die Stadt tatsächlich Zaungast in der digitalen Stadt sein muß, wie sie
ihre Interessen wirksam in einer Public-Private-Partnership vertreten kann, und ob das Modell der
digitalen Stadtverwaltung überhaupt angenommen wird.
Ausblick: berlin.de braucht die Konkurrenz – und umgekehrt
Berlin.de ist trotz aller politischen Einwände ein wichtiger Prüfstein für die städtische Öffentlichkeit
im Internet. Durch die Exportstrategie versucht Primus Online, die Investitionskosten, die in Berlin anfallen,
in anderen Regionen wieder zu erwirtschaften. Anders scheint es nicht zu gehen, schließlich waren bislang
fast alle Stadtinformationsdienste heftig subventioniert oder aber ein Flop: die Internationale Stadt ging
1998 an ihren zu hohen Idealen zugrunde und selbst der mächtige Springer-Konzern war zu ungeduldig und mußte
seinen vollmundig angekündigten Dienst "Go-On" schon nach kurzer Zeit wieder aufgeben. Doch dadurch, daß
Primus-Online alle Hoffnungen auf das Referenzobjekt namens berlin.de setzt, muß berlin.de sich schnell
und flexibel an neue Anforderungen anpassen, sonst sind auch die erhofften Einnahmen aus Hamburg und
Bremen in den märkischen Sand gesetzt. Zwar wird in berlin.de der Stadtbürger auf seine Funktion
als Kunde reduziert, aber der Kunde ist König. Und wird sich gehörig Gehör verschaffen.
Noch ist berlin.de zwar das digitale Zerrbild einer kommerzialisierten Privatstadt und eines Neo-Feudalismus.
Aber das wird sich zwangsläufig verändern, durch Widerstände in den Behörden, durch Nachverhandlungen mit
dem Senat, durch den Konkurrenzdruck anderer Anbieter und vor allem: durch die freie Meinungs- und
Unmutsäußerung der Netzbürger. Berlin.de wird entweder ein Anbieter unter vielen sein – oder aber,
wenn es keine konkurrierenden Systeme gäbe, die Idee der digitalen Stadt so gründlich demolieren,
daß es Jahre dauern würde, diesen Markt neu zu kultivieren. Noch rangiert berlin.de ohnehin weit
abgeschlagen von den Zeitungsangeboten von Morgenpost, Berlin Online und selbst dem Kreuzberger
Stadtmagazin zitty. Und dieses Umfeld ist wichtig. Denn wenn Senat und Bürger nicht ständig vor
Augen gehalten bekommen, wie andere digitale Gemeinwesen sich organisieren, stünde zu befürchten,
daß das zentralistische, kommerzielle Konzept von berlin.de irgendwann einmal als die einzige und
beste aller Online-Welten gelten würde. Eine solche Welt aber würde schnell veröden wie der kahle
Showroom von Daimler-Chrysler in der Friedrichstraße. Und alle würden denken, daß dieser Mißerfolg
nicht dem Anbieter anzulasten sei, sondern dem Internet selber, der digitalen Stadt als solcher.
Mit dem Start von berlin.de steht also viel auf dem Spiel. Weit mehr als nur die Glaubwürdigkeit
der Berliner Stadtverwaltung und die Millionenschweren Investitionen eines Konsortiums. Berlin.de
hat durch seinen eingängigen Namen einen Symbolwert auf sich gezogen, der weit über das
eigene Projekt hinausgeht. Wenn berlin.de floppt, untergräbt das die Glaubwürdigkeit einer ganzen
Branche: die der Stadtinformationsanbieter. Paradoxerweise hängt also die Anbietervielfalt der
Berliner Stadtinformationssysteme mit davon ab, daß berlin.de seine Aufgabe als dümmlicher
Shopping- und Verwaltungs-Stadtteil erfüllt, ähnlich der Daimler City am Potsdamer Platz.
So teilt auch Claudia Alsdorf von echtzeit diese Bedenken, voll rührender Sorge um die
übermächtigen Kollegen Konkurrenten im Debis-Hochhaus: "Wenn berlin.de kein Erfolg wird,
wäre das eine Katastrophe nicht nur für Berlin, sondern für generell für das Ziel, alle
Großstädte im großen Stil online zu bringen."