Stellen Sie sich vor, am 1. Juli ist Wahl, und keiner geht hin. Weil alle Wähler einfach per Mausklick ihre
Stimme abgeben.
Bis zur echten Bundestagswahl vergehen zwar noch zwei Jahre, im Internet wird aber schon in wenigen
Wochen abgestimmt. Gewählt wird der erste deutsche Internetkanzler.
Auf den Seiten von dol2day.com präsentieren sich seit Mitte Mai die virtuellen Parteien und die Aspiranten
auf eine Kanzlerkandidatur. Die meisten Parteien haben sich in Anlehnung an die Bundestagsparteien formiert,
es gibt die Grünen, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die CDI, die Christdemokratischen Internetpartei.
Mitglied werden kann jeder interessierte User. Selbst einer Parteigründung steht wenig im Weg, die Politpioniere
brauchen lediglich 50 Stimmen, die ihre Partei unterstützten.
In der nächsten Runde geht es dann auf Bimbes-Jagd. Die Internet-Kandidaten sammeln Punkte, die den
Wählern zeigen, wie engagiert und zuverlässig sie sind. Bimbes gibt es für die Anwesenheit im Netz,
für Diskussionsbeiträge und für die Anregung von Themen, die in Abstimmungen behandelt werden.
Wie im echten Leben müssen die Netz-Politiker auch ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen. Dafür
haben die Macher von dol2day ein System entwickelt, dass Vertrauenspunkte zählt. Auf Grund der Äußerungen
und Veröffentlichungen der Kandidaten können andere Parteimitglieder ihr Vertrauen aussprechen oder entziehen.
Bimbeskönig ist zur Zeit Marcel aus Eisenach, der für "Sozialisten ins Internet" als Lucky kandidiert.
Auf seiner Seite erfährt man nicht nur, dass Lucky ein fröhlicher Hutträger in Partystimmung ist, sondern
bereits 92 Abstimmungen zu politischen Fragen initiiert hat, sich mit 156 Beiträgen an Diskussionen beteiligt
hat und ihm darüber hinaus noch 39 Personen ihr Vertrauen schenken. Ob Lucky, oder aber beispielsweise
Andreas von der IDL (Internet den Liberalen) das Rennen macht, entscheiden wie im echten Wahlleben die
Wähler. Nachdem während der Wahlkampfphase vom 21. bis 30. Juni die ISDN-Leitungen glühen werden,
kann dann jeder, der auf die Seiten von "democracy online 2day" geht, am 1. Juli seine Stimme abgeben.
Was wie ein großes lustiges
Polit-Monopoly aussieht, wird von einem hehren Gedanken beflügelt. Die
Macher von dol2day, eine Gruppe von Studenten aus Aachen, wollen mit
ihrer Politiksimulation das Interesse an politischen
Auseinandersetzungen stimulieren. Das Internet gibt ihnen dabei die
Möglichkeit, basisdemokratisch und flexibel zu kommunizieren. politik
ist dann nicht nur digital sondern auch direkt. Jeder kann sich hier
politisch engagieren und über Politik kommunizieren, weder ein
Bundestagsmandat noch eine echte Parteimitgliedschaft sind nötig. Die
Motivation zum politischen Engagement soll sich über den Spass an dem
Kanzlerspiel einstellen.
Das Konzept geht auf: Seit dem Launch der Seiten am 15. Mai haben sich knapp 500 User in einer Partei
organisiert. Die meisten der Aktiven sind zwischen 19 und 25 Jahre alt und studieren. Dabei sind es keineswegs
nur Studenten der Politikwissenschaften, die sich hier im virtuellen Wahlgeschehen üben, vielmehr beteiligen
sich auch Mediziner, BWLer oder Informatikstudenten. Die Parteivorsitzenden nehmen ihre Internetpräsenz ernst:
durchschnittlich 2 Stunden täglich sind die Online-Demokraten im Netz aktiv, berichtet einer der Initiatoren des
Projektes, Andreas Hauser.
Die Wahl im Internet, als Vision bisher nur Gegenstand von ambitionierten Politikerrunden, wird hier schon
einmal geprobt. Der Internetkanzler wird aber nicht nur per Mausklick ermittelt, er muss den Umgang mit dem
Medium beherrschen und wird nach seiner Wahl auch in ein Online-Kanzleramt einziehen. Auf dieser Webpage
wird der Kanzler dann weiterhin politische Themen zur Diskussion vorschlagen und Abstimmungen durchführen.
Auch wenn er keine Regierungsgewalt hat, hofft das dol2day-Team, dass die Offline-Politik auf den Internetkanzler
aufmerksam wird. Zum einen weil er die demokratischen Möglichkeiten, die das Internet bietet, transparent
macht, zum anderen weil er als Stelle fungiert, die politische Meinungen und Themen der interessierten
Öffentlichkeit bündelt.
Bei allem Spaß verfolgen die Online-Demokraten ein hochgestecktes Ziel: bei der nächsten realen
Bundestagswahl wollen sie eine Internetpartei aufs Wahlkampfparkett schicken. Eins ist jetzt schon klar:
im politik-digital Wahlkampftest werden die dol2dayer eine Menge Bimbes für ihren Webauftritt bekommen.