Castor-Gegner protestieren offline
– Globalisierungsgegner kämpfen auch im Netz

Anläßlich der Weltklimakonferenz in Bonn und des G8-Gipfeltreffens
in Genua ist das mediale Interesse an den "Globalisierungsgegnern"
wieder erwacht. Der Widerstand formiert sich in neuartigen, internet-basierten
Protestformen. In der Online-Demonstration der Kampagne "deportation.class"
gegen das Internetangebot der Deutschen Lufthansa am 20. Juni erfuhr diese Art
des politischen Widerstandes vorerst ihren nationalen Höhepunkt.

Der breit angelegte Protest in Form eines Virtuellen Sit-Ins konnte zwar nicht
die erwartete Konsequenz erzielen – den Server der Lufthansa für eine gewisse
Zeit vor unlösbare Aufgaben zu stellen, da sich die technische Abteilung des
Konzerns offenbar sehr gut auf den digitalen Angriff vorbereitet hatte. Dennoch
zeigt die Kampagne auf, welches Potenzial in derartigen virtuellen Meinungsäußerungen
steckt.

Diese Form des aktiven Protestes wurde bei der elektronsichen Belagerung des
Konzern-Portales von Lufthansa.com nicht zum ersten Mal angewandt: mexikanische
Regierungs-Webseiten wurden mit Hilfe Virtueller Sit-Ins besetzt, interne Datenbanken
des Weltwirtschaftsforums 2001 in Davos/Schweiz eingesehen und die Konferenz
der World Trade Organization (WTO) 1999 in Seattle/USA störten Globalisierungsgegener
mit digital vorbereiteten Aktivitäten. Betrachtet man den vermehrten virtuellen
Widerstand genauer, wird deutlich, dass sich die internationalen Initiativen
zur Forcierung des elektronischen Protestes zumeist auf die Klientel der Anti-Globalisierungs-Aktivisten
zurückführen lassen und ökologische Interessengruppen wie die Castor-Gegner
eine Verlagerung des Protestes auf das Internet bisweilen scheuen.

Aber wo liegen die Ursachen für die digitale Zurückhaltung des Atomgegner?
Beide Protestbewegungen bedienen sich zunächst aus sehr ähnlichen Motiven
des Mediums Internet und nutzen es auch zu gleichen Zwecken . Sowohl der Gruppe
von Globalisierungs- und Kapitalismusgegnern von Indymedia.org
als auch Castor-Gegnern wie x-tausendmal
quer
dient das Internet zur internen Kommunikation, der Vorbereitung und
Organisation politischer Aktionen und der Einrichtung eines spezifischen Forums
für Debatte, Diskussion und Meinungsbildung, obschon es freilich Differenzen
in puncto Aktualität, Übersicht und Interaktivitätsgehalt gibt.
Bei Castor-Gruppen allerdings bleibt das Internet selbst als Raum für politisch
motivierte Protestaktionen bislang unbeachtet. Ob an dieser Stelle ein ideologischer
Fundamentalismus das Motiv ist, sich gegen Atomstrom, Technisierung, globale digitale
Vernetzung und multimediale Formate zu wehren? Oder existieren ganz pragmatische
Gründe für die Abstinenz von Online-Protesten zu ökologischen Themen? Denkbar.
Im Netz finden Castor-Initiativen kaum angemessene Locations wie Konzern- oder
Regierungsportale, die eine attraktive Zielscheibe für erfolgreiche Online-Demonstrationen
abgeben würden. Gewiss könnten diese Aktivisten sich der technisch-kontrollierten
Castor-Transporte virtuell annehmen, doch scheinen altbewährte Protesttugenden
bei den Demonstranten eine breitere Akzeptanz und Erfolgsperspektive zu haben
als mögliche digitale Angriffe. So favorisieren sie zur Realisierung ihres Projektzieles
– dem Stopp der Transporte von atomaren Brennstäben durch Deutschland und Europa
– Beton und Handschellen, traditionelle Protestformen: Steine und "Schienenspaziergänge",
Sitzblockaden und Polizeigewalt statt virtueller Sit-Ins, Reload-Software und
Online-"Hacktivismus".

Doch war nicht gerade die Paarung aus realem und virtuellem Aktionismus entscheidend
für den Erfolg der Globalisierungsgegner anläßlich großer Konferenzen
wie in Seattle oder Prag?

Sicher ist, dass die Erfolgsaussichten politischer Projekte durch einen Verzicht
auf multimediale Anwendungen und virtuelle Protestformen nicht verringert werden.
Die aktive Nutzung digitaler Ressourcen bietet jedoch neben einer großen medialen
Aufmerksamkeit auch Chancen, das Protestziel zu erreichen, da der Protest im
Internet für den Gegner zunächst die Entwicklung von anwendungsfähigen Verteidigungsstrategien
erfordert. Daher verzichten internationale Protestszenen nicht auf das Medium
Internet als Politikum, sondern verleihen ihren Forderungen virtuell Nachdruck.

Die Erfolge der Umwelt-Aktivisten bei der Weltklimakonferenz in Bonn und der
Globalisierungsgegner auf dem G8-Gipfeltreffen in der norditalienischen Hafenstadt
Genua hängen letzlich von der Kombination des realen und digitalen Widerstands
ab, genau wie der Einsatz der örtlichen Ordnungskräfte.