Wer zensiert und kontrolliert besser? China oder der Westen? Nicht rechtfertigen, sondern “Entideologisierung” der Debatten über Zensur ist das Ziel von Dr. Weigui Fang.

Eine Hypothese

Es ist landläufige westliche Praxis, die zentralen Kategorien von Karl Popper (Kategorie der offenen Gesellschaft) und Hannah Arendt (Begriff des Totalitären) auch bei der Diskussion der chinesischen Verhältnisse im Hinterkopf zu haben. Das heißt, die meisten westlichen Kritiker – wenn sie zum Beispiel die Frage der bereits beobachtbaren und/oder noch zu erwartenden Auswirkungen des Einstiegs in eine globale Kommunikationsgesellschaft seitens vieler, immer schneller hinzukommender chinesischer Internetnutzer zum Gegenstand der Forschung machen – würden ohne Zweifel als Eckdaten oder Bezugsrahmen explizit oder implizit die folgende Annahme einbauen: China ist keine offene Gesellschaft; China weist immer noch wesentliche Merkmale eines totalitären Staatswesens auf.

In diesem Kontext interessiert die dominanten Kräfte in den führenden think tanks des Westens (etwa in den USA) und ihre Berater mit Sicherheit das konkrete Tempo und Ausmaß sowie die beobachtbaren oder vermeintlichen Implikationen der soziokulturellen Aushöhlung des vorgeblich lange Zeit monolithischen – in den letzten Jahren dieser Auffassung zufolge aber zunehmend Risse aufweisenden – “chinesischen öffentlichen Bewusstseins”.

Große Brandmauer

Dass die Hypothese, es gehe um das Thema der “Aushöhlung” oder Subversion einer gleichsam monolithischen, fremden kulturellen Bastion, nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt der Untertitel “Web surfers find cracks in wall of official China” der cover story der Tageszeitung USA TODAY vom 16. März 2000. Die über zwei Seiten verteilte, für das Blatt recht umfangreiche Story von Julie Schmit und Paul Wiseman mit dem Titel “Surfing the dragon” popularisiert vermutlich erste wissenschaftliche Ergebnisse. Die Metaphorik des Untertitels spricht für sich: das offizielle China hat sich mit einer “Chinesischen Mauer” umgeben, welche auswärtige kulturelle Einflüsse außen vor hält. Die wendigen Individuen, welche das Internet nutzen, verursachen Risse in dieser Mauer, durch die die unerwünschte Information – gleichsam als ein für jenes “erstarrte”, “offizielle” China gefährliches subversives Denken – hineinsickern kann. In diesem Zusammenhang sieht man in den westlichen Diskussionen oder Berichterstattungen über das Internet in China recht oft Themen wie ”
Virtual Censorship in China: Keeping the Gate between the Cyberspaces“, ”
The Great Firewall“, ”
China verschärft die Kontrolle über das Internet“. Oder auch umfangreiche Studien wie ”
Taming the Dragon: China’s Efforts to Regulate the Internet“. Besonders typisch für die Beobachtung auf diesem Gebiet sind selbstverständlich Artikel in (z.B.)
Digital Freedom Network, oder auch
Reporters Without Borders. Die meisten Artikel über die chinesische Internetzensur kommen – und das ist fast selbstverständlich – aus den USA. Derartige Studien oder Berichte sind auf jeden Fall wichtig, um z.B. einerseits die vom Internet ausgehende Möglichkeit und Macht sowie andererseits die um der Macht willen getroffenen Kontrollmaßnahmen der KP China kennenzulernen.

Ich möchte durchaus betonen, dass viele Forschungsbeiträge ziemlich informativ sind. Aber wenn man, sobald man über China spricht, sofort die “Mauer” vor Augen hat, oder wenn manche westlichen Beobachter anscheinend mit der zwar populären, doch abgegriffenen Metapher der “Mauer” nicht mehr zufrieden sind und nun – der packende Titel muss sein – ”
Behind China’s Internet Red Firewall” nach Neuigkeiten suchen, ist das nicht unbedingt gut für die ‘Entideologisierung’ d.h. flexible Betrachtungsweise. Die gewählten images sind geeignet, die Befürchtungen vermeintlich immer noch ausschlaggebender “Hardliner” zu bestätigen. Dabei bleibt (und bei einer mehr oder weniger aus dem Kalten Krieg stammenden Metapher “Mauer”) aber nicht unerforscht, wie ‘hart’ viele dieser – dem amerikanischen Heteroimage des chinesischen Betonkopfs nachempfundenen – “Hardliner” eigentlich in der Frage des Ideenaustausches sind und welche Öffnung, welchen Import von Gedanken China bereits seit Jahren zulässt?

Der Westen habe die besseren Internet-Regulierer

Eine Arbeit wie ”
Internet in China: Big Mama is Watching You” ist ebenfalls sehr informativ. Man sollte aber – wenn man objektiv und realistisch bleiben möchte – dabei auch einer Aussage von Sonja Zekri beipflichten (“Grau ist alle Utopie – Testfall China: Warum das Netz sein Heilsversprechen nicht erfüllt”, Süddeutsche Zeitung, 12. April 2002): “Doch weniger als die ausbleibende Demokratisierung der Schurkenstaaten fürchten Experten die Kontroll-Bemühungen zivilisierter Länder, die dem Kampf gegen Nazis, Päderasten, Terroristen gelten, aber auch Unschuldige treffen. […] mit dem Überwachungssystem ‘Carnivore’ durchkämmt das FBI zugleich die Emails Zehntausender Nutzer. […] Die größten Überwacher aber sind Online-Händler, die unter dem Begriff ‘Personalisierung’ das Surfverhalten ihrer Klientel ausspähen. […]”

Nicht ohne Grund glaubt die chinesische Regierung, dass der Westen die besseren Internet-Regulierer hat. Und man gibt – als ironische Antwort auf westliche Kritik – ganz offen zu, dass es China auch nach Jahren des Aufbaus einer virtuellen Mauer rund um seine Surfer immer noch an Erfahrung bei der “Regulierung” des Internet mangele. “Einige westliche Länder behandeln das Internet viel restriktiver als wir”, erklärte ein
Regierungsbeamte. Das Internet bietet nämlich nicht nur eine nie da gewesene Fülle von Möglichkeiten zur Informationsgewinnung an, sondern auch gerade durch die neueste Technologie und Filtersoftware zunehmende Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur. China ist keine Ausnahme, scheint aber offenbar wegen seines autoritären Systems besonders geeignet zu sein, um als Paradebeispiel für staatliche Zensur und Kontrolle stellvertretend für andere an den Pranger gestellt zu werden. Daher ist es allzu verständlich, dass, nachdem Yahoo China sich dem “Selbst-Disziplin-Pakt” von Internet Society of China (ISC) angeschlossen hat, der Generalsekretär von “Reporter ohne Grenzen” geradezu aus reinem Pflichtgefühl heraus prompt einen ”
Open letter to the Yahoo! Chairman” (de facto einen Protest) veröffentlichte.

Natürlich wissen die Informationsanbieter in China nur allzu gut, was als ‘system-destabilisierende, staatsgefährdende Komponente’ gilt oder welche explizite Herausforderung für die politische Führung das schließlich bedeuten würde. Daher ist eine Art Selbstzensur sicherlich präsent, oder sogar informell manifestiert – wie bereits erwähnt – in Form eines “Selbst-Disziplin-Pakts”. Andererseits aber ist die geschickte und unauffällige Anpassung der um Konformismus bemühten, ja letztendlich um den Erhalt des Arbeitsplatzes besorgten ‘clerks’ an den Chefredakteur bzw. an die ‘redaktionelle Linie’ der Medienbesitzer auch nicht unbekannt in anderen Welten, um dies deutlich zu sagen. (Ein prominentes Beispiel hierzu ist die Entlassung des Starreporters Peter Arnett (NBC) während des Irak-Kriegs.) Nicht unbekannt ist es ebenfalls, und das nicht nur in China, dass der Anbieter die “unerwünschten” news bulletins aus dem Netz nimmt oder gar nicht erst ins Netz stellt.

Warum wurden tausende Internet-Cafés geschlossen?

Eine tiefverankerte Vorstellung kann jederzeit entsprechende Assoziationen hervorrufen. Ein typisches Beispiel dafür stellen seit zwei Jahren die westliche Berichterstattung über die Schließung unzähliger Internet-Cafés in China dar: ”
3.300 Internet-Cafés in China geschlossen“; ”
Shanghai Cracks Down on Net Cafes“; ”
Beijing closes all cyber cafes“. Eine Zeit lang war dies fast das einzige Thema über das Internet in China. Für die Leser, welche die eingangs erwähnten “Eckdaten” oder “Bezugsrahmen” im Kopf haben, sind allein die Schlagzeilen schon ausreichend, um alles mit Zensur und Kontrolle in Zusammenhang zu bringen. Nicht wenige Berichte ließen den wahren Grund unerwähnt bleiben oder haben ihn einfach als Vorwand abgetan: Seit mehr als drei Jahren ist das Internet-Café eines der florierendsten Geschäfte in China. Die meisten Internet-Cafés waren schwarze oder Untergrund-Internet-Bars – also ohne Lizenz, ohne genügende Sicherheitsvorkehrungen und Brandschutzmaßnahmen. (Viele sind es heute immer noch.) Der große Brand am 16. Juni 2002 in der nicht angemeldeten Internet-Bar mit dem Namen “Blaues Supertempo” in Peking forderte 25 Menschenleben. Die Schließung solcher Internet-Cafés war vor allem auf mangelnde Sicherheitsvorkehrungen, illegale Aktivitäten und nicht zuletzt auf Steuerhinterziehung zurückzuführen. In der Tat haben nicht wenige westliche Berichte, ohne zu erwähnen oder ohne zu wissen, dass viele der geschlossenen Internet-Cafés bloß eine andere Form von “Spielhalle” bzw. zum Teil auch das “Window” zu den pornographischen Internetangeboten sind, was in China gesetzlich verboten ist, die Aktion auf eine selbstverständliche Art und Weise mit Nachrichtenzensur und -kontrolle in Zusammenhang gebracht.

Der freie Informationsfluss oder die Quelle alternativer Informationen, welche die chinesischen Nutzer über Internet bekommen, ist sicher nicht durch Schließung der Internet-Cafés zu stoppen. Auch in Anbetracht der jüngsten, fraglos atemberaubenden quantitativen Entwicklung des Internet in China ist der dem Internet zuzuschreibende soziokulturelle impact, seine meinungsbildende Macht, sowie der mit seiner wachsenden Nutzung verbundene “spread”-Effekt nicht hoch genug einzuschätzen. Zudem ist allein wegen der Struktur des Internet und der Fülle der Informationen eine Zensur bzw. eine totale Kontrolle des Informationsflusses fast aussichtslos.

Gerade die Entwicklung von Kritikfähigkeit und die Gewinnung eines von Regierungskontrolle, von Manipulation und desinformativer Verfälschung befreiten Zugangs zu entscheidenen relevanten Informationen sind ganz wesentliche Momente eines realwerdenden Emanzipationsprozesses des lange Zeit als passiv geltenden Publikums. Auf der anderen Seite wissen wir aber, dass das Internet einen two-way channel bietet mit der Perspektive des gegebenenfalls möglichen Zugriffs der Lauscher des Staates bis in die individuellen home computers hinein. Die Frage “Who is watching your computer, when You’re not watching it?” gilt überall – in China so wie in Amerika.

Erschienen am 28.05.2003

Kommentieren Sie diesen Artikel!


Diskutieren Sie mit anderen in unserem Forum!


Weiterführende Artikel:

Links im Internet: