Der ehemalige SPIEGEL-Chefredakteur und Autor des Buches "Der Baader-Meinhof-Komplex", Stefan Aust, war am 18. September 2008 zu Gast im Chat von tagesschau.de und politik-digital.de. Auf Austs Buch basiert der gleichnamige Film, der am 24. September 2008 in die Kinos kommt. Der Journalist beantwortete Fragen zu den Schauspielern, der Arbeit mit Bernd Eichinger und Uli Edel sowie der Gewaltdarstellung im Film.
Aust im politik-digital.de-Chat

Moderatorin: Herzlich willkommen zum tagesschau-Chat – heute zum Thema RAF und dem nächste Woche startenden Spielfilm "Der Baader-Meinhof-Komplex". Stefan Aust darf ich als unseren Gast begrüßen – der langjährige Spiegel-Chefredakteur fungierte als Drehbuchautor. 1985 ist sein gleichnamiges dokumentarisches Buch zur RAF erschienen. Herr Aust, können wir loslegen?

Stefan Aust: Natürlich. Im Stammheimer Prozess hatte Richter Prinzing eines Tages den Prozesstag eröffnet mit den Worten: Na, Herr Raspe, dann schießen Sie mal los.
Man kann ja Themen auf verschiedene Weisen darstellen. Am ausführlichsten und detailreichsten geht das mit einem Buch. Das habe ich damals probiert und habe das Buch immer wieder auf den neuesten Stand gebracht, so dass jetzt nach fast 25 Jahren eine komplett neue Version erschienen ist. In Dokumentarfilmen müssen Sie sich ja auf das stützen, was es im Bild gibt und auf Aussagen von Zeugen. Die wirklichen Bilder spielen sich dann im Kopf des Betrachters ab, das ist so ähnlich wie beim Buch.
Ein Spielfilm entwickelt eine vollständig andere Kraft. Die Bilder, die Sie dort sehen, wenn Sie entsprechend inszeniert und gespielt sind, erscheinen wie die Wirklichkeit. Sie brennen sich auf eine ganz andere Weise im Gehirn des Betrachters ein. Das ist natürlich auch eine Gefahr, denn man könnte das Filmbild für die Realität nehmen. Deshalb ist es wichtig deutlich zu machen, dass es sich um einen Spielfilm handelt – und nicht um eine nachgedrehte Dokumentation.

Moderatorin: Wie hoch ist der fiktive Anteil?

Stefan Aust: Der fiktive Anteil im Baader-Meinhof-Komplex (im Spielfilm) ist sehr gering. Wir haben uns bei dem Ablauf der Ereignisse im Wesentlichen auf das konzentriert, was so oder so ähnlich tatsächlich geschehen ist. Allerdings mussten an manchen Stellen, um die Zusammenhänge deutlich zu machen, kleine fiktive Passagen, zum Beispiel Dialoge, eingebaut werden, um dem Zuschauer deutlich zu machen, wie einzelne Ereignisse zusammenhängen. Diese Teile sind aber nur wie Brücken, während die tatsächlichen wichtigen Geschehnisse, so gut es in einem Spielfilm geht, aus einer Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse bestehen.

Schekker: Was glauben Sie, wie die Hinterbliebenen der Opfer des RAF-Terrors auf die doch zum Teil drastischen Szenen (besonders am Filmende) reagieren werden? Haben Sie schon ein Feedback von Hinterbliebenen?

Stefan Aust: Ich habe eine Reaktion des Sohnes von Hanns-Martin Schleyer, Jörg Schleyer, der für die Bildzeitung den Film angesehen hat. Seinem Text habe ich entnommen, dass er sehr bewegt von dem Film war. Natürlich kamen auch bei ihm die alten Emotionen, die Empörung über die Ermordung seines Vaters hoch. Er hat aber festgestellt, wie ernsthaft wir mit dem Thema umgegangen sind. Wir haben sehr versucht –  und es ist uns vielleicht auch geglückt – die Würde seines – auf bestialische Weise – entführten und ermordeten Vaters zu respektieren. Ich kann nur hoffen, dass das den Angehörigen anderer Opfer ähnlich geht. Wir hatten ja beim Film mit  Absicht die Ereignisse so realistisch wie möglich dargestellt. Dazu gehört es, Terrorismus als das zu zeigen, was er ist – symbolische Gewalt mit echten Toten. Denn Terrorismus ist ja in gewissem Sinne immer Kommunikation, allerdings eine Kommunikation mit wirklichen Toten. Das, was die RAF in ihren Texten immer als Primat der Praxis bezeichnete – Terrorstrategie -, vernachlässigt, beziehungsweise blendet aus, dass es sich bei den Opfern immer um Menschen aus Fleisch und Blut handelt.  Den Angehörigen mit Ehemännern, Ehefrauen, Vätern und Söhnen gerecht zu werden, haben wir uns sehr bemüht. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass das nicht immer gelungen ist. Wir haben uns aber sehr viel Mühe gegeben.

ThommiHH: Hatten die Hinterbliebenen der damaligen Opfer bei der Produktion des Films ein "Mitspracherecht"?

Stefan Aust: Wenn Sie einen solchen Film machen, dann müssen Sie souverän und verantwortungsvoll mit Ihrem Stoff umgehen. Deshalb müssen Sie sich schon selbst zutrauen, bei der Auswahl der Ereignisse die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Verantwortung kann ihnen niemand abnehmen, auch kein Angehöriger.

Lipwig: Inwieweit waren Sie an der Schauspielerwahl beteiligt?

Stefan Aust: Die Wahl der Schauspieler, so wie des gesamten Teams, lag in der Hand des Produzenten Bernd Eichinger und des Regisseurs Uli Edel. Ich habe mich da nicht eingemischt. Ich habe den Stoff geliefert und dort Hilfe und Rat gegeben, wo es gewünscht war. Wir haben aber so eng zusammengearbeitet, wie man sich das als Autor nur wünschen kann. Aber ich glaube, man darf sich nicht übernehmen, wenn man die Grundlage für einen solchen Film geliefert hat. Die Basis der Zusammenarbeit war ein großes Vertrauen, dass ich vor allem Bernd Eichinger von Anfang an entgegengebracht habe. Ich kann mir allerdings auch nicht vorstellen, wenn man mit mir die Wahl der Schauspieler vorher diskutiert hätte, dass ich zu irgendeinem anderen Ergebnis gekommen wäre. Ich glaube, wir haben das beste Filmteam zusammenbekommen, das man sich hätte wünschen können.

Moderatorin: Im ZEIT-Magazin haben Sie erzählt, dass Ihnen erst durch den Film klar wurde, weshalb Ulrike Meinhof nach einer Verhaftung weint – wie konnte das passieren?

Stefan Aust: Ganz so ist es nicht gewesen. Als ich den Film das erste Mal sah, sah ich bei der Verhaftung von Ulrike Meinhof in Hannover etwas, was mich sehr bewegt hat. Ulrike Meinhof nämlich fing an, hemmungslos zu weinen und fiel plötzlich damit aus ihrer Terroristenrolle heraus. Ich hatte den Eindruck, dass ihr hier an dieser Stelle das erste Mal wirklich klar wird, auf was für einen schrecklichen Weg sie sich begeben hat. Das jedenfalls ging ihr durch den Kopf.

Moderatorin: Während Sie den Film sahen?

Stefan Aust: Genau in dieser Situation. Und im Anschluss daran fragte ich Eichinger: Stimmt das eigentlich? Und dann sagte er so etwa: Das hast du doch selbst aufgeschrieben. Und das war tatsächlich so. Aus den Ermittlungsakten und auch aus den Fotos ging genau das hervor. Aber im Buch ist das ein Satz: "Ulrike Meinhof begann hemmungslos zu weinen". Wenn Sie eine solche Szene dann im Film sehen, dann merken Sie erst wirklich, welche Bedeutung das hat. Oder haben könnte, denn genau weiß es natürlich keiner, was sich damals tatsächlich im Kopf von Ulrike Meinhof abgespielt hat.

Moderatorin: Konnten Sie mit Ihr darüber noch irgendwann mal reden?

Stefan Aust: Nein. Ich habe Ulrike Meinhof zwar vorher gekannt, aber nachdem sie in den Untergrund abgetaucht war, habe ich sie nie wieder gesehen oder gesprochen. Das war ja gerade das Problem, dass die RAF-Mitglieder die Brücken zu ihrer Vergangenheit und zur sonstigen Welt gleichsam abgebrochen hatten. Sie haben sich ja nicht erst in der Haft vom Rest der Welt abgesondert, sondern auch schon während der Zeit im Untergrund ein vollkommen von der Welt und auch von der Realität abgetrenntes Leben geführt. Sie haben deshalb Einwände, Bedenken anderer kaum noch wahrgenommen. Sie waren isoliert, schon lange bevor sie in Haft waren.

Busted: 1967 kam der Film „Bonnie und Clyde“ in die Kinos, ein von Andreas Baader mehrfach gesehener Film, dessen Ästhetik der Gewalt in der Selbstinszenierung der RAF vielfach wiederzufinden ist. Sehen Sie in der jetzigen filmischen Darstellung nicht eine ebensolche ästhetische Romantisierung gescheiterter Außenseiter wie damals?

Stefan Aust: Natürlich ist das Problem jedes Films, dass der Betrachter in die Geschichte seiner eigenen Fantasien eindringen kann und dann möglicherweise mit ganz anderen Erkenntnissen oder Erfahrungen aus dem Kino herauskommt, als es Autor, Produzent und Regisseur sich vorgestellt haben. Und natürlich hat zum Beispiel Andreas Baader, das weiß ich ja aus meinen eigenen Recherchen, sich ein Stück nach literarischen Vorbildern und auch filmischen Vorbildern positioniert. Ich habe neulich erst einen sehr alten Film mit Marlon Brando gesehen, "The Wild One". Da fällt eine Motorradgang unter Leitung und Führung von Marlon Brando irgendwann in den 50er Jahren in eine amerikanische Kleinstadt ein. Das hat mich sehr an das erinnert, was 15 Jahre später Andreas Baader und der Rest seiner Truppe in der Bundesrepublik gemacht hat. Und in der Tat kann ich mich auch entsinnen, dass der Film "Bonnie und Clyde" in der gewaltsamen Phase der zerbröckelnden Studentenbewegung von vielen Leuten geradezu als Kultfilm angesehen wurde. Dabei handelte es sich aber um eine Art von Verklärung der Gewalt, auch um eine Art Romantisierung von Gewalt. Wir haben versucht, das in dem Film "Der Baader-Meinhof-Komplex" zu vermeiden. Deshalb ist ja auch die Darstellung von Gewalt in dem Film sehr sachlich, sehr hart und sehr realistisch und nicht gewollt spektakulär oder mit filmischen Mitteln verfremdet. Aber Terrorismus ist Gewalt. Sie können keinen Film über Terrorismus machen und dabei die Gewalt ausblenden.

Moderatorin: Die Meinhof-Tochter Bettina Röhl kritisierte vor ein paar Tagen auf Welt online, dass Eichingers Film den "Mythos RAF" zementiert. Sie schrieb "Der Baader-Meinhof-Film ist der Gau: Mehr Heldenverehrung geht nicht!"

Wullenwever: Was sagen Sie zu der Kritik von Bettina Röhl an dem Film?

Stefan Aust: Bettina Röhl hat offenbar einen Artikel geschrieben, ohne den Film gesehen zu haben. Ich kenne die Tochter Ulrike Meinhofs ja seit vielen Jahren und ich kann in gewissem Umfang verstehen, welches Problem sie mit der Darstellung der Geschichte ihrer Mutter hat. Schließlich ist ihr die Mutter zwei Mal genommen worden. Einmal ist ihr sozusagen die Mutter von der Terroristin Ulrike Meinhof genommen worden. Zum zweiten ist Ulrike Meinhof zu einer öffentlichen Figur geworden. Ihr ist ihre Mutter gleichsam zum zweiten Mal von der Öffentlichkeit genommen worden. Dass das Spuren hinterlässt, kann ich nachvollziehen.

Phazzer: Es ist und bleibt dennoch nur die Sicht des äußeren Kreises, wirft Ihnen z.B. Bettina Röhl vor. Wie sehen Sie das?

Stefan Aust: Ich verstehe nicht, wieso Bettina den inneren Kreis kennen soll. Natürlich habe ich meine journalistische Sicht der Dinge. Ich habe ja lange sehr umfangreich recherchiert und jeder kann zu diesem Thema seine eigenen Recherchen anstellen und auch seine eigenen Bücher schreiben. Das tut Bettina Röhl ja auch und das ist ihr gutes Recht. Natürlich kann sie auch die Arbeit von anderen kritisieren, auch das ist ihr gutes Recht

Moderatorin: Letzte Frage mit Bitte um kurze Antwort – Ihre Agentin steht schon in der Tür und will Sie uns entreißen: Kann man im Jahr 2008 bereits rational und unemotional über die RAF diskutieren oder ist die Gesellschaft noch zu nah an der Geschichte dran?

Stefan Aust: Ich glaube der Abstand ist im Augenblick so groß, dass man einen nüchternen Blick auf die schrecklichen Ereignisse von damals werfen kann. Das Erstaunliche ist ja, dass zwischen dem deutschen Herbst ’77 und heute ungefähr soviel Zeit verstrichen ist wie zwischen der Zeit der Studentenbewegung und dem Ende des zweiten Weltkrieges und des Dritten Reiches. Auch wenn man beide Ereignisse nicht so ohne weiteres miteinander vergleichen kann, scheint es mir so zu sein, dass eine Generation verstreichen muss, um die Ereignisse sachlich beurteilen und diskutieren zu können. Ich bedanke mich für dieses Gespräch.

Moderatorin: Vielen Dank Stefan Aust, dass Sie Zeit für uns hatten! Dank auch an all die Leser/innen und Fragensteller/innen. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass wir nicht alle Fragen aufgrund der knappen Zeit stellen konnten. Vor allem Fragen zum Thema "Spiegel" waren nicht möglich, da wir das Thema RAF angekündigt hatten und dazu die meisten Fragen eintrafen und auch nicht drankamen. Auch dafür bitte ich Sie um Verständnis. Bis zum nächsten Mal!

Der Chat wurde moderiert von Corinna Emundts, tagesschau.de Berlin.

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