Beispiele für Nutzeranwendungen

Die Gratwanderung zwischen nationaler Identität und kultureller Beeinflussung von außen beschäftigt nicht nur Europa. Kanada steht vor der gleichen Herausforderung: Wie kann nationale Identität aufgebaut und erhalten werden – trotz aller inneren Gegensätze und äußeren Einflüsse?

In Kanada treffen viele Kulturen aufeinander: als zweisprachiges Land ist es geprägt von einer französischsprechenden Minderheit, die mit einer englischsprechenden Mehrheit – noch verstärkt durch die Nähe zu Amerika – konfrontiert wird. Das beliebte Einwanderungsland steht immer wieder vor der Aufgabe, neue Kanadier zu integrieren. Durch die späte Unabhängigkeit gibt es wenige kanadische Helden, die ein festes kulturelles und historisches Erbe bilden. Dass in Sachen nationaler Identität Handlungsbedarf besteht, illustriert nicht zuletzt die – vielleicht auf den Konsum amerikanischer Fernsehsender beruhende – Annahme jedes vierten Kanadiers, sein Land habe einen Präsidenten.

Kanadas strategische Antwort darauf besteht im Aufbau eines digitalen Archivs, das als Plattform für eine gemeinsame Öffentlichkeit dient. Dafür stellt der kanadische Staat jährlich 2 Millionen Euro zur Verfügung. Das Projekt wird in Kooperation zwischen dem französischsprachigen öffentlichen Rundfunkanbieter
Radio Canada und der
Canadian Broadcasting Corporation (CBC) für den englischen Sprachraum realisiert.

Ziele und Vorgaben des Projekts

Seit 1998 werden die flüchtigen audiovisuellen Mediendokumente aufbereitet und zu vergleichsweise geringen Diffusionskosten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Projekt sei weniger als Widerstand gegen die USA gedacht, möchte aber zeigen dass und erklären warum Kanada anders ist, positioniert Professor Pierre Bélanger, Experte für Medienrecht und -ökonomie an der Universität Ottawa, das digitale Archiv zum großen westlichen Nachbarn. Der kanadische Staat erscheint für seine Sponsortätigkeit mit seinem Logo im Portal, ohne weiteren Einfluss auf die Gestaltung der Inhalte zu nehmen. Die finanzielle Unterstützung kommt beiden Projektpartnern zu gleichen Teilen zugute – obwohl 60 % der Kanadier englischsprachig sind.

Das Archiv gibt keine Darstellung der Geschichte Kanadas, sondern überliefert Fakten zu Ereignissen jeder Art: vom Jahrhundertsturm bis zum Papstbesuch. Der Nutzer kann anhand von authentischen Dokumenten nachvollziehen, wie sich kanadische Medien dazu positioniert haben. Das digitale Archiv existiert bei identischem Layout und gleicher Navigationsführung in einer
französischen

und in einer
englischen Version. Beide Portale sind miteinander verlinkt. Der Benutzer gelangt jederzeit per Mausklick auf das Schlüsselwort „Archives“ in das anderssprachige Pendant. Nur die jeweilige Perspektive auf ein Ereignis variiert: so wird beispielsweise das Streben nach Unabhängigkeit in den französischsprachigen Medien anders thematisiert als in den englischsprachigen. Die beiden öffentlichen Räume bieten mit ihren komplementären Blickwinkeln die Möglichkeit, den Standpunkt des jeweils anderen in der spezifischen Landessprache kennen zu lernen. Der Abruf der Medieninhalte bleibt für den Nutzer kostenlos. Mit der Konsultation von Dokumenten, erwirbt er nicht das Recht, diese auch zu veröffentlichen. Die öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten CBC und Radio Canada bieten Benutzern als Service nur den Zugang zu medialen Inhalten, bleiben aber selbst die Copyright-Inhaber.

Beispiele für Nutzeranwendungen

Interessiert sich der Nutzer für die Reaktion der Kanadier auf den Papstbesuch 1984, erhält er ausführliche Informationen dazu. Auch die Frage, wie Kanada den 11. September 2001 erlebte, bleibt nicht unbeantwortet. Kurz: Das nationale digitale Archiv gibt Antworten auf die Frage, welche Vision der Welt Kanada vertritt. Es enthält über 7000 Radio- und Fernseh-Clips, die in 8 Kategorien unterteilt sind. Zur leichteren Navigation gibt eine Zeitleiste in jeder von ihnen die Themenkomplexe und die im Archiv erfasste Dauer von Ereignissen in der Zeit von 1920 bis 2005 an.

Organisation des digitalen Archivs

Von den 31 Festangestellten arbeiten 18 in Montreal und 13 in Toronto an der Aufbereitung des audiovisuellen Materials. Einmal im Monat findet ein Treffen statt, um die Aktivitäten zu koordinieren und Themen festzulegen. Eine wichtige Voraussetzung für die Dokumentation im Archiv ist die Verfügbarkeit von Medienaufnahmen bei beiden Kooperationspartnern. So kann beispielsweise der Fall der Amerikanerin Terri Schiavo von Radio Canada nicht dokumentiert werden, da die französischsprachige Anstalt keine Dokumente über sie besitzt und der Anspruch besteht, möglichst unsynchronisierte Originalaufnahmen bereitzustellen. Aus diesem Grund sind jeweils

7 % der Dateien nur in einer der beiden Landessprachen verfügbar. Mit rund 85 % liegt jedoch ein großer Teil der Dateien zweisprachig vor. Weitere Kriterien für die Themenauswahl sind der qualitative Zustand von medialen Dokumenten und die Einhaltung der Urheberrechte.

Inhaltliche und formale Herausforderungen

Trotz einer hohen Akzeptanz wird das digitale Archiv auch mit inhaltlichen und formalen Schwierigkeiten konfrontiert. Zum Beispiel wird in der Kategorie „Leben und Gesellschaft“ auf die Geschichte des Nationalhelden Terry Fox eingegangen. Der an Krebs erkrankte Kanadier lief mit einem künstlichen Bein einen inzwischen legendären „Marathon of Hope“ und sammelte so unter hoher Medienresonanz Spenden für die Krebsforschung. Während Terrys Kampf mit seiner Krankheit in Toronto intensiv verfolgt und gefeiert wurde, ignorierte Montreal das Schicksal des englischsprechenden Kanadiers. Seine Leistung, 143 Tage täglich über 42 Kilometer zu laufen, wird am 25. Jahrestag seines Marathons mit einer 1-Dollar-Prägemünze, dem sogenannten „Terry“ gewürdigt. Das Frappante: Auf den unfreundlichen Empfang in Montreal finden sich im französischsprachigen Portal keine Hinweise.

Ein Hindernis formaler Natur bilden urheberrechtliche Bestimmungen. Obwohl Celine Dion eine bekannte Kanadierin ist, findet der User in der Kategorie „Kunst und Unterhaltung“ kaum Informationen über sie. Der Grund dafür liegt in den Copyright-Bestimmungen. In Toronto und Montreal gibt es jeweils einen Rechtsberater, der sich für die häufig mit hohen Kosten verbundene Befreiung der Medieninhalte von Copyrights einsetzt.

Bewertung des Archivs

Nach einer vierjährigen Aufbauphase des Archivs werden heute zunehmend die Auswirkungen auf die Konstruktion nationaler Identität erforscht. Dafür steht ein Budget von 60.000 Euro zur Verfügung. Die Reaktionen auf das digitale Archiv sind gemischt. Während es die englischsprachigen Provinzen akzeptieren, bleibt die französische Minderheit skeptischer, weil der Staat als Geldgeber involviert ist. Jeden Monat werden etwa 500.000 Seiten aufgerufen, davon etwa 320.000 im Portal der CBC und 200.000 bei Radio Canada.

Das Projekt ist Teil der Förderung des Department of Canadian Heritage, welches sich mit dem Programm Canadian Culture Online (
CCO) für die Entwicklung von und den freien Zugang zu digitalem kulturellen kanadischen Content einsetzt und dabei zu gleichen Teilen auch die Präsenz der französischen Sprache im Internet unterstützt..