Cyberwar und Cybercrime sind Begriffe, die viele Menschen vor allem Videospielen oder Sience-Fiction-Literatur zuordnen. Einer, der weiß, dass es sich dabei keineswegs nur um kreative Auswüchse von Spieleentwicklern handelt, ist der Technikphilosoph und Sicherheitsforscher Sandro Gaycken. Ein Porträt.
Man stelle sich vor: ein landesweiter Stromausfall, verursacht durch einen Cyberangriff. Auch wenn ein solches Horrorszenario bisher glücklicherweise nicht Realität geworden ist:
Spionage- und Sabotageversuche über das Internet haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Nicht wenige dieser Attacken lassen sich inzwischen gar als Angriffe in staatlichem Auftrag deuten. Ziele können militärische und wirtschaftliche Infrastrukturen, die nationale Energieversorgung oder auch Forschungsabteilungen in großen und mittelständischen Unternehmen sein. Dass solche Cyber-Angriffe mittlerweile ein sehr reales Problem sind, mit dem sich viele Staaten auseinandersetzen müssen, wird auch bei einem Blick in Sandro Gayckens Terminkalender deutlich. Neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit als Technik- und Sicherheitsforscher an der Freien Universität Berlin berät er Unternehmen und Sicherheitsinstitutionen im In- und Ausland, unter anderem die Bundeswehr, aber auch ausländische Militärs und verschiedene Kriminalämter u.a. zu den Risiken durch Cyberwar und alternativen Sicherheitsstrategien. Zudem ist er in Gremien auf Bundes- und EU-Ebene tätig. Vor allem im ablaufenden Jahr sei er viel unterwegs gewesen, habe Konferenzen besucht und sei mit Stellungnahmen und Gutachten beschäftigt gewesen. „Der Informationsbedarf in der Politik ist sehr groß“, so der Technikphilosoph, der Ende 2010 ein Buch mit dem Titel „Cyberwar: Das Internet als Kriegsschauplatz“ veröffentlichte, in dem er Ursachen und Risiken dieser neuen Form der Kriegsführung im Internet beschreibt und gleichzeitig Verteidigungsstrategien vorstellt.
Mit seiner ruhigen und nüchternen, fast norddeutsch kühlen Art kann man sich den in der Nähe von Hamburg aufgewachsenen Gaycken gut in der Rolle des ernsthaften Sicherheitsberaters vorstellen, dem hohe Beamte und Politiker aufmerksam zuhören. Philosoph sei er eigentlich schon immer gewesen. In seinem Studium noch mehr mit formalen Inhalten beschäftigt, wurden die Themen, mit denen er sich befasst, mit der Zeit immer techniklastiger. Seine Magisterarbeit verfasste er zum Thema Philosophie der Quantenmechanik. Promoviert hat er schließlich in Technikforschung.
Gaycken forscht zu den Themen Cyberwar, Cybercrime und Hochsicherheits-IT und zeigt sich besorgt angesichts der aktuellen Lage der internationalen Beziehungen. Es kristallisiere sich eindeutig eine Zuspitzung auf eine Situation heraus, die auf längere Sicht in das Szenario eines Kalten Kriegs münden könne. Erst vor knapp zwei Wochen hatte Gaycken zusammen mit der Uno und dem Außenministerium die Sicherheitskonferenz „Challenges in Cybersecurity“ ausgerichtet. Hier sei sehr deutlich geworden, wie angespannt die Situation ist. Vor ein paar Jahren noch undenkbar, haben die US-Amerikaner hier nun klar Position bezogen und damit gedroht, Spionageaktionen aus China und Russland in Zukunft nicht mehr zu akzeptieren. Dieser Strategiewechsel könne natürlich zu Verhärtungen führen. „Daher sehe ich mich in solchen Situationen in der Verantwortung, Hilfestellung zu leisten “, so Gaycken. Zurzeit bestehe in vielen Bereichen in Wirtschaft, Regierung und auch bei den Militärs noch hoher Aufklärungs- und Beratungsbedarf, da nahezu alle Bereiche der Sicherheits-IT bislang ungenügend seien und keinen ausreichenden Schutz vor staatlich organisierten „Hacks“ bieten würden. Es müsse eine komplett neue IT entwickelt werden, die gegen die neue Qualität staatlich finanzierter Cyber-Angriffe gerüstet ist.
Das Thema Sicherheit spielt in Gayckens Leben auch außerhalb des akademischen Betriebs eine wichtige Rolle. 15 Jahre lang hat er in Hamburger und Berliner Clubs als Türsteher gearbeitet. Ein wenig Box-Training als Grundlage habe ausgereicht, um sich – buchstäblich – „durchzuschlagen“. Man dürfe nie mehr trinken als diejenigen, die man rausschmeißen muss, dann sei das kein Problem. Für seine jetzige Arbeit seien diese Erfahrungen auch hilfreich gewesen. Es gebe einfach grundlegende Mechanismen hinter dem Sicherheitsdenken. Das sei in der internationalen Politik nicht anders als an der Diskotür. „Es sind im Prinzip die gleichen Strukturen“, analysiert Gaycken knapp.
Über die Techno- und Clubszene lernte er auch die Leute vom Chaos-Computer-Club kennen, dessen assoziiertes Mitglied er lange Zeit war. „Die wollten immer umsonst in meine Clubs rein“, erinnert er sich. Eine langjährige freundschaftliche Verbindung sei damals entstanden, die erst durch machtpolitische Spielereien führender Köpfe des CCC nachhaltig gestört worden sei. „Ich hatte keine Lust, da reinzugrätschen, die haben mich da ziemlich rausgeekelt“, erinnert sich Gaycken noch immer verärgert. Man werfe ihm vor, auf die „dunkle Seite der Macht“ gewechselt zu sein, womit wohl seine Arbeit für Regierungen, Militärs und Sicherheitsinstitutionen gemeint sein dürfte. Noch 2008 hatte er zusammen mit CCC-Sprecherin Constanze Kurz das Buch „1884.exe“ herausgegeben, in dem sie gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien thematisierten.
Trotz seiner Tätigkeiten für den Staat nimmt Gaycken eine kritische Position ein, wenn es um staatliche Überwachungsmaßnahmen geht. Insbesondere im Vergleich zur Datensammelwut von Google, Facebook und Co.: „Bei Google und Facebook habe ich keine Angst, dass die mich an die Wand stellen, weil ich nicht deren Meinung teile. Bei Staaten kann ich mir nicht so sicher sein. Das ist zumindest eine Erfahrung, die wir historisch gemacht haben“, meint Gaycken. Viele Menschen im Ausland würden die Deutschen wegen ihres strengen Datenschutzrechts belächeln. Dabei sei es doch gut, dass Deutschland diese Lektion aus der Vergangenheit gelernt und gesagt habe: „Wir wollen dem Staat nicht so viel Macht einräumen, weil das auch schief gehen kann“. Das sei eine berechtigte Sorge und für uns Deutsche auch eine Verantwortung.
Wie Firmen mit unseren Daten umgehen, beunruhigt den Sicherheitsexperten Gaycken wenig. Natürlich würden sich die Datenschützer routinemäßig darüber aufregen, aber schlimmstenfalls erhalte man eben gezielt Werbung. Das sieht Sandro Gaycken entspannt, auch wenn er Facebook selbst gar nicht nutzt: „Brauche ich nicht, habe ich keine Zeit für. Und Mädels habe ich immer so kennengelernt“, winkt er ab. Beruflich nutze der 38-Jährige das Netz so oft wie nötig, aber privat sei er ein zurückhaltender Internet-User. Insgesamt sei einfach zu viel „bullshit“ darin zu finden. Wenn seine Familie es erlaubt, entspannt sich der passionierte Gamer lieber mit einem Shooter oder einem anderen Videospiel im Keller, im Sommer auch beim Motorradfahren. Dass sein Beruf und die Leidenschaft für martialische Spiele irgendetwas miteinander zu tun haben könnten, lässt Gaycken nicht gelten: „Beim Gamen wird nicht theoretisiert, sondern nur entspannt“. Obwohl er ja eigentlich gar keine Zeit habe, zu entspannen – zu viel zu tun.