Das politische Potenzial von Weblogs: Meinungsfreiheit, Vielfalt und demokratische Kontrolle
Weblogs als Wunderwaffe gegen Zensur und repressive Internet-Politik? Ein Blick auf die chinesische Blogosphäre zeigt, dass sich das politische Potential von Weblogs nicht in allen Staaten dieser Welt gleichermaßen frei entfalten kann.

Als das Internet in den 90er Jahren seinen medialen Siegeszug um die Welt antrat, fanden sich schnell dutzende Politiker und Experten, die es zum Hoffnungsträger einer weltweiten Demokratisierungswelle kürten. Das Internet sollte beim Sturz autoritärer Regime und der anschließenden Transformation in demokratische Systeme eine zentrale Rolle spielen. Eine Welle der Euphorie brach los, die Begriffe „Technology of Freedom“ und „E-Democracy“ waren schlagartig in aller Munde. Unvergessen ist die Aussage des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, dass es eher möglich wäre, einen Wackelpudding an die Wand zu nageln, als den Informationsfluss im Internet zu kontrollieren.

Ein gutes Jahrzehnt später war diese Euphoriewelle merklich abgeebbt – das Internet hatte es nicht geschafft, die übersteigerten Erwartungen bezüglich einer nachhaltigen Verbesserung der Meinungs- und Pressefreiheit und einem damit verbundenen höheren Grad an demokratischen Grundrechten zu erfüllen. In vielen Staaten mit autoritären Herrschaftsstrukturen hat sich trotz Internetnutzung nicht viel geändert. Der Informationssektor und mit ihm das Internet ist in vielen Ländern noch immer fest in der Hand der staatlichen Zensurbehörden. Ein oft diskutiertes Beispiel hierfür ist der Umgang mit dem Internet in der Volksrepublik China. Trotz einiger politischer Reformen und der marktwirtschaftlichen Transformation hat sich an der politischen Kontrolle der Medien durch die autoritär regierende Kommunistische Partei nichts Grundlegendes geändert. Auch wenn die Wand hin und wieder frisch gestrichen wird, der Pudding hängt in China weiterhin fest an ihr. Und das mussten auch diejenigen feststellen, die dem neuen Medium Internet vor einigen Jahren noch die unbedingte Kraft zuschrieben, kurzfristig subversive Kräfte zu entfesseln und zu einer nachhaltigen Verbesserung der demokratischen Strukturen beizutragen.

Das politische Potenzial von Weblogs: Meinungsfreiheit, Vielfalt und demokratische Kontrolle

Nun, knapp 15 Jahre nach dem Entstehen der ersten Euphoriewelle, braut sich Neues zusammen: Die Weblogs sind da. Und brechen eine ähnliche Euphorie vom Zaun, wie sie auch schon in der Zeit Clintons zu spüren war. Durch die medialen Besonderheiten und die niedrigen Anforderungen an die Medienkompetenz bei der Nutzung der Weblogs beginne nun die wirkliche Demokratisierung des Internet, prophezeien Experten. In westlichen Demokratien ist schon von einer neuen „
fünften Gewalt im Staate“ die Rede. Und auch beim Blick auf Staaten mit eingeschränkter Meinungsfreiheit und autoritären Herrschaftsverhältnissen schreiben viele Autoren der Blogosphäre zuvor ungekannte Möglichkeiten für die Verbesserung von Meinungsfreiheit und
journalistischer Vielfalt zu.


Weblogs in China: Vom Sex-Tagebuch zum Massenmedium

Die Geschichte der Weblogs in China ist noch jung: Erst ab Mitte des Jahres 2003 wuchs die Bekanntheit des Mediums auf dem chinesischen Festland. Zuvor gab es nur eine Handvoll Chinesen, die mit dem Begriff „bókè“ (Chinesisch für Weblog) etwas anfangen konnten. Einen wichtigen Grundstein für die spätere Entwicklung legte der Shanghaier Softwareingenieur Isaac Mao. Er gründete 2002 zusammen mit einem bloggenden Lehrer das Internetportal
cnblog.org, die erste chinesische Website mit Weblog-Bezug. Eine weitere wichtige Persönlichkeit in der chinesischen Weblog-Historie ist Mu Zimei, eine Journalistin aus Kanton. Sie war die erste, die mit ihrem Blog eine große Masse an Usern erreichte. Womit schaffte sie das? Die lebensfrohe junge Dame hatte ein sehr ausschweifendes Sexualleben, an dem sie die Öffentlichkeit durch ihr Sex-Blog teilhaben ließ. Mit Erfolg, denn bald besuchten mehr als 6.000 Leser pro Tag ihre Seite, um sich über neue Abenteuer und Liebhaber (deren reale Namen sie übrigens auch des Öfteren dort veröffentlichte…) zu informieren. Mu Zimeis Sex-Tagbuch bedeutete den Durchbruch der Weblogs zum Massenmedium; der Wirbel und die anschließende Debatte in den traditionellen Medien führten dazu, dass schon bald viele Millionen chinesische Internet-Nutzer über Existenz und Funktionsweise von Weblogs Bescheid wussten.

Infolge dieser Entwicklung stieg auch die Zahl der aktiven Blogger rasch an, professionelle Weblog-Anbieter mit Angeboten in chinesischer Sprache schossen wie Pilze aus dem Boden. Ende 2004 gab es in China mindestens 45 professionelle Firmen, die Weblog-Hosting anbieten, die drei wichtigsten sind
blogbus.com,
blogdriver.com und
blogchina.com. Von den über 100 Millionen Internet-Usern auf dem
chinesischen Festland hat derzeit schätzungsweise schon jeder Zehnte sein eigenes Weblog, jeden Tag kommen tausende neue Blogger hinzu. Die Tatsache, dass Mobiltelefone eine sehr große Rolle im Alltag vieler Chinesen spielen, macht die User außerdem für neue Trends wie dem Bloggen per Mobiltetefon, das „Moblogging“, sehr begeisterungsfähig.

Was sind die Themen in den chinesischen Blogs? Die große Mehrheit der chinesischen Blogger stehen in der Tradition Mu Zimeis und nutzen ihre Seiten als
private Tagebücher, in denen sie persönliche Erfahrungen und Probleme verarbeiten und mit anderen Usern teilen. Auch viele Journalisten und Schriftsteller arbeiten mittlerweile mit dem Medium Weblog, indem sie dort Auszüge aus ihren Werken oder Fortsetzungsromane veröffentlichen. Thematische Blogs drehen sich meist um
Technik, Internet oder wissenschaftliche Themen. Weblogs, die Nachrichten verbreiten und sich mit politischen Themen auseinandersetzen gibt es im Vergleich mit anderen Ländern eher wenige. Ein Beispiel hierfür ist die Seite chinanewsman.net, die chinesischen Journalisten die Möglichkeit gibt, ihr eigenes Weblog zu veröffentlichen. Die Betrachtung dieser Seite bietet gleichzeitig eine Erklärung dafür, warum das Angebot an nicht-staatlich verbreiteter Information und politischer Diskussion so spärlich ausfällt: Sie ist ein Paradebeispiel für staatliche Repression und die Zensur von Weblogs mit unerwünschten Inhalten.

Zensur und Überwachung der Blogosphäre

Spätestens seit dem Rummel um das Sex-Blog von Mu Zimei haben auch die verantwortlichen Behörden das Potenzial und die Möglichkeiten von Weblogs entdeckt – und bemühen sich seitdem in verstärktem Maße, die Gefahr der Verbreitung unerwünschter Informationen durch verschiedene, nicht unbedingt neue Kontrollmethoden zu minimieren. Die für die chinesischen User erreichbaren und somit für die Regierung potentiell gefährlichen Blogs können in zwei Kategorien unterteilt werden: Von chinesischen Anbietern gehostete Blogs und die meist in englischer Sprache betriebenen Blogs auf ausländischen Servern.

Die Mehrzahl der bloggenden Chinesen ist bei einem der mittlerweile zahlreichen chinesischen Anbieter registriert. Für diese Anbieter gelten die bestehenden Gesetze zur Internetkontrolle, die den verschiedenen Überwachungsmethoden seit dem Jahr 2000 eine rechtliche Grundlage geben. Das bedeutet unter anderem eine Registrierungspflicht für Internetdienste, die Speicherung und Bereitstellung von Nutzerdaten und den Einsatz von manuellen Zensoren sowie modernster Überwachungssoftware. Der erste in der Öffentlichkeit Aufsehen erregende staatlich angeordnete Einsatz von Filter-Software bei Weblogs datiert auf den März 2004. Bereits kurz nach ihrem Start mussten damals die drei größten chinesischen Weblog-Dienste für einige Zeit ihre Dienste komplett einstellen. Der Grund: Die Behörden verlangten nach der Veröffentlichung eines regierungskritischen Briefes die Installation einer entsprechenden Software, um die Publikation derartiger Inhalte zukünftig zu verhindern. Das Ausmaß des Einsatzes von entsprechender Software zeigen auch die Ergebnisse einer im Januar diesen Jahres veröffentlichten
Studie der
Open Net Initiative, in deren Rahmen die Zensur von Weblogs in China untersucht wurde. Demnach werden vor allem Postings mit Schlagwörtern, die auf sensitive Themen (wie Kritik an der Führung, die Minderheitenproblematik, Unabhängigkeit von Taiwan und Tibet, die Menschenrechtsproblematik, etc.) schließen lassen, zensiert.

Längst haben Internet-Firmen, die in China Weblog-Dienstleistungen anbieten, vor der Zensurpolitik der Partei kapituliert. Um Konflikten mit den chinesischen Behörden aus dem Weg zu gehen und so beim Kampf um Marktanteile kein Risiko einzugehen, wird die staatlich verordnete Selbstzensur in Form von freiwilligen Software-Filtern und eigenen Zensoren umgesetzt. Dass sich dem auch ausländische Firmen unterwerfen müssen, zeigt ein prominentes
Beispiel aus dem Juni dieses Jahres: Den Bloggern, die die Weblog-Dienste des chinesischen MSN-Portals nutzen, ist es verboten, Begriffe wie „Freiheit“, „Demonstration“ oder „Demokratie“ in ihren Seitentiteln zu publizieren. Bei der Verwendung solcher Schlagwörter erscheint ein Warnhinweis und die Bitte, den Eintrag umzuändern.

Bei mangelnder Kooperation oder Umgehung der Regeln machen die chinesischen Behörden auch vor der vorübergehenden oder kompletten Schließung einzelner Websites nicht Halt. Ein Beispiel hierfür ist die bereits erwähnte Seite
chinanewsman.com, deren Inhalte bereits mehrere Male in vollem Umfang nicht erreichbar waren.

All diese Maßnahmen und vor allem die Tatsache, dass den Verbreitern verbotenen Inhalts hohe und teilweise willkürliche Strafen drohen, machen die Überwachung bislang recht wirksam. Die Kombination aus technischen Überwachungsmaßnahmen und der „Schere im Kopf“ der Blogger scheint zu wirken.

Warum aber werden Blogs mit sensitivem Inhalt dann nicht einfach auf ausländischen Servern gehostet, auf deren Inhalt und Nutzerdaten die chinesischen Zensoren keinen Einfluss haben? Dem stehen zweierlei Hindernisse gegenüber. Das erste ist die Sprache, denn noch immer spricht nur ein kleiner Teil der chinesischen Bevölkerung ein für das Publizieren und Lesen von fremdsprachlichen Artikeln ausreichend gutes Englisch. So stellt das Bloggen auf den großen amerikanischen Anbietern aufgrund sprachlicher Probleme für die meisten Chinesen derzeit noch keine Alternative dar, in Frage kommen meist nur Anbieter aus Hongkong oder Taiwan. Das zweite Hindernis besteht in der Möglichkeit, unerwünschte ausländische Seiten zu „blocken“. Da in China staatseigene Firmen die Kontrolle über die Datenverbindungen ins Ausland haben, können die Behörden entscheiden, welche Seiten von der „Great Firewall“ geblockt werden. Wie dies in der Realität funktioniert, zeigt ein Beispiel aus dem Januar 2003: Damals wurden alle Weblogs, die auf dem Server des prominenten amerikanischen Anbieters
blogger.com gehostet waren, in China
gesperrt. Alle dort registrierten User konnten tagelang ihre Weblogs nicht erreichen. Grund hierfür war vermutlich ein Blog, in dem die Adressen von Proxy-Servern veröffentlicht wurden, die eine Umgehung von Zensurmaßnahmen ermöglichen. Im März des darauf folgenden Jahres widerfuhr dasselbe Schicksal denjenigen Bloggern, die mit
Typepad arbeiteten. Dieses Mal war der Stein des Anstoßes die Verbreitung eines unerwünschten Briefes über ein dort gehostetes Weblog. Weitere Beispiele für englischsprachige Weblogs, die in China geblockt werden, findet man in der
ChinaBlogList von John Pasden.

Fazit: Euphorie unangebracht

Die Kombination aus Abschreckung, Zensur der inländischen Anbieter und dem Blocken ausländischer Seiten ist eine bislang recht wirksame Taktik der chinesischen Behörden im Kampf gegen unerwünschte Inhalte in Weblogs. Die im Westen teilweise an den Tag gelegte Weblog-Euphorie ist vor diesem Hintergrund übertrieben und man tut gut daran, im Hinblick auf die Perspektiven und Möglichkeiten von Weblogs etwas vorsichtiger zu sein als in den Neunziger Jahren. Denn zumindest in China scheint es noch jede Menge Nägel zu geben, um den abrutschenden Pudding bei Bedarf neu zu fixieren.

Ist der Begriff der „Technology of Freedom“ also ein einziges großes Luftschloss? Nicht ganz, denn obiges Urteil beschränkt sich auf die kurz- und mittelfristige Betrachtung. Auf längere Sicht kann das Internet durchaus eine wichtige politische Wirkung in autoritär regierten Ländern wie China haben. Dies macht eine Anfang dieses Jahres erschienene, sehr lesenswerte
Studie des Hamburger Instituts für Asienkunde deutlich. Sie beschäftigt sich mit der Konstruktion alternativer Identitäten im chinesischen Internet und deren Folgen für die von der Kommunistischen Partei propagierten Identifikationsmodelle. Darin heißt es: Die im Internet geführten „öffentliche Diskurse, in denen zahllose Akteure sich bewusst oder unbewusst mit der gemeinsamen Konstruktion und Reproduktion von Identität beschäftigen, dürften das eigentliche subversive Potential des Internets in China verkörpern“, da diese langfristig zur Veränderung von Lebensstilen und Wertorientierungen insbesondere in der jüngeren Generation führen. Seit einiger Zeit haben die chinesischen User eine neue Möglichkeit, um diese Diskurse zu führen und sich alternative Identitäten zu konstruieren: Weblogs.