Der Politikwissenschaftler Jan Engelmann arbeitete als Verlagslektor, Pressesprecher und Journalist – seit Juni 2011 ist er Mitarbeiter bei Wikimedia Deutschland und setzt sich u.a für die Rechte von Urhebern ein. Doch wer und was verbirgt sich eigentlich hinter Wikimedia? Engelmann klärt im Gespräch mit politik-digital auf.

Wikipedia ist jedem Internetnutzer ein Begriff. Das Nachschlagewerk ist seit 2001 online und hat sich zur größten Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte entwickelt. Der deutsche Trägerverein Wikimedia, der hinter der Online-Enzyklopädie steht, ist jedoch nur den Wenigsten bekannt. Jan Engelmann leitet seit Juni 2011 den Bereich „Politik und Gesellschaft“ der gemeinnützigen Organisation, die sich der Förderung freien Wissens verschrieben hat. Mit ihren 40 Mitarbeitern ist die deutsche Sektion die mit Abstand größte nationale Wikimedia-Organisation Europas. Die nationalen „Chapter“ in Großbritannien und Frankreich haben im Vergleich nur jeweils vier hauptamtlich Beschäftigte. „Es besteht eine große Unwucht innerhalb der Wikimedia-Familie, und es gibt unterschiedliche historische Entwicklungslinien“, bestätigt Engelmann.

Auch sei die Spendenbereitschaft in jedem Land unterschiedlich ausgeprägt. Künftig soll ein  zentrales Gremium über die Verwendung der Spenden entscheiden. Die 2003 gegründete Wikimedia Foundation, die ihren Hauptsitz in San Francisco hat, hat es sich aktuell zur Priorität gemacht, den Ausbau des Wikimedia-Netzwerkes in Schwellen- und Entwicklungsländern voranzutreiben.

Der Brückenbauer

Als Leiter des Bereichs Politik und Gesellschaft versucht Engelmann „da, wo es nötig ist, zu überzeugen und mit guten Argumenten für unsere Sache zu werben.“ Mit dem Schlagwort Lobbyarbeit hat er kein Problem. Warum auch? „Ich suche den Kontakt zu Parteien, rede auf Podien und nehme öffentlich zu Themen Stellung“. Sein Arbeitsfokus liegt darauf, den gesellschaftlichen Mehrwert freien Wissens in unterschiedlichen Milieus und gesellschaftlichen Bereichen bekannter zu machen. Viele Internetnutzer, aber auch Institutionen wie die Gewerkschaften und die Kirchen kennen Wikimedia bislang nicht. Das soll sich ändern. Jan Engelmann versucht Brücken in die Gesellschaft zu bauen und Wikimedia auch mit anderen Initiativen, die eine ähnliche Zielrichtung verfolgen (wie z.B. die Open Knowledge Fourndation und Communia), zu einer großen sozialen Bewegung zu vernetzen.

Das Besondere an seiner Tätigkeit sei, dass er hauptamtlich an einem Projekt arbeite, das größtenteils auf ehrenamtlicher Ebene vorangetrieben wird. Weltweit steuern ehrenamtliche Autoren Inhalte bei, die in einer Vielzahl von Wikis gesammelt und verbreitet werden, seien es Zitate, das Online-Wörterbuch Wiktionary oder WikiBooks, das Lernmaterialien sammelt. Jan Engelmann ist fasziniert von Projekten wie dem internationalen Fotowettbewerb: „Wiki Loves Monuments“. Ehrenamtliche Wikipedia-Autoren hatten 2010 erstmals dazu aufgerufen, Bilder  europäischer Kultur- und Baudenkmäler hochzuladen und diese unter freier Lizenz bei Wikimedia Commons zur Verfügung zu stellen. „Das war ursprünglich eine Idee von ein paar verrückten niederländischen Wikipedianern und inzwischen funktioniert sie auch außerhalb Europas.“

„Wikidata soll die Inseln des Internets verknüpfen“

Seit Anfang April hat Wikimedia ein neues Projekt: Wikidata, gestartet. Der Förderverein in Deutschland hat sich angeboten, das Vorhaben einer zugangsoffenen Plattform für strukturierte Daten zu entwickeln. Wikidata soll Aktualisierungen und Visualisierungen in Wikipedia-Artikeln weltweit vereinfachen helfen. Bisher müssen Veränderungen in Lexikonartikeln zu z.B. der Bevölkerungszahl der Stadt Berlin in jeder einzelnen Sprachversion (es gibt derer 280) händisch eingepflegt werden. Wikidata ist also eine Art Mitmach-Datenbank für Informationen, die jeder Nutzer weltweit einsehen und ergänzen kann. Durch ihre freie Lizenzierung über Creative Commons Zero ist sie nicht nur nützlich innerhalb des Kosmos der Wikimedia-Projekte, sondern kann potenziell viele der bisherigen Insellösungen des Internet zusammenführen.

Die Unwucht unter den Wikipedianern

Wer steckt hinter den Wikipedia-Einträgen? Der typische Wikipedia-Autor ist mittleren Alters, Akademiker und männlich. Ein großes Problem sieht Jan Engelmann bislang noch in der Unausgeglichenheit innerhalb der Gruppe der Lexikon-Autoren. Nur rund zehn Prozent der Artikel werden von Frauen verfasst. Über die Gründe dafür mag Jan Engelmann nur spekulieren. Er will sich nicht festlegen, ob die Technikaffinität der Männer oder ihr Platzhirschverhalten, einen Themenbereich für sich abzustecken, ausschlaggebend dafür sein könnte. Er mutmaßt jedoch, dass es am unterschiedlichen Kommunikationsstil der Geschlechter liegen muss. Immerhin ließe sich so das Phänomen erklären, warum es kaum Alphabloggerinnen gebe, auch wenn Frauen den Großteil der Blogger darstellen. Mehr Frauen, Nicht-Akademiker und Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen als Wikipedia-Autoren zu gewinnen, zählt er momentan zu den wichtigsten Aufgaben des Wikimedia-Teams in Deutschland.

„Wir repräsentieren wahnsinnig viele Leute“

Und ein weiteres Thema liegt dem studierten Geisteswissenschaftler und langjährigen Journalisten sehr am Herzen: Es sei wichtig, dass sich Wikimedia zunehmend zum Thema Urheberrecht äußere. „In der Urheberrechtsproblematik gibt es ein großes Ungleichgewicht“. Auf der einen Seite gebe es eine starke Lobby für Urheber, die schon langjährig und hochprofessionell aktiv sei. „Neuerdings tritt aber auch ein Chor von Stimmen auf, der einen gewissen Ausschnitt der Internetnutzer repräsentiert.“ Er freue sich über politische Organisationen wie Digitale Gesellschaft und D64, aber auch Initiativen wie iRights.info, die sich für die Rechte von Urhebern einsetzen und Aufklärung leisten. Doch liege es letztlich am Urheber selbst, sich zu organisieren und in den Diskurs einzubringen, der momentan vor allem zwischen einem netzaktivistischen und einem industrie-lobbyistischem Pol verlaufe.

Und wo steht Wikimedia in der Diskussion? „Wikimedia sitzt völlig zwischen den Stühlen. Wir sind Teil einer großen sozialen Bewegung, haben aber kein wirtschaftliches Interesse.“ Die ehrenamtlichen Wikipedia-Autoren stellen ihre Artikel unter einer freien Lizenz ins Internet, wodurch sie frei bearbeitet und weitergegeben werden können. Dennoch sieht sich Engelmann als Lobbyist für die Urheber. Immerhin versammele die Wikipedia viele Tausende von ihnen, vermutlich weit mehr, als in Verwertungsgesellschaften registriert seien. Jedoch hätten ebendiese Urheber ein anderes Selbstverständnis und sich von Anfang an die Kultur des Teilens im Netz angepasst. „Das Internet ist ohne Teilen und Tauschen nicht denkbar, es war immer so konzipiert und das lässt sich nicht rückgängig machen“.

„Die Künstler sollen näher am Konsumenten sein“

Seiner Meinung nach sollten die Künstler näher am Konsumenten sein, um die Mittelsmänner zu umgehen. Engelmann versteht nicht, warum die Urheber ihre Interessen mit denen der Verwerter gleichsetzen, wenn der Löwenanteil der Einnahmen am Ende sowieso nicht an die Künstler selbst gehe. Jan Engelmann kennt sich aus in der Materie, hat er doch selbst eine Zeitlang in einem Verlag gearbeitet. Privat ist Engelmann mit seiner Band ebenso Urheber wie als Redakteur der politiktheoretischen Zeitschrift Polar. Nach seiner langjährigen journalistischen Tätigkeit kann er seiner Leidenschaft für das Schreiben dort weiterhin nachgehen.

Mit Wikimedia setzt sich Engelmann nun auch für Reformen beim geltenden Urheberrecht  ein. Erstens solle ein Werk möglichst früher als 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers in die Gemeinfreiheit entlassen werden. Zweitens müssten öffentlich finanzierte Werke und Daten, wesentlich leichter zugänglich und nachnutzbar sein, und drittens müsste man sich stärker als bislang um verwaiste Werke kümmern. Idealerweise sollten alle veröffentlichten Werke bei einer zentralen Registrierungsagentur auf europäischer Ebene angemeldet werden, der jeder interessierte Nutzer den aktuellen Copyright-Status entnehmen könnte.

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“

Bei der Heinrich-Böll-Stiftung, für die er vorher fünf Jahre lang als Referent für Kunst und Kultur tätig war, hat Engelmann sich zwar auch schon mit urheberrechtlichen Fragen beschäftigt, jedoch könne er mit seinen Wikimedia-Kollegen eine eigene Programmatik entfalten. „Wir sind zwar noch keine NGO, haben jedoch die Stimme und den Rückhalt der Community. Und wir haben in den vergangenen Jahren die Kompetenz angesammelt, eine schlagkräftige Organisation zu werden“. Es sei eine spannende Herausforderung, politische Hebelwirkung zu entfalten. „Für mich ist es reizvoll, von der Politik gehört zu werden und mir ihr in einen Dialog zu treten“. Deshalb hat er sich mit 40 zu einem Neustart bei dem Verein entschieden. „Wikimedia fühlt sich an wie ein Start-up, weil der Verein wächst, spannende Leute zusammenbringt und man die Möglichkeit hat, interessante Projekte zu machen“.

„Ich bin gut gelaunter Skeptiker“

Die Möglichkeit, im Internet Artikel nach dem Crowdsourcing-Prinzip zu schreiben und immer wieder mit neuen Inhalten anzureichern, fasziniert Jan Engelmann. Er wünscht sich, dass es bald noch viel mehr Wikipedias gibt und „Leute einfach mal machen“, ohne ausschließlich an ihre eigenen Interessen zu denken. Ob Wikipedia eines Tages zum „Weltkulturerbe“ ernannt wird, wie es der Mitgründer Jimmy Wales fordert, wagt Engelmann nicht zu prognostizieren. Immerhin: „Wikipedia existiert schon seit zehn Jahren. Eine Ewigkeit für das Internet“.

Privacy Preference Center