Ausgangssperren, Kontaktverbot, Überwachung von Bewegungsprofilen – die Covid-19-Pandemie hat zu erheblichen Einschränkungen der Grundrechte geführt. Nicht weniger bedenklich ist die Art und Weise, wie schnell und widerstandslos die sozialen Medien zu einem Sprachrohr der Behörden geworden sind. Sie verbreiten deren Botschaften massenhaft, unterdrücken in ihrem Auftrag Inhalte und greifen sogar in Messenger-Unterhaltungen ein. Ein Plädoyer gegen die Intransparenz algorithmischer Zensur.
Die Covid-19-Pandemie hat zu erheblichen Einschränkungen der Grundrechte geführt, in Deutschland ebenso wie im Rest der Welt. Die Gründe dahinter sind nachvollziehbar: nach dem aktuellen Kenntnisstand steht das Leben von Millionen Menschen auf dem Spiel. Um die ungebremste Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, hat die Bundesregierung Gesetze erlassen, die einige der Grundrechte aus dem Grundgesetz, Artikel 1 bis 20, außer Kraft setzen: so etwa die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung. Nicht weniger einschneidend ist aber eine Maßnahme, die nicht im Text des Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht enthalten ist. Es geht um die Monopolisierung der Information über das Corona-Virus und die Unterdrückung von Veröffentlichungen, die den Zielen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Pandemie zuwider laufen.
Freiwillige Zensur der Social Media Unternehmen
Die Basis dafür ist der Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation, eine freiwillige Verpflichtung der sozialen Medien aus dem Oktober 2018. In ihr verpflichten sie sich zu einer Reihe von Maßnahmen, etwa die Entfernung von Scheinkonten und die Begrenzung der Sichtbarkeit von Websites, die Falschnachrichten verbreiten. Im Rahmen dieser Vereinbarung haben die sozialen Netzwerke nun begonnen, tiefe Einschnitte in die Kommunikation ihrer Anwender vorzunehmen. Sie blockieren oder entfernen Posts, deren Inhalte von den Regierungen oder NGOs als Falschinformationen bezeichnet werden: “Die Inhalte, die wir entfernen, werden uns von führenden globalen Gesundheitsorganisationen und lokalen Gesundheitsbehörden gemeldet”, so ein Facebook-Sprecher.
Automatisierte Zensur im Namen der Regierungen, ohne Recht auf Einspruch
Die Zensurmaßnahmen sind dafür gedacht, Schaden von Menschen fernzuhalten. Sie sollen Werbung für schädliche oder wirkungslose Heilmittel für Covid-19 bekämpfen oder Behauptungen über die Krankheit bekämpfen, welche geeignet wären, die staatlichen Maßnahmen zu untergraben. Nun werden nur die extremsten Vertreter des Rechts auf freie Rede fordern, dass das Heil von Menschen diesem Recht nachrangig ist. Eine sorgsame Abwägung der Grundrechte wird dagegen zu dem Ergebnis kommen, dass angemessene Einschnitte in das Recht der freien Rede zugunsten des Rechts auf körperliche Unversehrtheit zulässig sind. Doch der Teufel steckt im Detail. Was bedeutet “angemessen”? Die Pandemie ist ein Forschungsgebiet mit vielen Unbekannten. Vieles ist nicht als Tatsache gesichert, was als Begründung der Maßnahmen dient. Welche Zweifel an der Faktenlage sind also gerechtfertigt, welche gelten schon als Desinformation, wo endet die zulässige Kritik an den Maßnahmen der Regierung? Diese Entscheidung ist eine, die sehr stark kontextabhängig ist. Es benötigt Fachwissen und Fingerspitzengefühl, diese Fragen zu beantworten. Leider können die sozialen Netzwerke diese sorgfältige Abwägung nicht leisten. So erklärt Facebook: “Mit dünner besetzten und räumlich getrennten Teams [infolge der Pandemie] werden wir verstärkt automatisierte Technologien einsetzen, um unzulässige Inhalte und Profile zu erkennen.” Mit anderen Worten: der Technologiekonzern verlässt sich vermehrt auf Algorithmen der Texterkennung, um Schädliches von Erlaubtem zu unterscheiden. Mit absurden Ergebnissen.
Brotbacken mit Obama als schädlicher Inhalt?
So berichten Facebook-Nutzer*innen etwa davon, dass die Plattform ihnen scheinbar harmlose Posts untersagt. So hat Facebook das Teilen des Artikels “Stress baking more than usual” der New York Times zeitweise unterbunden. Der an sich harmlose Text enthält einige politisch relevante Begriffe wie “Corona”, “Obama” und “Hillary Clinton”. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Mischung genug war, um eine algorithmische Sperrung auszulösen. Bereits einige Tage zuvor hatte Facebook Fehler in der algorithmischen Zensur eingestanden und für behoben erklärt. Ein Facebook-Sprecher konnte auf unsere Anfrage hin die jüngste Blockade mehrere Tage später nicht nachvollziehen: “Wir konnten keine Auffälligkeiten feststellen und können den Artikel auf Facebook teilen.”
Nicht nur, dass der Algorithmus scheinbar unsauber arbeitet und seine Ergebnisse nicht einfach nachvollzogen werden können. Ein normaler Anwender hat aktuell nicht die Möglichkeit, eine fälschliche Sperrung zu reklamieren. “Wenn wir Inhalte entfernen, können Personen normalerweise eine erneute Überprüfung verlangen […] Angesichts unserer reduzierten Belegschaft [werden wir] Inhalte voraussichtlich nicht ein weiteres Mal überprüfen”, so der Facebook-Sprecher.
Eingriff in die private Kommunikation
Auch Whatsapp und der Facebook Messenger, beides Produkte des Facebook-Konzerns, unterdrücken in der aktuellen Situation Inhalte, die den offiziellen Richtlinien zuwiderlaufen. Durch verschiedene Maßnahmen hat Facebook erreicht, dass das Volumen weitergeleiteter Nachrichten um ein Viertel zurückgegangen ist. Genaue Zahlen, wie viele Nachrichten so unterbunden wurden, liegen dem Konzern nicht vor. Gleichzeitig verbreitet das Social Media Unternehmen massiv Veröffentlichungen der betreffenden Behörden. Insgesamt 100 Millionen Mal wurden “verifizierte und vertrauenswürdige Informationen [der] Weltgesundheitsorganisation (WHO) und mehr als 20 nationale[r] Gesundheitsbehörden” verbreitet. Auflagezahlen, die jedes Medienimperium vor Neid erblassen lassen.
Bestimmen auch Orban, Trump, Johnson und Bolsonaro?
Die sozialen Medien sind aktuell weniger ein Kanal des freien Austauschs, denn ein Massenmedium mit einer klaren Flußrichtung der Information von oben nach unten. Sie unterscheiden sich dabei wenig von Funk und Fernsehen. Mehr noch als zuvor werden sie damit interessant als Werkzeug für autoritäre Politiker, um demokratische Strukturen zu untergraben. Jetzt haben die Autokraten dieser Welt möglicherweise einen Weg erhalten, auch die sozialen Medien für diesen Zweck zu verwenden. Die Vorliebe des US-Präsidenten für Twitter ist bekannt, und es scheint, als ob ihm das soziale Netzwerk keine Beschränkungen auferlegt. So steht ein Tweet Trumps vom 21. März weiterhin online, in dem er den Wirkstoff Hydroxychloroquin als Kur für Covid-19 empfiehlt. Dies ist in medizinischen Kreisen umstritten. Trump schadet damit Patienten, die das Medikament für die Behandlung von rheumatoider Arthritis und des systemischen Lupus Erythematodes benötigen und nun aufgrund der plötzlichen Nachfrage nicht mehr erhalten können. Ebenso gefährdet dieser Hinweis das Leben von Menschen, die Trump beim Wort nehmen. So etwa zwei Menschen aus Nigeria, die sich mit dem Wirkstoff tödlich vergiftet haben. Die Richtlinien von Twitter würden diese Art von Tweet ausdrücklich verbieten. Sie untersagen etwa:
“Beschreibung angeblicher Heilmittel für für COVID-19, die nicht unmittelbar schädlich, aber bekanntermaßen unwirksam sind, [oder] Beschreibungen von schädlichen Heilmitteln oder Schutzmaßnahmen, die bekanntermaßen unwirksam sind.“
Diese Richtlinien wurden etwa angewandt, um Botschaften ähnlichen Inhalts von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro zu löschen. Es liegt nahe, dass Twitter für Trump einen anderen Maßstab anlegt – schließlich könnte er als Staatschef des Landes, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat, direkte Strafmaßnahmen anordnen. Zudem hat mit dem Milliardär Paul Singer jüngst ein Unterstützer des US-Präsidenten einen großen Anteil an Twitter erworben. All das macht es dem Kurznachrichtendienst schwierig, den öffentlichen Diskurs als unabhänige Plattform zu gewährleisten. So vermutet die taz, dass etwa der Kampf gegen rechtradikale Inhalte und Nutzer zum Erliegen kommen könnte.
Eine besorgniserregende Intransparenz der Maßnahmen
Den Regierungen in den USA, in Russland, China und anderen wird aktuell vorgeworfen, die Fakten zur Pandemie zu verfälschen, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Weder Facebook noch der Google-Konzern oder Twitter beantworteten Fragen, ob und wie sie politische Beeinflussung durch Regierungsquellen verhindern. Man darf darüber streiten, ob die aktuelle Lage es rechtfertigt, die öffentliche Diskussion so massiv zu beschneiden, wie es aktuell auf Facebook und anderen sozialen Medien geschieht. Man sollte selbst dann, wenn man diese Frage bejaht, mit größtem Misstrauen überprüfen, ob Regierungen oder andere Interessengruppen diese Zensur nicht für eigene Zwecke nutzen. Aktuell gibt es keine unabhängige Stelle, die darüber wacht. Die sozialen Medien haben dafür keinen Weg vorgesehen. Björn Grünewälder, Sprecher des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat bestätigt, dass “ein besserer Forschungszugang zu den Daten der Plattformen geboten ist, um die Verbreitung von Desinformation besser nachvollziehen und die Umsetzung des Verhaltenskodex besser überwachen zu können.” Die Einschränkung der Grundrechte und der Eingriff in die Kommunikation der Menschen sind beängstigende Entwicklungen. Sie sind möglicherweise völlig berechtigt, um im Zuge der Covid-19-Pandemie Leben zu retten. Gleichwohl ist es von höchster Wichtigkeit, durch Kontrolle und kritische Diskussion sicherzustellen, dass sie nicht für andere Zwecke missbraucht werden. Die Intransparenz, die gerade die sozialen Medien in diesem Punkt an den Tag legen, ist eine direkte Gefahr für die Demokratie.
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Text: CC-BY-SA 3.0