Björn Böhning
© Senatskanzlei Berlin

Der Chef der Berliner Senatskanzlei Björn Böhning ist unter anderem für das Thema Netzpolitik zuständig. Mit den Veränderungsprozessen durch das Internet ist er als netzpolitischer Sprecher der SPD jedoch bereits länger vertraut. Im Gespräch mit politik-digital.de nimmt Böhning Stellung zu seiner persönlichen Motivation und der netzpolitischen Herausforderung durch andere Parteien.

Durch lange Gänge und über schrittdämpfende Teppichböden geht es zum Chef der Berliner Senatskanzlei. Schwere Türen, hinter denen man beim Betreten des Berliner Rathauses so gar nicht den Arbeitsplatz eines Politikers vermutet, dem die „taz“ schon mal das Etikett „Typ Sportjackenträger“ anheftete. Das geräumige Büro sieht dann auch eher nach Verwaltungsalltag und politischer Verantwortung aus. Akten und Zeitungen auf dem Schreibtisch, dazu ein Besprechungstisch in der Mitte des Raumes und ein stummes Fernsehbild im Hintergrund. Der Bundespräsident wird gleich zurücktreten. Das Rednerpult im Schloss Bellevue ist aber noch verwaist und so nimmt Björn Böhning sich Zeit.

Initialzündung #Zensursula

Mit norddeutsch-unaufgeregtem Zungenschlag erzählt der in Lübeck aufgewachsene SPD-Politiker, der vor seinen Aufgaben in der Berliner Landesverwaltung bereits von 2004 bis 2007 Bundesvorsitzender der Jusos war, von seiner  politischen Sozialisation und dem Aufwachsen im und mit dem Internet. Während „frühere Juso-Generationen“ sich stets physisch hätten treffen müssen, war die digitale Kommunikation in seiner Zeit an der Spitze des Verbandes bereits gang und gäbe. Schon damals stand unter anderem das Thema Vorratsdatenspeicherung für die Jusos auf der Tagesordnung. Die politischen Herzensanliegen des Politikwissenschaftlers waren jedoch zunächst Sozialstaats- und Beschäftigungspolitik. Und auch seine Arbeit im Grundsatz- und Planungsreferat von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit, wo er vor seiner Ernennung zum Staatssekretär tätig war, hatte keinen explizit netzpolitischen Schwerpunkt.

Ausschlaggebend für das eigene netzpolitische Engagement sei für ihn wie bei vielen anderen der „C64-Generation“ die im Sommer 2009 aufkeimende Diskussion rund um das kontroverse Thema Netzsperren gewesen. Seine Partei, zur damaligen Zeit mitten in den Vorbereitungen eines ohnehin nicht einfachen Bundestagswahlkampfes, hatte die von der christdemokratischen Familienministerin Ursula von der Leyen initiierten Regelungen in der Großen Koalition auf Bundesebene mitzutragen. Er selbst hat damals auf einem Bundesparteitag in der Schlussphase der Großen Koalition einen Antrag gegen Netzsperren eingebracht, der in der eigenen Partei „nicht vorgesehen war“.

Gerade außerhalb der Sozialdemokratie, deren Mitglied der 33-Jährige seit 1994 ist, sei dieses Engagement auf positive Resonanz gestoßen und so blieb Björn Böhning an dem Thema dran. Mit Alexander Görlach, dem Herausgeber des Debattenmagazins „The European“, hat er im vergangenen Sommer „Freiheit oder Anarchie“, einen Band zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen durch das Internet veröffentlicht. Eine Streitschrift, deren Spannung vor allem in den so unterschiedlichen – und paradoxerweise zugleich wieder ähnlichen – Analysen des konservativen Publizisten Görlach und des prominenten Parteilinken liegt. Vor Terminen zum Thema Netzpolitik jedenfalls könne er sich, wie er inzwischen sagt, „nicht retten“.

Von der technikzentrierten Netzpolitik zur gesellschaftlichen Debatte

Was denn einen „Netzpolitiker“ charakterisiere? Auf diese Frage kann auch der ansonsten begriffssicher und präzise formulierende Polit-Profi auf Anhieb keine abschließende Antwort, sondern allenfalls Anhaltspunkte, geben. Als Sozialdemokrat wolle er jedenfalls „weg von einer doch sehr technikzentrierten Netzpolitik“ und dieses Feld zukünftig als „Gesellschaftspolitik“ verstanden wissen. Es gehe hierbei unter anderem um verantwortungsvolles Nutzungsverhalten, Medienkompetenz und die Frage der Bildung im Internetzeitalter. Dass er gerade an den letztgenannten Punkten nicht nur aufgrund seiner politischen Verantwortung, sondern auch im Privaten ein besonderes Interesse haben wird, nimmt man Böhning, der vor einigen Wochen zum ersten Mal Vater geworden ist, ohne weiteres ab.

Eng mit diesem Verständnis von Netzpolitik als umfassende Gesellschaftspolitik hängt auch die Mitgliedschaft im Verein „D64“ zusammen. Dieser prominent besetzte Think Tank, zu dessen weiteren Gründungsmitgliedern unter anderem der Hamburger Blogger und Social Media-Experte Nico Lumma oder Mario Sixtus zählen, setze „nicht allein auf Bürgerrechtspolitik“, sondern wolle den Prozess der Digitalisierung ebenfalls umfassend begreifen. Damit grenzt der Verein sich ganz bewusst von anderen Berliner Think Tank-Gründungen der jüngeren Vergangenheit ab, mit denen sich die D64-Macher aber austauschen und selbstverständlich ein kooperatives Verhältnis pflegen. Natürlich habe man, dies ist Böhning wichtig, bei der Gründung des Vereins auch auf Unterstützung parteiferner Netzaktivisten, Wissenschaftler, Unternehmer und Blogger gesetzt, gleichwohl leugnen die Vereinsgründer ihre Nähe zur SPD nicht.

Die SPD und das Internet: „Kultureller Wandel dauert länger als ein Beschluss”

Wie geht eine bald 150 Jahre alte Partei mit den Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung um? Knapp zweieinhalb Jahre nach seinem ersten Parteitagsauftritt zum Thema Netzpolitik sei „die Sensibilität beim Thema auf allen Ebenen da“, so Björn Böhnings Fazit des vergangenen Berliner Parteitages. Unter breiter Beteiligung von Internet-Nutzern sei beispielsweise im letzten Jahr ein einstimmig verabschiedeter Leitantrag zur sozialdemokratischen Netzpolitik erarbeitet und diskutiert worden. „Einmalig“ sei, und hier schwingt merklich Stolz mit, dieser Prozess in der Geschichte der deutschen Parteienlandschaft und ein „Erfolg“ der Arbeit der inzwischen zahlreichen sozialdemokratischen Netzpolitiker.

Eine Mitgliederpartei mit etablierten Strukturen und Geschichte wie die SPD könne und solle jedoch nicht einfach so ihr Programm und ihre Arbeitsweise verändern, so Böhning, und meint mit dem „historischen Bruch“, von dem er nun spricht, wohlgemerkt die digitale Revolution und nicht etwa die dreieinhalbminütige Rücktrittserklärung Christian Wulffs, die in der Zwischenzeit auf dem Fernseher zu betrachten gewesen ist. Zwei Dinge seien aus seiner Sicht wichtig. Zum einen würde er seiner eigenen Partei raten, beim Thema Netzpolitik „nicht anderen Parteien hinterzulaufen“. Zum anderen müsse die SPD sich jeden Tag von Neuem die Mühe geben „sich diesen neuen Fragen zu öffnen“. Konkreter wird er hier jedoch zunächst nicht.

Die Tatsache, dass die Sozialdemokratie im Internet eben nicht immer Avantgarde ist, sondern mit Blick auf neue Phänomene wie die Piratenpartei, bestimmte Entwicklungen verspätet realisiert hat, gibt Böhning unumwunden zu. Die Struktur des Internets habe man anfangs „nicht ausreichend nachvollzogen“ und bei Themen wie dem Urheberrecht zunächst zu sehr aus industriepolitischer Perspektive argumentiert. Zur Zukunft des Urheberrechts hat sich Böhning nach dem Gespräch mit politik-digital.de soeben in der “Süddeutschen Zeitung” geäußert. Gerade mit Blick auf sein eigens Arbeitsfeld, die Berliner Landespolitik und die dortigen Erfolge der Piraten im vergangenen Herbst, schaltet Böhning jedoch sogleich wieder in den Angriffsmodus um. „Politisch-programmatisch“ seien die 15 neuen Mitglieder des Berliner Landesparlaments bislang „nicht besonders wahrnehmbar“ und für ihn viel mehr ein „kulturelles Phänomen“, das in einer Stadt wie Berlin natürlich einen gewissen Resonanzboden habe.

Die (politische) Debatte im Netz

Die Debatte über die Piraten und ihre Anhängerschaft gärt jedenfalls nicht nur in Berlin. Und so möchte man gerne wissen, wie ein in konventionellen Parteigremien und mit herkömmlichen, wie er selbst es nennt, „holzigen“ Verwaltungsprozessen erfahrener Politiker, die politische Debattenkultur im Netz wahrnimmt. Der Wowereit-Vertraute, der anderseits bald 15.000 Follower auf Twitter hat, wird dann doch noch einmal deutlich. „Die Aufregung im Internet, der vielbeschworene Shitstorm“, ist zu Böhnings spürbarer Verärgerung bislang „häufig noch größer als die Lösungskompetenz mit Blick auf zeitgemäße Fragen“. Die „schnelle Aufregung“ wirkt in diesen Debatten nach seiner Ansicht wichtiger als das über den Tag hinausgehende Interesse an politischen Themen. Was Björn Böhning damit gemeint haben könnte, zeigt sich schon relativ bald nach dem Gespräch in der digitalen Praxis: Im Internet tobt derzeit eine veritable Meta-Debatte über die Bewertung der Wulff-Nachfolge.