Ludwig Georg Braun
im tacheles.02-Chat am 03.05.2004
Moderator: Liebe EU-Freunde
und -Gegner, willkommen im tacheles.02-Chat. Die Chat-Reihe tacheles.02
ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt
von tagesspiegel.de und von sueddeutsche.de. Zum Chat begrüße
ich heute den Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertags,
Ludwig Georg Braun. Herr Braun chattet von Melsungen aus, dem Sitz des
Medizintechnik-Unternehmens, B.Braun Melsungen AG, das er leitet. Können
wir beginnen Herr Braun?
Ludwig
Georg Braun: Ja!
Moderator: Über drei Themenbereiche wollen wir
heute reden: Über das neue Europa, die beliebte Ausbildungsplatzabgabe
und die Sparpolitik der rot-grünen Koalition (Stichwort „Kaputt-Sparen").
Sie können zu allen Themen (und natürlich auch zu anderen)
bereits Fragen stellen.
Ludwig Georg Braun: Ich heiße Sie alle sehr
herzlich willkommen und freue mich, Gelegenheit zu haben, über
dieses neue Medium mit Bürgern unseres Landes zu kommunizieren.
tempo: Wird die EU Erweiterung endlich die nötigen
Reformen ankurbeln und beschleunigen, oder wird Deutschland mit steigendem
Wettbewerb untergehen?
Ludwig Georg Braun: Ich glaube schon, dass die EU-Erweiterung
in unserm Land Reformen angestoßen hat und glaube, dass die wieder
aufgeflammte Diskussion über Vor- und Nachteile des Beitritts der
MOE-Länder eine neue Beweglichkeit in Hinblick auf tarifliche Flexibilitäten
in Deutschland bewirkt.
Moderator: MOE = Mittelosteuropäische Länder
oder liege ich da falsch, Herr Braun?
Ludwig Georg Braun: Richtig.
serg: Werden die Jahre der Übergangsregelungen
bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit
ausreichen, um unsere Arbeitsplätze zu schützen?
Ludwig Georg Braun: Die beste Möglichkeit, deutsche
Arbeitsplätze zu schützen, gelingt nicht durch gesetzliche
Begrenzungen oder Ausgrenzungen, sondern durch höhere Leistungsfähigkeit,
die unseren Produkten Wettbewerbsvorteile gibt. Wir müssen den
Rohstoff des 21. Jahrhunderts fördern, d. h. Bildung in Schule,
Universität und Betrieben und nicht an der Förderung des Rohstoffes
des 19. und 20. Jahrhunderts, wie z. B. der Steinkohle festhalten.
bildhauer: Wo sehen Sie die wirtschaftliche Zukunft
Deutschlands? In der Produktion können wir mit den Billiglohnländern
wohl kaum konkurrieren, oder?
Ludwig Georg Braun: Freizügigkeit von Arbeitnehmern
war auch schon bei den Beitritten Spaniens, Portugals und Griechenlands
ein Thema, das vorzeitig auf die Übergangsregelung verzichten ließ.
Wir können sehr wohl unter Einsatz modernster Technik, gekoppelt
mit hohem Wissen, mit Ländern wesentlich niederer Entgeltstrukturen
in Wettbewerb treten und so unsere Produktionsbasis sichern. Wichtig
ist dabei, flexibel auf unterschiedliche Herausforderungen reagieren
zu können. Hier sind unsere tariflichen Vereinbarungen zu wenig
individuell.
Autoklau: Die Öffentlichkeit ist ambivalent gegenüber
der Erweiterung eingestellt. Waren da ihre Aussagen zum Outsourcing
hinderlich, gewisse Ängste in der Bevölkerung abzubauen?
Ludwig Georg Braun: Nein, auf keinen Fall. Ich habe
nur kleinen und mittelgroßen Unternehmen versucht, Mut zu machen,
die Chancen der sich öffnenden Märkte zu nutzen. Dazu muss
man mit einer Vertretung einer eigenen Firma oder einem Joint Venture
in diesen Ländern aktiv sein. Kein Pole kommt nach Deutschland,
um hier den Teppichfußboden für seinen Neubau einzukaufen.
Es geht also darum, Chancen zu nutzen, die ich vor allem im höheren
Managementwissen bei deutschen Unternehmern sehe.
Moderator: Managementwissen geht aber schnell verloren
Letten, Litauer, Polen etc. lernen so schnell wie unsere jungen Leute
– wenn das der einzige Vorteil ist?
Ludwig Georg Braun: Das sehe ich nicht so, sonst wäre
die New Economy nicht so schnell gescheitert und dies ist sie weil ihr
Managementerfahrung gefehlt hat.
Psalmer: Die Neuen haben Ansprüche auf Mittel
aus allen Strukturförderungsfonds. Werden diese Gelder den neuen
EU-Mitgliedern helfen, in der wirtschaftlichen Entwicklung aufzuholen?
Und uns im Osten fehlen? Oder uns helfen, wenn die Märkte dort
florieren?
Ludwig Georg Braun: Angenommen Sie stammen aus den
neuen Bundesländern, dann haben 1500 Milliarden Transfermittel
dazu verholfen, die Strukturdefizite wie sie eine Regierung verändern
kann auszugleichen. Der Rest, z.B. fehlende Industriedichte, muss aus
der Region heraus entstehen, weil Großtransfers von Unternehmen
zwar bedeutend bleiben, aber beschäftigungspolitische Strukturprobleme
nicht lösen. Wenn die Märkte dort florieren, haben wir auch
die Perspektive erhöhter Zulieferung, was zudem noch verstärkt
werden könnte, wenn unsere Unternehmen dort mit Vertriebsorganisationen
präsent sind.
Moe: Teilen Sie die Befürchtung, dass durch die
Strukturgelder Erwartungen in den neuen Ländern geweckt werden
und andere Firmen in diese Sektoren (Bau, Infrastruktur…) wechseln,
nur weil sie dann EU-Gelder erhalten, dass Marktkräfte und der
Wettbewerb verzerrt werden?
Ludwig Georg Braun: Die MOE-Länder bekommen wesentlich
weniger aus der EU-Kasse als wir jährlich von der Bundesrepublik-West
in die BRD-Ost transferieren. Man kann es auch als den Ausgleich eines
entwicklungspolitischen Handicaps bewerten, wenn die MOE-Länder
nun Mittel bekommen, um z. B. die verkehrstechnischen Anbindungen an
den Westen oder umweltbezogenen Investitionen in Städten und Gemeinden
zu ermöglichen.
Ralfbe: Meiner Meinung nach versuchen die Unternehmer
die Osterweiterung als Druckmittel gegenüber den Arbeitnehmern
hierzulande zu nutzen. Wäre es nicht vielmehr wünschenswert,
wenn gewisse Sozialstandards nicht abgebaut, sondern europaweit durchgesetzt
werden? Das "Projekt Europa" ist doch wohl mehr als der marktliberale
Diskurs, den auch sie hier vertreten!
Ludwig Georg Braun: Viele unserer europäischen
Mitgliedsstaaten haben sich in den zurückliegenden Jahren auf die
aus der Internationalisierung der Weltwirtschaft ergebenen Konsequenzen
richtig und reformkonsequent eingestellt. Wenn das in Deutschland bisher
noch nicht erfolgt ist, hat das nichts mit der Osterweiterung zu tun,
sondern mit Sturheit bestimmter gesellschaftlicher Kräfte. China
freut sich darüber, weil die Egoismen auch deutscher Verbraucher,
immer nur das günstigste Produkt einzukaufen zu beabsichtigen,
weiterhin gelten wird. Wie wir unsere Bürger zu anderen Konsumverhalten
bewegen wollen, bei gleichzeitiger Erhaltung individueller Freiheiten,
bleibt bei den Kritikern einer Einforderung von Reformen offen.
Abgabebfeind: Wer ist denn so stur?
Ludwig Georg Braun: Diejenigen sind stur, die veränderte
Weltwirtschaft immer noch glauben, allein aus der deutschen Brille beurteilen
zu können.
Moderator: Noch mal zwei Fragen zur unterschiedlichen
Einschätzung von Öffentlichkeit und Wirtschaft in Sachen EU-Erweiterung:
Psalmer: Über zwei Drittel der Bundesbürger erwarten die Abwanderung
von Firmen, fast genauso viele einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Müssen
sie da besser aufklären?
Chbuehler: Herr Braun, wo sehen Sie die ganz konkreten Möglichkeiten,
in der öffentlichen Diskussion den von der Bevölkerung gesehenen
Risiken (Billiglohnländer etc.) die Vorteile gegenüberzustellen?
Ludwig Georg Braun: Sicher haben wir Aufklärungsbedarf,
was am besten am Kaufverhalten des einzelnen dargestellt werden kann.
Denn jeder von uns nutzt für sich den Wettbewerb z. B. in Sonderangeboten,
oder in langfristigen Kaufkontrakten oder einem günstigen Trade
In seines Altproduktes. Unsere Arbeitskraft ist über die Internationalisierung
auch zu einem Handelsprodukt geworden. So sind z. B. 4,5 Millionen Arbeitslose
zu den heutigen Bedingungen nicht mehr wettbewerbsfähig. Wir müssen
uns bewusst machen, dass die aufgebaute in der BRD vorhandene Produktionskapazität
von der Binnenkonjunktur allein nicht mehr wird leben können. Wir
sind also – wenn es zu keiner weiter erhöhten Arbeitslosigkeit
kommen soll – ganz stark von der Teilnahme in Wachstumsmärkten
angewiesen. Dies geschieht am besten über internationale Arbeitsteilung.
Auf diese Weise sichern wir Arbeitsplätze bei uns und fördern
gleichzeitig das Wachstum in Märkten mit großem Nachholbedarf.
Moderator: Neues Thema: Das Wochenende brachte eine
Menge Berichte über einen Kurswechsel der rot-grünen Koalition
in der Finanzpolitik. Mehr Staatsgeld ausgeben, um die Konjunktur anzukurbeln.
Finanzminister Eichel sagt nun, von Umkehr könne keine Rede sein.
Alle Berichte vom Wochenende sind "grundfalsch", erklärt
er. Sind für Sie die Signale aus der Bundesregierung noch klar?
Ludwig Georg Braun: An der Sparpolitik darf nicht
gerüttelt werden, im Gegenteil, sie muss noch konsequenter bei
Bund, Land und Kommunen durchgesetzt werden. Gesamthaft kann gesagt
werden, dass die Verwaltung der Bürger im Staatsgebiet Deutschlands
zu teuer ist für das, was der Bürger dafür erhält.
Die Privatisierung vieler öffentlicher Dienstleistungen ist geboten.
Das Beamtenrecht ist auf den Prüfstand zu stellen. Und der Föderalismus
sollte auf eine geringere Anzahl Bundesländer hin betrieben werden.
Die Zusammenlegung von Ministerien, auf allen Regierungsebenen wäre
ein Vorschlag, der begleitet werden sollte durch die Konzentration der
Bundesregierung ausschließlich in Berlin mit Aufgabe Bonn.
Moderator: Wir haben noch viele Fragen zum Thema Arbeitslose
und Wettbewerbsfähigkeit, bleiben aber noch einen Moment beim neuen
Finanzkonzept der rot-grünen Koalition.
tutz: Wenn Eichel die Stabilitätskriterien bricht,
ist das ein falsches Signal an die neuen Länder, es ihm gleich
zu tun? Erleidet die EU damit auf den Finanzmärkten einen Vertrauensverlust?
Ludwig Georg Braun: Ohne Zweifel hier hat das Brechen
der Finanzkriterien durch die Bundesrepublik uns einen deutlichen Imageverlust
beschert. Da die kleineren Länder die Kriterien weitgehend erfüllen,
können wir neben Frankreich und Italien wesentlich schwerer auf
Einhaltung und Konsolidierung der Staatshaushalte drängen. Zusammengefasst
wir haben einen Trumpf der Einflussnahme auf Europa aus der Vorbildfunktion
aufgegeben.
abbau: Allerdings sind auch die Institute über
das Vorgehen uneins. Die Mehrheit hält es für erforderlich,
dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt eingehalten und ein zusätzliches
Sparpaket aufgelegt wird. Das Berliner DIW und das IWH aus Halle schlagen
dagegen vor, die Konsolidierung mittelfristig durch einen verbindlichen
Ausgabenpfad voranzutreiben und Einnahmen je nach Konjunkturverlauf
schwanken zu lassen. Wem stimmen sie zu?
Ludwig Georg Braun: Ich stimme erstmal dem zusätzlichen
Sparpakt auf allen Ebenen (Bund, Land, Kommunen) zu. Und das zweite
ist ein Umschichten von Ausgaben zu Lasten der Alten und zu Gunsten
der Bildung oder Jugend.
Zum: Die Wirtschaft lahmt, die Politik soll was tun:
wo sollte sie sparen und wo investieren? Was ist denn falsch am Kurswechsel?
Wenn die Regierung nichts machen würde, würden auch alle schimpfen?
Ludwig Georg Braun: Am Kurswechsel, wenn man Agenda
2010 meint, ist die Kritik nur, dass er nicht weit genug geht, um schneller
Wirkung zu zeigen. Herr Herzog hatte einen Ruck gefordert, der durchs
Land gehen müsse. Mit dem Abmildern der Einschnitte kommt es immer
wieder zu Hinnahmen, die aber nicht zu der veränderten Einstellung
führen. Neben dem, was die Politik tun kann, sind an erster Stelle
die Unternehmen gefordert. Innovation ihrer Produkte und Dienstleistungen
sind die wichtigste Aufgabe und notwendige Gedanken zu Mergers und Akquisitionen.
Waigel: Fehlt Eichel ein klares Konzept in der Finanzpolitik?
Ist er der richtige Mann oder gehört er ausgewechselt? Den Bundesbank-Chef
hat er ja auch abgesägt!
Ludwig Georg Braun: In der Steuerpolitik hat er zwar
ein Konzept, aber dieses halte ich den Ziel der Standortverbesserung
Deutschlands als nicht ausreichend dienend. Es bringt nichts die Einkommens-
und Körperschaftssteuern zu senken, und gleichzeitig eine Mindestbesteuerung
einzuführen oder über die Länder die Diskussion um Gewerbesteuer,
Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer neu zu beleben. Was wir brauchen
ist ein Abgleich zu den wichtigsten Investorländern, um dem Standort
eine steuerliche Grundattraktivität zu geben. Dann kommen dazu
die anderen Faktoren, die einen Standort attraktiv machen: Arbeitsplatzattraktivität,
Forschungspotential, um nur zwei zu nennen.
Moderator: Wir sind bereits am Ende der Stunde angelangt.
Noch eine letzte Frage zur Ausbildungsplatzabgabe.
treiber002: Warum sind Sie so sehr gegen eine Ausbildungsplatzabgabe?
Glauben Sie, die Industrie würde sich auch nur ein bisschen bewegen
ohne die Androhung eines solchen Gesetzes?
Ludwig Georg Braun: Die Industrie hat im zurückliegenden
Jahr bei einer deutlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit geschafft, die
Minderung der Ausbildungsplätze auf wenige Tausend zu begrenzen.
Ein Beispiel dafür ist die Wirtschaft, die ihre Verantwortung gegenüber
jungen Menschen am Ende ihrer Schulzeit wahrnimmt. Eine Ausbildungsplatzabgabe
würde dazu führen, dass viele Betriebe ihre außergewöhnlichen
Anstrengungen, die weit über die Kosten einer Ausbildungsplatzabgabe
hinausgehen, unterlassen würden. Wahrscheinlich mit dem Argument,
der Staat will’s besser richten, so soll er’s doch! Dies führt
zu einer weiteren Verschulung der Berufsausbildung ohne betriebliche
Bindung und ohne Anpassung an den zukünftigen Bedarf mit der Konsequenz,
dann zwar eine schulische Berufsausbildung zu haben, aber in einem Berufsfeld,
das in hohem Maße nicht nachgefragt wird. Beispiele hierfür
gab es aus den vielen Umschulungsprogrammen der ehemaligen Arbeitsämter
und den Weiterbildungsmaßnahmen dieser Institutionen.
Moderator: Unsere Chat-Stunde ist leider bereits vorbei,
vielen Dank für das große Interesse. Vielen Dank Herr Braun,
dass Sie sich die Zeit genommen haben. Die Transkripte aller Chats finden
Sie auf den Seiten der Veranstalter. Zum nächsten Chat kommt Gesine
Schwan, Kandidatin von SPD und Grünen für das Amt der Bundespräsidentin.
Der Chat findet am kommenden Donnerstag, 6. Mai um dreizehn Uhr statt.
Das tacheles.02-team wünscht allen Teilnehmern noch einen schönen
Tag. tacheles.02 ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de
und wir unterstützt von tagesspiegel.de und sueddeutsche.de.
Ludwig Georg Braun: Ich fand die Fragen sehr interessant
und aufschlussreich. Ich hoffe, mit meinen Antworten einige Klarstellungen
und Hintergründe für wirtschaftliche Entscheidungsebenen gegeben
zu haben. Herzlichen Dank!