Lobbyismus und elitäre Absprachen gefährden die Zukunft des Internet in der EU
Das Erstarken autokratischer Strukturen, das schwindende Vertrauen in die demokratischen Strukturen und die Polarisierung der Gesellschaft sind Phänomene, die oft auf eine gemeinsame Ursache zurückgeführt werden: die Rolle der Sozialen Medien, und hier vor allem die Funktion der algorithmischen Auswahl von Inhalten. Mit dem Digital Service Act (DSA) hätte die EU die Gelegenheit gehabt, dieses Problem von Grund auf anzugehen. Doch es scheint, dass dieser Versuch gescheitert ist. Nachdem das EU-Parlament einen vielversprechenden Vorschlag für das Gesetz vorgelegt hatte, setzten sich Ende April 2022 im sogenannten “Trilog“, dem Abstimmungsprozess von EU-Parlament und Rat der Europäischen Union unter Moderation der EU-Kommission, vielfach die Interessen der Internetwirtschaft und der Regierungen durch. Das Ergebnis – und die Art und Weise, wie es zustande kam – sind Wasser auf die Mühlen der Kritiker und politischen Gegner des Staatenbundes.
Was enthielt der Entwurf des EU-Parlaments?
Der im Januar verabschiedete Entwurf baute auf einer Vorlage des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) auf und war um einige wichtige Elemente erweitert worden. Dazu zählten etwa ein Recht zur anonymen Nutzung, auf Verschlüsselung oder auf eine Ablehnung von Überwachsungswerbung (“do not track”). Die NGO Civil Liberties Union for Europe bezeichnete den Entwurf als einen “wichtigen Sieg für das Recht auf freie Meinungsäußerung”.
Von diesen Vorschlägen ist nicht viel übriggeblieben.
Das Problem des "Überwachungskapitalismus" bleibt ungelöst
Die Abstimmungen zum DSA waren von starken Interessen der Lobbygruppen der sozialen Plattformen und Internetfirmen geprägt. Sie schützen damit ihr Geschäftsmodell, das auf zwei Pfeilern basiert: einerseits der gezielten Werbung (aufbauend auf Anwender-Profilen), andererseits der möglichst starken Nutzung der Plattformen durch diese Nutzer, angefeuert durch algorithmische Selektion der aufmerksamkeitsstärksten Inhalte.
Während der erste Teil dieser Gleichung zwar problematisch, aber durch Datenschutzgesetze wie die DSGVO in der EU in seinem Risiko abgemildert ist, birgt der zweite Teil sozialen Sprengstoff. In Forscherkreisen wird diskutiert, welche Auswirkungen es auf die Gesellschaft hat, dass dem Anwender algorithmisch gesteuert stets solche Inhalte präsentiert werden, die ein möglichst hohes Erregungspotenzial bieten. Ergebnisse legen nahe, dass dies besonders gut funktioniert mit solchen Botschaften, welche Angst oder Wut erzeugen. Gleichzeitig setzen Feedback-Prozesse ein, wodurch ein Anwender immer extremere Botschaften einer bestimmten Art bevorzugt. Schließlich sorgen Netzwerkeffekte dafür, dass sich durch diese Art der Steuerung und die Möglichkeiten der Vernetzung abgeschottete Gruppen bilden – ein Prozess der Polarisierung und Radikalisierung tritt ein. Plattformen ohne diese algorithmische Wahl zeigen ein geringeres Maß an Polarisation. Zusätzlich angefeuert wurde dieser Prozess in der Vergangenheit durch staatliche Akteure, die diese Faktoren gezielt ausnutzten und gezielt auf die Destabilisierung der freiheitlichen Demokratien hin arbeiteten. Nicht zuletzt deswegen bezeichnen Anastasia Kozyrev, Philosophin und Kognitionspsychologin, und der Kognitionspsychologie Stephan Lewandowsky den Kampf um eine transparentere, weniger manipulative Medienwelt als “die entscheidende politische Schlacht des 21. Jahrhunderts.”
Wie gut wird der DSA diesem Anspruch gerecht? Zwar enthält der finale Entwurf eine Verpflichtung der großen Plattformen, regelmäßig Rechenschaft abzulegen und Maßnahmen gegen Disinformation zu ergreifen. Auch soll ein Notfallmechanismus der EU in Krisenfällen zeitlich begrenzt die direkte Einflussnahme ermöglichen. Zudem sollen die Plattformen auf Hinweise von staatlich ernannten, sogenannten “Trusted Flaggers”, hin illegale Inhalte entfernen.
Ein weiterer Hoffnungsschimmer: nicht mehr die nationalen Regierungen werden zuständig sein für die Regulierung der großen Plattformen (was es den Lobbyisten leichter machte), sondern die EU–Kommission selber –die könnte den Einfluss der Interessengruppen dieser Internetgiganten zumindest ein wenig einschränken.
Ein Lichtblick auch ist die Vorgabe, dass die großen Plattformen den Anwendern einerseits Auskunft über ihre Targeting- und Empfehlungsmethoden geben müssen und andererseits eine Möglichkeit einräumen, für sich einen Empfehlungs-Algorithmus zu wählen, der nicht auf dem durch Tracking erstellten Profil beruht. Doch ein wesentlicher Teil des Tracking- und Targeting-Markts, nämlich die Daten-Broker und Profiler außerhalb der Plattformen, bleibt davon unberührt. Auch das angestrebte Recht auf “Do not track”, also die Ablehnung aller Tracking- und Profiling-Aktivitäten durch den Anwender (etwa durch eine Browser-Einstellung), ist nicht vorgesehen.
Was bedeutet der DSA für dezentrale soziale Plattformen wie Mastodon?
Von Interesse sind die Vorgaben des neuen Gesetzes in puncto Moderation und Löschung von Inhalten. Hier müssen wirksame Wege zur Meldung und ein Prozess zur schnellen Bearbeitung eingerichtet werden, sowie eine transparente Begründung der Entscheidung. Pikanterweise trifft dies auf soziale Medien aller Größenordnungen zu. Auch die dezentrale Plattform Mastodon ist davon betroffen, die auf einer Föderation zahlreicher kleinerer Instanzen basiert, die teils von Privatpersonen oder kleinen Vereinen betrieben werden. Auch sie müssen Wege finden, den gesetzlichen Ansprüchen trotz oftmals minimaler personeller Ressourcen gerecht zu werden.
Wann tritt der DSA in Kraft?
Das Inkrafttreten erfordert eine pro-forma-Zustimmung des EU-Parlaments, woraufhin der fertige Gesetzestext im Amtsblatt der EU erscheinen kann und nach 20 Tagen in Kraft tritt. Es bleiben dann eine Übergangsfrist von insgesamt zwölf Monaten, bis er wirksam wird. Damit wird Anfang 2024 gerechnet.
Unser Autor hat zu diesem Thema mit MdEP Patrick Breyer (Piraten) gesprochen. Das Interview in voller Länge finden Sie hier.
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Text: CC-BY-SA 3.0