Am
Dienstag, 24. Oktober, war Reinhard Bütikofer,
Bundesvorsitzender der Grünen, zu Gast im tagesschau-Chat in
Kooperation mit politik-digital.de. Er diskutierte mit den Nutzern
über die Jamaika-Koalition, die Politik der Grünen und
ihre Rolle als Opposition.
Moderator: Herzlich willkommen zu 60 Minuten tagesschau-Chat.
Zu Gast im ARD-Hauptstadtstudio ist heute Grünen-Parteivorsitzender
Reinhard Bütikofer. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Herr
Bütikofer. Unsere Leser werden Ihnen Fragen aus allen Politikbereichen
stellen. Können wir beginnen?
Reinhard Bütikofer: Schönen guten Tag,
schießen sie los!
Hope: In der Opposition hört man zu den politischen Entwicklungen
gar nicht so sehr unterschiedliche Kritik von Seiten der FDP und
seitens der Grünen! Man hat den Eindruck, da sind eine Reihe
von Gemeinsamkeiten – warum nicht der Versuch, als Jamaika das umzusetzen,
was konsensfähig ist. ALLES ist besser als der jetzige Zustand!
Die CDU mit Gelb und Grün unter einem Kanzler Schäuble
oder einem der derzeitigen CDU-Ministerpräsidenten könnte
sicher etwas bewegen!
Reinhard Bütikofer: Ich glaube, man muss, wenn man es wirklich
ernst meint, schon genauer hinschauen. Ein großes Streitthema
ist gegenwärtig die Gesundheitsreform, da gehen die Positionen
in Wirklichkeit diametral auseinander. Wir wollen eine Bürgerversicherung.
Die FDP will eine gesetzliche Krankenversichtung ganz abschaffen,
das passt nicht zusammen. Große Differenzen gibt es z.B. auch
in der Arbeitsmarktpolitik und in der Energiepolitik. Deswegen kommt
mir das Gerede über Jamaika manchmal etwas feuilletonistisch
vor.
Somasoma: Was verbindet Ihre Partei mit den anderen
Oppositionsparteien? Reicht das aus, um gemeinsam einen Gegendruck
aufzubauen?
Reinhard Bütikofer: Gemeinsam haben wir uns z.B. für
einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, als die Vorwürfe im
Fall Mazri oder Kurnaz bekannt wurden. Gemeinsam versuchen die Oppositionsparteien
zu verhindern, dass die Regierungsparteien Entscheidungen ohne jede
öffentliche Debatte einfach nur durchziehen. Aber die Große
Koalition hat zahlenmäßig ein solches Übergewicht,
dass die parlamentarische Opposition alleine meistens wenig ausrichten
kann. Deswegen kommt es entscheidend auf die aktive Teilhabe der
Zivilgesellschaft an.
KofiButanan: Wie schätzen Sie die Entscheidung
von Bundespräsident Köhler ein, die Flugsicherung nicht
zu privatisieren?
Reinhard Bütikofer: Soweit ich das in aller Kürze heute
nachvollziehen konnte, hat mir die Entscheidung eingeleuchtet und
die Mehrheit im Bundestag wird die Frage zu beantworten haben, ob
sie das Grundgesetz an dieser Stelle ändern will.
NierenBlasentee: Wie stehen Sie zu den angeblichen
Vorkommnissen um Herrn Murnaz, die ja schließlich auch unter
Ihrer Regierung geschehen sind?
Reinhard Bütikofer: Nun, wenn das zutrifft, dann muss das
unbedingt politische Konsequenzen haben. Bis jetzt war es leider
so, dass immer, wenn Herr Kurnaz etwas sagte, abgewiegelt wurde
und sich dann herausstellte, dass mehr dran war als man am Anfang
zugeben wollte. Deswegen fordern wir eine vollständige Aufklärung
ohne Ansehen der Person.
Tzu: Wie können diese Konsequenzen aussehen?
Reinhard Bütikofer: Das ist zu diesem Zeitpunkt spekulativ.
Aber die Aufklärung beinhaltet auch die Frage, wer dafür
gegebenenfalls die Verantwortung hatte und dementsprechend dann
die politische Verantwortung zu übernehmen hätte.
Keetenheuve1: Wenn ich Grüne im Fernsehen
sehe, dann schalte ich nur noch bei Frau Höhn und Herrn Ströbele
NICHT ab. Warum, glauben Sie, haben die Grünen ein derart großes
Charisma-Problem?
Reinhard Bütikofer: Die Themen, für die man einmal stand,
sind doch eigentlich immer noch aktuell. Die Themen, für die
man einmal stand, für die steht man als Grüner immer noch.
Deswegen haben wir auch überhaupt kein Problem, Mitglieder
für uns zu mobilisieren. Was die Mitgliederzahlen betrifft,
wachsen wir im Unterschied zu anderen Parteien. Wir gewinnen Wahlen.
Wir haben heute mehr Unterstützung als vor fünf oder sechs
Jahren. Aber wenn Sie nun mal Frau Höhn oder Herrn Ströbele
vorziehen, dann schalten Sie halt ein, wenn die dran sind. Ich halte
ihren Charisma-Vorwurf für müßig. Meine Erfahrung
ist, dass unsere Wählerinnen und Wähler sehr genau auf
Inhalte achten.
crossgolfer: Wie nehmen sie dazu Stellung, dass
die Grünen immer mehr eine Partei der Besserverdienen wird
und der Kampf um soziale Gerechtigkeit mehr und mehr in den Hintergrund
gerät?
Reinhard Bütikofer: Das ist schlicht und ergreifend grottenfalsch.
Es waren wir Grüne, die das Konzept einer solidarischen Bürgerversicherung
eingebracht haben. Wir Grüne haben das Konzept einer solidarischen,
bedarfsorientierten Grundsicherung eingebracht. In diesem Sommer
haben wir uns mehr als andere für eine ausreichende Zahl von
Ausbildungsplätzen eingesetzt. Auch für den Kritiker gilt:
Am besten fängt man mit der Betrachtung der Wirklichkeit an.
Wiesbaden-Grün: Wie wollen Sie der sogenannten
‘Unterschicht’ grüne Politik näher bringen? Ist grüne
Politik in der Lage, die Armut in Deutschland zu bekämpfen?
Reinhard Bütikofer: Ich halte den Begriff Unterschicht für
stigmatisierend. Aber wenn wir nicht wollen, dass eine wachsende
Zahl von Menschen in Ausgrenzung und Armut gefangen werden, dann
kommt es insbesondere auf zwei Weichenstellungen an: erstens einen
Zugang zum Arbeitsmarkt und zweitens, perspektivisch vielleicht
noch wichtiger, einen fairen Zugang zum Bildungssystem. Für
beide Herausforderungen haben wir in der Tat klare Vorschläge.
Das gilt beim Arbeitsmarkt etwa für unser Progressivmodell
oder unsere Vorschläge zum Mindestlohnmodell. Das fängt
in der Bildungspolitik bei unseren Vorschlägen zur frühkindlichen
Bildung an.
Ebi: Warum bekommen die Grünen im Osten keinen
Fuß auf den Boden?
Reinhard Bütikofer: Wir haben bei allen Wahlen
seit 2004 im Osten jeweils zugelegt, aber von bescheidenem Niveau
aus. Wir waren Ende der 90er Jahre im Osten zur Diaspora-Partei
geworden. Jetzt gelingt es uns, insbesondere in den Städten,
den Fuß auf den Boden zu bekommen. Das dauert noch eine Weile
und ist ein steiniger Weg, aber die Entwicklung geht nach oben.
Ich glaube, entscheidend für diesen Weg wird sein, durch glaubwürdige
grüne Vertreter und Vertreterinnen in der Kommunalpolitik Vertrauen
zu gewinnen. So gelang auch der Weg im Westen.
bambi: Die Rechten von NPD und DVU sitzen in drei
ostdeutschen Landtagen. Die Grünen nur in Sachsen wenn ich
richtig informiert bin. Wie wollen Sie die Bevölkerung überzeugen,
wenn anscheinend radikale Parolen von Rattenfängern auf so
fruchtbaren Boden stoßen?
Reinhard Bütikofer: Ich glaube, dass die Situation in manchen
Landstrichen inzwischen so ist, dass es einer ganz neuen Art von
Zusammenarbeit der demokratischen Kräfte – nicht nur der Parteien,
auch der Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen
bis hin zu Kirchen bedarf, wenn jahrelang in Ostdeutschland erst
insbesondere durch die Union unhaltbare Versprechungen gemacht wurden.
Ich erinnere an Kohls blühende Landschaften. Wenn dann jahrelang
durch die PDS hemmungsloser Populismus von links durch die Lande
wehte, dann verwundert es mich nicht mehr, dass sich teilweise Zynismus,
Abgrenzung und Verhetzung ausbreiten. Aber es nützt ja nichts,
alte Rechnungen noch einmal aufzuwärmen. Es braucht jetzt ein
stärker vernetztes demokratisches Engagement im Alltag. Nicht
nur ab und zu eine kleine Kampagne, wenn in Halbe oder anderswo
ein paar Nazis Flagge zeigen wollen.
HohlefelderJr: Was sagen Sie zu der These, dass
die Linkspartei/Ostdeutschland das Parteiensystem auf den Kopf gestellt
hat bzw. keine klaren Mehrheiten von Zweierkoalitionen möglich
sind?
Reinhard Bütikofer: Das gilt erkennbar auf Landesebene nicht.
Das scheint im Moment eine zutreffende Lagebeschreibung für
den Bund, die große Koalition natürlich einmal ausgenommen.
Ob sich das dauerhaft so stabilisiert, kann man meiner Meinung nach
derzeit nicht sicher voraussagen. Was die Stabilität der beiden
Volksparteien betrifft sind große Fragezeichen gerechtfertigt.
Über die Perspektiven von FDP, Linkspartei oder Grünen
wäre es ein Jahr nach der Wahl auch vorschnell, etwas Verbindliches
sagen zu wollen.
Michael K.: In Tübingen hat am vergangenen
Sonntag Herr Palmer die Wahl zum Oberbürgermeister gewonnen,
unterstützt von CDU-Prominenz. Schon bei der Wahl in Stuttgart
hat sich Herr Palmer für den späteren CDU-Sieger ausgesprochen.
Tendieren die Grünen in Zukunft mehr zur CDU bei Koalitionen?
Reinhard Bütikofer: Nein. Das wird jeweils nach dem Maßstab,
wie wir mehr grüne Politik durchsetzen können, zu entscheiden
sein. In Tübingen ist Boris Palmer mit einem profilierten astreinen
ökologischen Programm Oberbürgermeister geworden. Liberale
aus der Union haben ihn unterstützt. Der andere Unionsflügel
(Stefan Mappus) kriegt deswegen jetzt anscheinend Pickel. Ich glaube,
es gibt dafür keinen Generalnenner. In Berlin z.B. wären
wir nie auf die Idee gekommen, nach der Abgeordnetenhauswahl mit
der CDU zu koalieren, weil die einfach unterhalb jeder Kritik ist.
Jakob S.: Vor kurzem war in der "tageszeitung"
ein Artikel darüber wie ‘Die Linke’ jetzt versucht, grüne
Mitglieder abzuwerben. Ist es vielleicht nötig, dass sich die
Grünen wieder ganz klar links positionieren?
Reinhard Bütikofer: Dieser Artikel in der "tageszeitung"
war eine Posse. Da hat ein ehemaliger Grüner, der jetzt bei
der Linkspartei ist, ein oberschlaues Strategiepapier geschrieben,
was jedenfalls außer der "tageszeitung" niemanden
beeindruckt hat, mich jedenfalls nicht. Eine Linkspartei, die gleichzeitig
die wahren Sozialisten, die bessere SPD und die richtigen Grünen
sein wollen, das ist ein Witz. Wer hinsieht stellt fest, dass die
Linkspartei für Grünenwähler wenig zu bieten hat
und bei den Kommunalwahlen etwa in Hessen oder Niedersachsen in
diesem Jahr gab es wenige Erfolge der Linkspartei im grünen
Milieu.
Moderator: Drei Fragen, eine Richtung:
Wiesbaden-Grün: Die Grünen sind in keiner
Landesregierung vertreten. In Berlin kam eine Koalition mit der
SPD nicht zustande. Ist dies ein Signal für die zukünftige
Koalitionsbereitschaft der SPD auf Bundesebene? Sollten sich die
Grünen nicht gerade deshalb für eine Jamaikakoalition
öffnen? Zumal junge Grüne einer Koalition mit der FDP
und Union nicht abgeneigt sind.
ZoranHGW: Wie sehen Sie die Chancen einer Regierung
unter Angela Merkel unter Beteiligung der Grünen und der FDP?
Unstimmigkeiten bezüglich Atomkraft können ja beiseite
geschoben werden, wie wir dies bei der Regierung sehen können.
Abgesehen von diesen energiepolitischen Unterschieden sind solche
der Ausländerpolitik usw. trotz verschiedener Grundhaltungen
durchaus vereinbar. Oder wie sehen Sie das?
EgonAlias: Sehen Sie inhaltliche Gemeinsamkeiten
mit der FDP auf Landes- und Bundesebene?
Reinhard Bütikofer: Natürlich gibt es auch mit der FDP
in manchen Gebieten Gemeinsamkeiten, etwa was Datenschutz betrifft.
Dieses urliberale Thema hatte die FDP zwar lange vergessen, aber
in letzter Zeit hat sie sich dem wieder genähert und das finde
ich gut, weil es einfach im Sinne der Freiheit besser ist, wenn
wir nicht alleine dafür kämpfen müssen.
Und dann gibt es natürlich Persönlichkeiten in der FDP,
die ich mir jederzeit als Partner vorstellen könnte, Leutheusser-Schnarrenberger
zum Beispiel. Aber solche Persönlichkeiten gibt es natürlich
auch bei der CDU, Heiner Geißler zum Beispiel wäre ein
schöner Partner für die Grünen oder der CSU-Umweltpolitiker
Göppel. Aber es wäre Selbstbetrug, sich das jetzt schön
zu lügen, so als wären das die Personen, die den Ausschlag
geben, oder als wäre damit Übereinstimmung in den für
die Reformrichtung entscheidenden Fragen gesichert. Die FDP ist
nach wie vor eine marktradikale Partei und wir sind der Antipode
in dieser Position. Und das die FDP zum ersten Mal seit 15 Jahren
mit den Umweltverbänden überhaupt gesprochen hat ist auch
noch kein Beweis, dass man umweltpolitisch mit ihr Staat machen
kann.
Ich sage nicht, dass ich mich darüber freue, dass wir mit
denen so wenig Schnittmengen haben. Besser wäre es, es gäbe
mehr Schnittmengen, dann könnten wir mehr bewegen. Aber ich
sage, dass ich mir die Wirklichkeit nicht zurechtlügen will
und ich mache auch in Zukunft die Inhalte zum Maßstab für
Bündnisse. Das gilt gegenüber der SPD wie gegenüber
der Union und allen anderen.
EgonAlias: Anschlussfrage: Für welche Wirtschaftsrichtung
stehen die Grünen denn dann?
Reinhard Bütikofer: Unser Leitbegriff heißt:
"Grüne Marktwirtschaft" und darunter verstehen wir
eine ordnungsliberale Grundposition, die soziale und ökologische
Standardsetzungen für den Markt für richtig hält
und nicht wie die Neoliberalen das tun dem Kinderglauben anhängt,
dass der Markt für sich alles regelt.
drjung: Herr Bütikofer, wie sehen sie die
Situation unserer Soldaten in Afghanistan? Was halten sie von einem
Abzug?
Reinhard Bütikofer: Die Situation wird schwieriger und gefährlicher.
Ich bin nicht für einen Abzug. Ich bin für ein Überdenken
der Politik in Afghanistan. Es ist ja bemerkenswert, dass im Norden,
wo deutsche Truppen die Verantwortung haben, mehr Stabilität
möglich ist und größere Fortschritte erzielt werden
als im Süden und Osten, etwa wo insbesondere die USA im Rahmen
der Operation "Enduring Freedom" aktiv sind. Die entscheidende
Frage, die über den Erfolg den Ausschlag geben wird, heißt:
Begreift die afghanische Bevölkerung die internationalen Truppen
als Partner im Wiederaufbau des Landes oder als Besatzungsmacht?
Diese Frage ist nicht entschieden. Unser Engagement muss dahin gehen,
sie für die erste Alternative zu entscheiden.
Moderator: Wissen Sie eigentlich genau, was die KSK in Afghanistan
macht bzw. gemacht hat? Ist das Parlament in jedem Fall ausreichend
informiert worden?
Reinhard Bütikofer: Ich weiß es nicht genau und ich
fürchte, es gibt fast niemanden, der es genau weiß. Und
das ist gerade das Problem. Früher gab es wenigstens eine gewisse
Information der Obleute des Verteidigungsausschusses durch Minister
Struck. Seit der Minister Jung heißt gab es das nicht mehr.
Die Vorwürfe, die gegen das KSK im Fall Kurnaz erhoben worden
sind, müssen vollständig aufgeklärt werden, bevor
von einem neuen Mandat für die KSK in Afghanistan die Rede
sein kann. Und es müsste schon auch sicher gestellt werden,
dass das KSK nicht in die Rolle einer Hilfstruppe für US-Einheiten
gebracht wird, denen die neueste amerikanische Gesetzgebung leider
auch solche Verhörmethoden erlaubt, die in Europa als Folter
gelten würden.
Moderator: Haben sich die Grünen als ehemalige Regierungspartei
im Fall Kurnaz nicht auch Versäumnisse vorzuwerfen?
Reinhard Bütikofer: Ich wüsste keine.
Michael K.: Was sagen sie dazu, dass Deutschland
in der Liste der Pressefreiheit auf Platz 23 weltweit abgerutscht
ist? Ich finde das erschreckend.
Reinhard Bütikofer: Ich kann es nicht kommentieren, ich habe
das nur als Meldung zur Kenntnis genommen. Ich müsste erst
wissen, woran das gelegen hat.
Joschka Fischer: Ich erbitte eine Bewertung der
Schröder-Memoiren.
Reinhard Bütikofer: Lieber Herr Fischer, warum wollen Sie
sie nicht selber lesen? Der ehemalige Kanzler hat – damit das Buch
sich besser verkauft – jetzt schnell ein paar Stinkbömbchen
gezündet. Ob das deswegen ein interessantes Buch ist oder eines,
das Einblicke erlaubt, das weiß ich nicht.
Kleingemüse: Welche Kritik üben Sie
heute an der Politik Gerhard Schröders?
Reinhard Bütikofer: Es gibt eine Hauptkritik an der Politik
Gerhard Schröders, die etwas zu tun hat mit seinem Umgang mit
den notwendigen Reformen im Bereich Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik
und Wirtschaftspolitik. Schon bei der Regierungsbildung 1998 erzwang
die SPD mit Schröder und Lafontaine, dass man sich bei der
Rente etwa gegen den grünen Willen vom demographischen Faktor,
der kurz zuvor eingeführt worden war, wieder verabschiedet.
Später musste Schröder eingestehen, dass das ein großer
Fehler war. Als die ersten rot-grünen Erfolge dann eintrafen
verabschiedete Schröder sich mit der Politik der ruhigen Hand
von notwendigen weiteren Reformen. Wir Grünen haben ihn damals
davor gewarnt.
Bei der Bundestagswahl 2002 hat die SPD und auch Schröder
unrealistische Erwartungen geweckt und nach der Wahl, als sich herausstellte,
dass die Realität eine ganz andere ist, dann deswegen unglaublich
viel Enttäuschung, Wut und Opposition geerntet. Und als Schröder
dann 2003 mit der Agenda 2010 kurzfristig versucht hat, das Ruder
herumzureißen ist es ihm nicht gelungen, den SPD-Anhängern
dies als Politik im Sinne sozialdemokratischer Grundwerte zu erklären.
Der damalige schwedische Ministerpräsident hat einmal davon
berichtet, wie es ihm gelang, seine politische Basis für tiefgreifende
Reformen zu gewinnen: Nämlich indem er dass er deutlich machte,
dass auch starke Schultern ihren Teil der Last zu tragen haben.
Das hat Schröder nie hinbekommen.
Papa: Glauben Sie, dass Angela Merkel bis zum
Ende der Legislatur Kanzlerin bleibt bzw. die große Koalition
so lange bestehen bleibt?
Robotx22: Für wie wahrscheinlich halten Sie,
dass die jetzige Regierung die Legislaturperiode überlebt?
Was könnten die gefährlichsten Untiefen sein, die auf
sie zukommen?
Reinhard Bütikofer: Gegenwärtig sind beide Partner der
großen Koalition schwach, und so lange diese beiderseitige
Schwäche plus die beiderseitige Orientierungslosigkeit anhält,
hält auch die Koalition. Denn im Fall einer Wahl müssten
SPD und CDU sofort befürchten, in der Wahlkabine drastisch
abgestraft zu werden. Erst dann, wenn entweder SPD oder Union die
Hoffnung haben, von einem Koalitionsbruch massiv zu profitieren,
könnte eine Seite es vielleicht praktisch erwägen. Das
sehe ich im Moment für die nächsten anderthalb Jahre jedenfalls
nicht voraus, zumal die politischen Leistungen beider Koalitionspartner
ja niemanden überzeugen. Die Unterstützung in dieser Koalition
feiert einen Minusrekord nach dem anderen. Selbst die oft gescholtene
rot-grüne Regierung war zu ihren schwächsten Zeiten nie
so unbeliebt wie diese Große Koalition.
tom2: Nach einem Bericht des "Stern"
wussten deutsche Bundesbehörden schon vor Jahren von Geheimgefängnissen
der CIA in Europa. Wie konnte gerade Grün es so weit kommen
lassen?
Reinhard Bütikofer: Ob dieser Bericht des "Stern"
zutrifft, weiß ich nicht. Deswegen kann ich die Frage nicht
beantworten. Die Frage unterstellt den Bericht des "Stern"
als Fakt und unterstellt, dass wir die Verantwortung dafür
hatten. Wir hatten aber nicht das Innenministerium. Vielleicht sollte
mal jemand Otto Schily fragen.
Moderator: Und wenn es zutreffen sollte, was der "Stern"
schreibt? Die Grünen waren ja nun mal Teil der Regierung.
Reinhard Bütikofer: Wir waren Teil der Regierung, aber wir
hatten nicht die Exekutivverantwortung für alle Ressorts und
die Verantwortung für das Innenministerium hatten wir nicht.
Jürgen Trittin und Renate Künast als Verbraucherministerin
und Joschka Fischer als Außenminister hatten ihre eigenen
Verantwortungsbereiche. Und hätte es damals eine öffentliche
Diskussion über CIA-Gefängnisse gegeben, weiß ich,
wo wir gestanden hätten. Aber es gab beides nicht.
tom2: Anschlussfrage – Sie haben also bis die
Gefängnisse öffentlich bekannt wurden nie davon gehört?
Reinhard Bütikofer: Ja.
Düsseldorf: Ab wann werden sich die Grünen
lautstark für eine Verbesserung der Nichtraucherschutzgesetze
einsetzen?
Reinhard Bütikofer: Die Frage muss in der Vergangenheitsform
wiederholt werden. Insbesondere die vorher gelobte charismatische
Bärbel Höhn setzt sich als zuständige Sprecherin
der Bundestagsfraktion dafür seit langem ein.
Somasoma: Wie schätzen Sie die konjunkturelle
Zukunft der deutschen Wirtschaft ein?
Reinhard Bütikofer: Ich glaube, dass die Mehrwertsteuererhöhung
zum 1. Januar 2007 und die Beitragserhöhungen bei Rente, Gesundheit
und Pflege, die auf uns zukommen und weitere Preissteigerungen inklusive
eines dauerhaft hohen Ölpreises dazu führen werden, dass
die Wachstumsraten 2007 wieder auf ein Niveau absinken, dass zum
Beschäftigungsaufbau nicht reicht. Das ist einer der Gründe,
warum ich insbesondere die Mehrwertsteuererhöhung für
einen schwerwiegenden wirtschaftspolitischen Fehler halte.
bo: Wie stehen die Grünen zur Föderalismusreform?
Was halten Sie von dem Vorstoß des Bundesfinanzministeriums,
in die Finanzautonomie der Länder einzugreifen?
Reinhard Bütikofer: Die erste Hälfte der Föderalismusreform,
die wir hinter uns haben, hat leider in einigen uns wichtigen ökologischen
und sozialen Bereichen – Stichwort Umwelt und Heimrecht, Strafvollzug
– zu einer föderalen Kompetenzzersplitterung geführt.
Grundsätzlich ist aber die stärkere Trennung der Gesetzgebungsmaterien
zwischen Bund und Ländern richtig. In der zweiten Phase der
Föderalismusreform, bei der es ums Geld gehen soll, sehe ich
noch kein Land. Es ist lächerlich, wenn ein Ministerpräsident
wie Herr Rüttgers sagt, er regiere einen selbstständigen
Staat und man habe ihm nicht ins Handwerk zu pfuschen.
Die Bundesländer haben über den Bundesrat den Maastrichtvertrag
mit beschlossen. Die Länder können sich da ihrer eigenen
Verantwortung nicht entledigen. Im Übrigen geht es da nicht
darum, dass das Bundesfinanzministerium in Zukunft zur Kommandozentrale
des Föderalismus ausgebaut wird, aber es braucht Regeln, die
dafür sorgen, dass die Länder ihre Eigenständigkeit
im Rahmen einer finanzpolitischen Nachhaltigkeit ausüben. Außerdem
sollten reine Landessteuern in Zukunft durch Landesgesetzgeber beschlossen
werden, nicht durch den Bund.
Papa: Es verlagerten 2005 erhebliche viele junge,
gutausgebildete Menschen ihren Wohnsitz ins Ausland. Was schlagen
die Grünen vor, wie das gestoppt werden kann?
Reinhard Bütikofer: Ich habe nichts dagegen, dass gut ausgebildete
junge Leute ins Ausland gehen. Wenn wir gleichzeitig dafür
sorgen, dass andere zu uns kommen. Das kann Teil eines fruchtbaren
internationalen Austausches sein. Schlimm wird es nur, wenn wir
es nicht schaffen, einem allgemeinen Braindrain zu entgehen. Da
geht es dann sehr konkret um die Frage, ob in Deutschland endlich
begriffen wird, dass wesentlich mehr Geld in Bildung, Wissenschaft
und Forschung gesteckt werden muss. Da geht es konkret um die Frage,
ob der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Wettbewerbsfähigkeit
diese aus meiner Sicht untrennbaren zwei Seiten der Modernisierungsmedaille
wirklich Leitmaßstab sind oder ob wir zulassen, dass Wettbewerbsfähigkeit
und Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt werden.
Moderator: Eine letzte Frage:
Steffen Ardia: Was ich schon immer mal wissen
wollte: Wenn ich Ihnen einen Brief mit Kritik oder Verbesserungsvorschlägen
sende, wer liest das dann? Sie können doch sicher nicht jeden
Tag Ihre ganze Post lesen…? Kriegen Sie davon überhaupt etwas
mit?
Reinhard Bütikofer: Ich kriege alle Briefe, die an mich geschrieben
werden, auf meinen Schreibtisch. Manchmal dauert es eine Weile,
bis ich sie lese. Aber ich gebe mir Mühe. Die meisten Briefe,
die aus meinem Büro beantwortet werden, beantworte ich selbst.
Moderator: Das war unser tagesschau-Chat für heute. Wir bedanken
uns bei allen, die mitgemacht haben. Unsere Bitte um Verständnis
an jene, die wir mit ihrer Frage nicht berücksichtigen konnten.
Unser besonderer Dank gilt Reinhard Bütikofer, der sich die
Zeit genommen hat, zum Chatten ins ARD-Hauptstadtstudio zu kommen.
Ihnen allen wünschen wir noch einen schönen Tag. Der nächste
tagesschau-Chat findet am 9. November ab 13.00 Uhr statt. Dann stellt
sich der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD,
Johannes Kahrs, Ihren Fragen. Wir würden uns freuen, wenn Sie
dann wieder dabei sind.
Reinhard Bütikofer: Ich danke ihnen für die vielen Fragen
und das lebhafte Interesse. Wünsche Ihnen noch für heute
weiterhin viel Sonne und ansonsten viel Optimismus.