PiratenViele Mutmaßungen gab es nach dem Sieg der Piraten in Berlin über ihren Umgang mit der alltäglichen Parlamentsarbeit. Heute Vormittag stand die erste Bewährungsprobe an. Das neue Abgeordnetenhaus konstituierte sich und sogleich ging es um Geschäftsordnungen, Organklageverfahren und den mühevollen Parlamentsalltag. politik-digital war bei der Sitzung dabei.

 

Wahrscheinlich hatte sich der Neuparlamentarier Alexander Spies vorgenommen, es einfach genauso zu machen, wie es ohnehin alle von einer Partei mit dem Namen „Piraten“ erwartet hatten. Ein kräftiges „Ahoi“ schallte durch den Plenarsaal im Gebäude des ehemaligen Preußischen Landtags, als die knapp 150 Abgeordneten der Reihe nach namentlich aufgerufen wurden und mit einem schlichten „Ja“ antworten sollten. Aufgerufen übrigens von einem mit gleich zwei Piraten besetzten Tagungspräsidium. Den beiden Jung-Angeordneten Susanne Graf und Heiko Herberg oblag gemeinsam mit dem Alterspräsidenten Uwe Lehmann-Brauns (CDU) und zwei weiteren Abgeordneten die Leitung der konstituierenden Sitzung. Lehmann-Brauns machte sich in seiner Eröffnungsrede unter Piraten-Anhängern vermutlich nicht nur Freunde, als er die neue Fraktion zwar im Parlament willkommen hieß, sodann aber davor warnte, dass ein Übermaß an Transparenz dem politischen Betrieb auch Schaden zufügen könne.

Nach den durch Landesverfassung und Geschäftsordnung vorgegeben Formalia machten sich die Piraten sogleich daran, letztere in ihrem Sinne zu modifizieren. So forderten sie, dass auch ihnen als neue Fraktion eine Repräsentanz unter den Vizepräsidenten gewährt wird. Eine veritable Geschäftsordnungsdebatte war erst kurzfristig durch einen Antrag der neuen Fraktion in Gang gebracht worden. In der Debatte versuchten die Piraten jedoch vergeblich, den Status der kleinen Fraktionen und des einzelnen Abgeordneten aufzuwerten. „Wir wollen keine Sonderstellung, sondern Gleichberechtigung“. Mit dieser Forderung eröffnete der Piraten-Abgeordnete Fabio Reinhardt die Debatte, in der die Piraten unter anderem einen eigenen Vizepräsidentenposten einforderten.
Der SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier lieferte in der Auseinandersetzung einen Vorgeschmack darauf, wie Debatten über und mit den Piraten zukünftig aussehen könnten, und zitierte in seinem Redebeitrag aus dem Piraten-Pad, dessen Inhalt er sich („ich habe noch kein iPad“) zum Zwecke der Geschäftsordnungsdebatte allerdings ausgedruckt hatte. Fraktionsübergreifend machten die Redner in dieser ersten Debatte der 17. Legislaturperiode ihren Respekt und ihre grundsätzliche Kooperationsbereitschaft mit den 15 neuen Parlamentariern deutlich. Die Tatsache, dass die Piraten ihrerseits keinesfalls gewillt sind, eine Fraktion politisch unbedarfter Außenseiter zu bleiben, verdeutlichte die Drohung von Pavel Meyer. Die derzeitige Geschäftsordnung, so der Abgeordnete, verstoße gegen Landesrecht und das Grundgesetz, so dass man eine Organklage prüfen werde.

Mit ihren Anträgen hatten die Piraten an ihrem ersten Tag im Parlament zwar keinen direkten Erfolg. Mit Sicherheit lässt sich nach dem heutigen Tag auch noch nicht sagen, wohin die Reise in den kommenden fünf Jahren geht.

Unter den zahlreichen Berliner Pressevertretern und (inter-) nationalen Fernsehjournalisten, die auf einer Tribüne des Abgeordnetenhauses die erste Plenartagung verfolgten, wurde eine Einschätzung auffällig häufig geäußert: „Die Grünen haben auch mal so angefangen“. Eine in Form und Gestus gänzlich neue Gruppierung hat mit dem heutigen Tag auf Landesebene die parlamentarische Bühne betreten, und die etablierten Parteien scheinen gewillt, sich mit der neuen Fraktion auseinanderzusetzen – das wurde für Beobachter der heutigen Parlamentssitzung mehr als einmal deutlich. Zumindest dies wäre dann ein signifikanter Unterschied, verglichen mit dem Beginn der grünen Parlamentsarbeit vor gut 30 Jahren.

Wahrscheinlich werden die Piraten auch in den kommenden Plenarsitzungen mit Kopftüchern, Latzhosen und Krawatten am Handgelenk für Furore sorgen. Ein (politischer) Kulturschock wird, so viel steht seit heute fest, aber nicht daraus folgen. Der neugewählte Abgeordnetenhauspräsident Ralf Wieland brachte es in seiner Eröffnungsrede auf den Punkt, als er – mutmaßlich mit Blick auf aus der Sitzung twitternde Neuparlamentarier – festhielt „Die Würde des Hauses bemisst sich nicht an tradierten Ritualen“.