Vom Klüngel
zum Protest: Die Initiative Pro15:30 zeigt, dass der
Fußball ein politisches Potential entwickeln kann.
Der Professor für Sportsoziologie, Jürgen
Schwier, zeichnet den Weg vom Arbeitervergnügen
zum Mediensport nach.

Ein Gespräch über Fußballfans und Mediensport mit Professor
Jürgen Schwier

 

Jürgen Schwier ist seit März
2000 Professor für Sportsoziologie an der Universität Giessen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im
Bereich der Sportpädagogik, der Jugendforschung, der kulturellen Analyse des Sports und der populären
Kultur. Zur Zeit steht das Thema "Mediensport" bei ihm ganz oben auf der Agenda. Theorie meets Praxis:
Dem Fußball ist Jürgen Schwier sowohl als "Aktiver" wie auch als Fan seit frühster Jugend verbunden…


politik-digital: Herr Professor Schwier, wie medial ist der Sport?

Jürgen Schwier: Wenn man
über Medien und Sport spricht, spricht man eigentlich über sehr wenige
Sportarten. Das hat auf der einen Seite den Vorteil, dass es einigen
wenigen ökonomisch sehr viel besser geht als früher, es führt auf der
anderen Seite aber zu einer Konzentration auf sehr wenige Sportarten.
Handball oder Leichtatlethik beispielsweise scheinen nicht mehr
stattzufinden. Dieser Prozess führt zu einer Sättigung. Inzwischen ist
die Ware Fußball so teuer, dass die Sendezeit immer länger werden muss:
ein Spiel dauert nicht mehr 90 Minuten, sondern wird auf drei Stunden
gedehnt, und das passiert dann sechs mal wöchentlich.

politik-digital:
Die Initiative 15:30 protestiert auch gegen diese Kommerzialisierung
des Fußballs. Überrascht Sie das Protestpotential der Fußsballfans?

Jürgen Schwier:
Überraschen? Nein. Das Klima hat sich seit Mitte der 90er Jahre durch
eine breite Welle von Fanzines verändert. Diese oft von wenigen Leuten
semiprofessionell hergestellten Fanzeitschriften kamen einem
Zusammenschluss "von unten" gleich. Das hängt auch damit zusammen, dass
der Fan für den Verein immer weniger wichtig ist. Wenn die Spieler
sagen, dass sie für die Fans spielen, ist das medienwirksam. Fans sind
Folklore im Stadium. Die Fans haben das gemerkt und fühlten sich wie
das fünfte Rad am Wagen – daher rührt der Ursprung des Protests. Eine
Vorreiterrolle haben in diesem Zusammenhang die studentischen Fans
gespielt, die leichter politisiert sind und beispielsweise das Thema
Antirassismus in die Stadien und Fanclubs getragen haben.

politik-digital: Hat der Fußball dadurch eine neue, eine politische Dimension gewonnen, die sich in 15:30 manifestiert?

Jürgen Schwier: Ja, und
dabei haben die Medien auch wieder eine Rolle gespielt. Bisher war die
Szene wie gesagt höchstens semiprofessionell, die breite Öffentlichkeit
hat die Aktionen zum Beispiel gegen Rassismus oder gegen die
Abschaffung von Stehplätzen nicht wahrgenommen. Eine Ausnahme war da
vielleicht Schalke, die mit den Antifa-Initiativen zusammengearbeitet
haben und den Antirassismus sogar in die Vereinssatzung geschrieben
haben. Inzwischen bekommt eine Initiative wie 15:30 große
Medienaufmerksamkeit und das ganz ohne Kosten.

politik-digital: Und das Internet? Was für eine Rolle spielen die Neuen Medien bei der Konstituierung von Protest?

Jürgen Schwier: Bei der
Initiative 15:30 konnte der Grad der internen Vernetzung viel höher
getaktet werden. Das Internet bietet solchen Initiativen eine
Verbreitung im Schneeballsystem. Ausserdem öffnet sich hier eine neue
Möglichkeit der Rekrutierung.

politik-digital: Gibt es in der Fußballgeschichte eigentlich ähnliche Beispiele von Protest?

Jürgen Schwier: Bis vor
10, 15 Jahren war das Fußballfan-Millieu konservativ und unkritisch.
Den Fans wurde auch schon damals viel zugemutet, nur hat sich keiner
öffentlich beschwert. Das hat sich erst in dem Maße geändert, in dem
andere gesellschaftliche Schichten in das Fanmillieu Eingang gefunden
haben. Die besser ausgebildeten Fans erhöhen das Protestpotential.
Inzwischen haben es beispielsweise Neonazis schwer, in der
Fußballfan-Szene Fuß zu fassen.

politik-digital: Und wie sieht es mit anderen Sportarten aus? Wäre da eine solche Protestwelle denkbar?

Jürgen Schwier: Zunächst
ist dieser Protest kulturell abhängig. Fußball ist ein
geschlechtsspezifischer Sport aber kein schichtspezifischer. In so fern
gibt es keine vergleichbare Sportart für eine derartige
Protestkommunikation. Der Vergleich liesse sich eher auf der Ebene von
sportlichen Großereignissen ziehen: Formel 1, oder Olympia: da werden
auch regelmäßig breitere Schichten protestierend aktiv.

politik-digital: Kommen wir mal vom strukturellen aufs programmatische: warum braucht der Fußball das Geld der Kirchgruppe?

Jürgen Schwier: Warum
braucht Herr Kirch den Fußball? Es meinen ja alle, auch Leo Kirch, man
bräuchte den Fußball, als Fernsehmarkt-Eintrittsticket. Und da die
Nachfrage das Angebot bestimmt, ist der Fußball entsprechend teuer. Im
internationalen Vergleich nimmt Deutschland da eine durchschnittliche
Rolle ein. Der Grund, warum Leo Kirch nicht reüssiert, ist dass Fußball
immer noch frei zugänglich gesendet wird. Eigentlich gibt es inzwischen
einen ökonomischen Zwang, die Spiele nur noch kodiert zu senden.

politik-digital: Sehnen sich also die Aktiven von 15:30 nach einer Utopie?

Jürgen Schwier: Fußball
ist beides: Big Business und Traumwelt. Ohne die Idee von der
Fan/Verein-Idylle funktioniert der Fußball nicht. Die Sehnsucht nach
authentischem Sport ergänzt sich ja durch den Wunsch der Fans,
möglichst gute und entsprechend teure Spieler in "ihrem" Verein zu
haben. Die völlige Fußballidylle hat es so auch früher nie gegeben.

politik-digital:
Manager und Fernsehleute argumentieren der Initiative 15:30 gegenüber,
dass die Gruppe der reisenden Fans im Vergleich zu den
Fernsehzuschauern verschwindend ist.

Jürgen Schwier: Ja, es
gibt zwei Fangruppen. Aus rein ökomomischen Gruppen spricht nichts für
die Fan-Folklore. Aber der Fußball lebt auch ganz stark von der
Inszenierung und welcher Fernsehzuschauer will schon Spiele sehen, bei
denen niemand mehr im Stadion sitzt?

politik-digital: Was kann man von dem im Mai stattfindenden runden Tisch erwarten?

Jürgen Schwier: Runde
Tische haben in Deutschland ja eine sehr positive Tradition…
Interessanterweise gab es schon vor 3-4 Jahren mal eine Kampagne gegen
die Montagsspiele. Kirch hatte die Rechte für die 2. Bundesliga gekauft
und um diese zu vermarkten, gab es ein fanunfreundliches
Montagabendspiel. Über die Fanzines wurde zum Protest der Produkte
aufgerufen, die diese Spiele über Werbung finanzierten. An einem runden
Tisch überredete man damals die Fans, den Boykott einzustellen, weil er
"ihren" Vereinen ökonomisch schadet. Ich sehe diesen Runden Tisch als
ein Zeichen. Man signalisiert den Fans, dass man sie wichtig nimmt und
hofft, dass es damit getan ist. Was dann passiert, hängt davon ab, wie
lange die Initiative das Niveau durchhält.

politik-digital: Und was glauben Sie?

Jürgen Schwier: Es handelt
sich ja um "après-le-travail-Protest", also um Feierabendprotest. Da
kann es sein, dass einige Leute wegbrechen. Dafür spricht, dass die
Initiative es schon geschafft hat, sehr massenwirksam zu sein. Dadurch
identifizieren sich viele mit dem Protest. Übrigens hat die Initiative
15:30 auf jeden Fall etwas ganz neues geschafft: es ist die erste große
vereinsübergreifende Initiative. Eine Tendenz, die übrigens aus
Großbritannien kommt, dort haben solche Fanorganisationen eine etwas
größere Tradition. Hierzulande hatten sich die Fans der einzelnen
Vereine verbal eher wenig mitzuteilen, das hat sich mit der Initiative
15:30 erstmals geändert.

politik-digital: Vielen Dank für das Interview.

Jürgen Schwier: Gerne…

Die Fragen stellte Carolin Welzel.