Der Journalist, Buchautor und Netzaktivist Krystian Woznicki ist schon viel um den Globus gereist und dabei am stärksten mit der Kultur Japans in Berührung gekommen – ganze sieben Jahre lebte er dort. Im Gespräch mit dem „Berliner Gazette“-Herausgeber kristallisiert sich heraus, dass es für ihn keine Heimat oder Nationalität im klassischen Sinne gibt.
Der Einstieg in das Gespräch mit dem Gründer der „Berliner Gazette“ verläuft nicht ganz glatt. In den Redaktionsräumen seiner Online-Zeitung im Prenzlauer Berg auf seine polnischen Wurzeln angesprochen, ist Krystian Woznicki anzumerken, dass er die Frage für überflüssig hält. Woznicki fühlt sich zuerst als Weltbürger, nicht als Pole oder Deutscher. Die politischen Unruhen in Polen und die daraus hervorgehende Solidarność-Bewegung Anfang der 1980er Jahre erlebte der 1972 in dem polnischen Dorf Kłodzko Geborene und Aufgewachsene nur am Rande. Zumal er in eben diesem historischen Moment im Alter von acht Jahren nach Deutschland übersiedelte: ins hessische Bad Pyrmont. Das Leben auf dem Dorf habe ihn geprägt. Seine Liebe zu ländlichen Gebieten – zu Stille, Natur und der Konzentration auf das Lokale – rührt daher. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der Landbewohner, die intimer und weniger anonym seien als im Stadtleben, sind etwas, was er am Leben auf dem Land schätze und in einem Kiez wie dem Prenzlauer Berg in der urbanen Variante wiederfinde, ohne sich dabei auf den lokalen Horizont festzulegen. Gerade im Netz finde er den nötigen Ausgleich: eine weitgehend offene, teils anonyme Form der weltweit verzweigten Kommunikation.
20 Jahre selbst erlebte Netz-Geschichte
Auch auf die stereotype Rolle des „Netzaktivisten“ habe er sich nie reduzieren lassen wollen, denn bei seinem Schaffen geht es Woznicki um eine ganzheitliche und gesamtkulturelle Perspektive. Inzwischen hat er jedoch kein Problem mehr damit, als Internet-Experte oder Netzpionier bezeichnet zu werden. Schließlich sei das Internet längst auch ein gesamtgesellschaftliches Thema. Wenn es etwas wie ein Kontinuum oder einen roten Faden in seiner Arbeit gibt, dann ist es nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den digitalen Medien: „Für mich ist das auch deshalb wichtig, weil ich das seit bald 20 Jahren mache und die ganze Entwicklung selbst erlebt habe, die die digitale Welt seit den 1990er Jahren durchlief. Vor diesem Hintergrund weiß ich auch, dass die Dinge, die jetzt passieren, keineswegs aus dem Nichts kommen und es schon so einige Hypes rund ums Netz gegeben hat.“ Mit diesem mittlerweile historischen Wissen ließe sich auch besser verstehen, was das Besondere an dem jeweiligen aktuellen Internet-Hype sei. Beispielsweise seien Überwachung und Kontrolle von oben schon vor der Vernetzung aller Haushalte durch Firmen wie AOL ein Thema gewesen und von Intellektuellen wie Bruce Sterling angeprangert worden. Das Neue der gegenwärtigen Entwicklung bestehe laut Woznicki nicht nur darin, dass dieses Thema kein Randphänomen in gesellschaftlichen Debatten sei, wie etwa die Causa des “Staatstrojaner” zeige, sondern dass nicht mehr nur Leit-Intellektuelle mitreden, sondern alle, die es auch betrifft: die Masse. Dass es in der Debatte um „totale Transparenz“ keine einfachen Lagerbildungen gäbe, kein einfaches Pro und Contra, müsse als Errungenschaft gesehen werden. Wo viele mitreden, gäbe es auch viele Meinungen, und, so hofft Woznicki, auch neue Horizonte, die gesamtgesellschaftlich angesteuert werden können – jenseits alter Holzschnittschemata.
Der Einstieg ins Digitale
Krystian Woznicki ist Autodidakt. Er agiert gerne selbstbestimmt: „Ich brauche kein Lehrbuch, um eine Zeitung im Internet zu machen.“ Die Formel „Learning by doing“ bringt seine Motivation sehr gut auf den Punkt. Dieses Lebensmotto hat er auch mit dem Sammelband „Modell Autodidakt“ aufgegriffen, das er zusammen mit der Journalistin und Medienwissenschaftlerin Magdalena Taube im Sommer 2011 herausgegeben hat. Die Anthologie versammelt Texte von Philosophen, Journalisten, Künstlern und Architekten, die das selbstbestimmte Lernen an ihrer eigenen Person kritisch reflektieren. Das erste Mal loggte sich Woznicki Anfang der 1990er Jahre im Internet ein. Nachdem er im Technologie- und Elektronikviertel der Stadt Tokio in einem Second-Hand-Laden ein Apple Powerbook erworben hatte, begann er, das sich eben erst entwickelnde Web zu nutzen – anfangs rein beruflich. Damals war er am Anfang seiner journalistischen Laufbahn. Von Tokio aus schrieb er für das Kulturmagazin Spex, das Netzmagazin Telepolis sowie die Japan Times und Wired Japan zu Themen im Spannungsfeld von Kultur, Gesellschaft und Internet. Seine bevorzugten Interviewpartner waren Philosophen und Künstler, darunter der Filmemacher Takeshi Kitano und der Komponist David Grubbs. Zur selben Zeit startete Woznicki auch seine ersten Webprojekte: 1995 wirkte er aktiv an der von Medienkünstlerin Ulrike Gabriel entwickelten Online-Plattform „Views“ mit, auf der Persönlichkeiten aus Kultur und Medien ihre Gedanken und Beiträge veröffentlichten und sich untereinander vernetzten, darunter der Sozialwissenschaftler Volker Grassmuck oder der japanische Kulturtheoretiker Sawaragi Noi. Die Inhalte und Texte wurden digital visualisiert – als Kartographie der Gedanken und Ideen.
Die Berliner Gazette: Nur die Leser dürfen reinreden
Team der Berliner Gazette
Sein verstärktes (netz-)politisches Engagement verbindet Woznicki mit der Gründung der Berliner Gazette. Er hob die Online-Zeitung im Jahre 1999 aus der Taufe – von seinem damaligen Home Office in der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg. Der Ideengeber und Initiator war von Anfang an auch Chefredakteur der digitalen Zeitung, bis 2009 Magdalena Taube die Funktion übernahm; seitdem agiert Woznicki in erster Linie als Herausgeber: Projekte entwickeln, Fundraising betreiben, etc. Die Idee hinter der Gründung der Berliner Gazette sei ganz banal gewesen: „Wir wollten damals herausfinden, ob und wie man mithilfe des Mediums Internet eine neue Form des Vermittelns von Inhalten kreieren kann.“ Eine der Prämissen war damals, dass die journalistische Arbeit ergebnis- und zeitoffen sein sollte – politisch wie ökonomisch. Von Anfang an unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen und gegen die Launen des Mainstreams gerichtet war die Haltung, die Berliner Gazette ohne Druck und Erwartungen von außen zu entwickeln. Getreu dem Motto: „Wir lassen uns hier nicht reinreden!“ Ausgenommen davon waren natürlich die Leser. Im ersten Jahr ihrer Existenz wurde die digitale Zeitung ausschließlich per E-Mail verbreitet. Die Kommunikation mit den Lesern war sehr direkt. „Da hast du sofort das Leser-Feedback gehabt, das mich teilweise auch sehr hart, weil vollkommen ungeschützt traf.“ Im Fokus der thematischen Ausrichtung stand damals Berlin: „Es ging anfangs immer um kritische Diskurse rund um Berliner Themen, zum Beispiel Stadtentwicklung, Gentrifizierung, Festivalisierung der Kultur. Dabei ging es stets darum, das mit der digitalen Interaktivität verbundene Versprechen einzulösen, in einen Dialog mit den Lesern zu treten.“
Die Grafik zeigt das internationale Netzwerk der Berliner Gazette
im Jahre 2006: je dichter die Kreise, desto dichter das Netzwerk
Die weltweit immer größere Verbreitung des Internet sorgte dafür, dass die Berliner Gazette auch international wahrgenommen wurde. Die Redaktion erhielt Leserbriefe aus Marseille, war im Dialog mit Kulturschaffenden aus Russland und führte Online-Interviews mit Intellektuellen aus New York. Bis heute seien rund 800 Autorenprofile in der Berliner Gazette angelegt worden, mit Beiträgen aus so gut wie allen Kontinenten. Inspiriert von der eigenen Erfahrung, startete die Berliner Gazette im Jahre 2006 „McDeutsch“ – ein interdisziplinäres Projekt zur Kartierung der deutschen Sprache und deren Globalisierung.
Lektionen aus Japan: „Auch das Geistige ist Boulevard“
Ganz anders als seine Kindheit in Polen habe ihn das Leben in Japan geprägt, bekräftigt Woznicki. Beispielsweise seien seine Sensibilität und auch das Bewusstsein für das in Japan hoch entwickelte Alltagsdesign größer geworden. Es gehöre zur dortigen Kultur, auch auf kleine Dinge zu achten – ob nun im eigenen Haushalt oder im Stadtbild. „Wo gestaltet werden kann, wird kaum etwas dem Zufall überlassen“, so Woznicki. Er habe insbesondere erfahren, was man aus wenig Platz machen könne: So lebte er mit seiner damaligen Partnerin in einer 25 Quadratmeter kleinen Wohnung, was in etwa die durchschnittliche Wohnungsgröße für eine japanische Familie in Tokio sei. „Man überlegt sich sehr genau, was man aus den Mitteln macht, die einem zur Verfügung stehen. Man nutzt Dinge multifunktional. Beispielsweise ist es üblich, dass es keine Schlafzimmer im eigentlichen Sinne gibt, sondern die Betten aus dem Schrank geholt werden“. Diese Philosophie sei auch in seine Arbeit als Macher der Berliner Gazette eingeflossen. Wie bei Low-Budget-Produktionen in Film und Theater müsse der Herausgeber Woznicki auch bei seiner digitalen Zeitung immer genau überlegen, wie er mit begrenzten Mitteln möglichst ökonomisch und effizient arbeitet und dabei zugleich seinen Qualitätsansprüchen gerecht wird.
In Japan habe er auch gelernt und erfahren, dass intellektuelle Fragen nicht nur einer Elite vorbehalten sein müssen. Dort können auch Philosophen mit sehr existenziellen und komplexen Themen ein Massenpublikum erreichen, was hierzulande – wie im Fall Peter Sloterdijk – noch ein Ausnahme-Phänomen darstelle. „Es gibt in Japan eine Massenkultur, auch Philosophen und Denker im Mainstream wahrzunehmen. Jemand wie der sehr von mir geschätzte Dietmar Dath, der hierzulande vielleicht noch vielen Menschen als zu elitär vorkommen mag, könnte in Japan ein Massenpublikum erreichen.“ So sei es auch nicht verwunderlich, dass es in Japan mit Hiroki Azuma derzeit einen sehr populären Intellektuellen gibt, der eine Art „Mischung aus Sascha Lobo, Peter Sloterdijk und Daniel Kehlmann“ ist. Woznicki hat in den 1990er Jahren mit ihm zusammengearbeitet und kann sehr gut den literarischen, medialen und philosophischen Horizont dieser gesellschaftlichen Resonanz nachvollziehen: „Auch das Geistige ist Boulevard“.
In Reaktion auf die Katastrophe von Japan im März 2011 hat er im vergangenen Herbst das internationale Symposium „Learning from Fukushima“ in Berlin organisiert. Dabei ging es primär um die Frage, wie in Krisenzeiten eine kritische (Netz)Öffentlichkeit entsteht. Spätestens seitdem kann wohl auch Krystian Woznicki selbst die Bezeichnung Netzaktivist nicht mehr von sich weisen.