Marianne
Birthler, Bundesbeauftragte für Stasiunterlagen, war am 22. Juli
2003 zu Gast im tacheles.02 Live-Chat von tagesschau.de und politik-digital.de.
Moderator:
Herzlich willkommen im tacheles.02-Chat. tacheles.02 ist ein Format von
tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt von tagesspiegel.de.
Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler,
ist heute im ARD-Hauptstadtstudio zu Gast im Chat. Bis 16 Uhr können
Sie Ihre Fragen an Frau Birthler richten. Der Live-Chat kann über
die geschaltete Webcam mitverfolgt werden. Frau Birthler, sind Sie bereit?
Marianne Birthler:
Da bin ich. Guten Tag!
frogX:
Was genau ist Ihre Aufgabe als Beauftragte für Stasi-Unterlagen?
Ist die kritische Auseinandersetzung mit staatlicher Datensammelwut im
allgemeinen auch Teil davon?
Marianne Birthler:
Wir verwalten in Berlin und in 13 Außenstellen 180 km Akten. Das
heißt archivarisch erschließen, dann für unterschiedliche
Zwecke an Antragsteller herausgeben. Außerdem forschen wir und publizieren
die Ergebnisse, haben eine Internetseite und zeigen Ausstellungen. Am
meisten Arbeit machen die Akten aber selbst.
Rainer Schmidt:
Wie gehen Sie nun mit der Rosenholz-Liste vor? Konfrontieren Sie die Spitzel
damit, dass Sie sie enttarnt haben oder stellen Sie sie der Öffentlichkeit
zur Verfügung, damit jeder dort nachlesen kann?
Marianne Birthler:
Die Rosenholz-Daten sind mikroverfilmte Karteikarten. Karteikarten werden
aber auch sonst nicht herausgegeben, sondern als sog. Findmittel in der
Recherche verwendet. Hier wie für andere Unterlagen gilt, dass wir
immer nur auf Antrag tätig werden, z.B., wenn eine Überprüfung
beantragt wurde. Ausnahme: Wenn wir feststellen, dass z.B. ein prominenter
Politiker IM war. Dann müssen wir eine "Mitteilung ohne Ersuchen"
machen.
Uwe:
Was haben inoffizielle Mitarbeiter der Stasi von der Veröffentlichung
jener Daten konkret überhaupt noch zu befürchten?
Marianne Birthler:
Strafrechtlich nichts. Spionage ist verjährt. Trotzdem dürfte
manchen das Bekannt werden seiner Geschichte unangenehm sein.
Moderator:
Eine Nachfrage:
Rosenholz:
Aber was ist denn dann, wenn ich keinen Verdacht habe? Es kann dann doch
trotzdem sein, dass meine Mutter oder mein Vater etc. für die DDR
spioniert haben und ich werde es nie erfahren?
Marianne Birthler:
Richtig. Wenn die aber Berichte über SIE gegeben haben, ergibt sich
das aus Ihren Akten, die Sie ja sehen dürfen.
James:
Ist es sinnvoll, nochmals Einsicht in Unterlagen zu beantragen? Ich hatte
1995 den Eindruck, dass Unterlagen zu meiner Person (Betroffener) fehlen
oder bereits vernichtet waren.
Marianne Birthler:
Wir erschließen permanent weitere Unterlagen. Nach ein paar Jahren
ist ein Wiederholungsantrag deshalb sinnvoll. Das geht formlos: Ein Brief
mit der Tagebuchnummer, die sie damals bekommen haben, genügt.
gauckler:
Wer entscheidet, was an die Öffentlichkeit gelangt oder ob ermittelt
wird?
Marianne Birthler:
Wir geben nur heraus, was den Persönlichkeitsrechten einzelner Betroffener
nicht wiederspricht. Bei ehemaligen IM ist das allerdings etwas anders.
Auch die Medien haben Mitverantwortung.
birne:
Wie viel Anträge auf Überprüfung bekommen Sie denn? Lässt
das nicht mit der Zeit nach?
00h:
Wer stellt die Anträge, ist dazu jeder berechtigt?
Marianne Birthler:
In elf Jahren haben wir 5 Millionen Anträge bekommen. Auch jetzt
gehen noch weit mehr als fünftausend Anträge pro Monat ein.
Anträge auf persönliche Akteneinsicht kann jeder und jede stellen.
Wenn es um Überprüfungen geht, entscheiden die jeweiligen Institutionen.
helge r.:
Was denken Sie, wie die Rosenholz-Datei in die Hände des CIA geriet?
Marianne Birthler:
Die allerwahrscheinlichste These ist, dass die Mikrofilme über den
KGB an die Amerikaner gingen.
Mr. Johnson:
Was hat die CIA bewogen, Deutschland nun doch die Rosenholz-Dateien auszuhändigen
bzw. warum hat die CIA sich so viel Zeit gelassen?
Marianne Birthler:
Die Bundesregierung hat ab 1993 – da haben wir davon erfahren – intensiv
verhandelt. Die Rücklieferung erfolgte ab 2000. Den Grund für
die Verzögerung kenne ich nicht, und spekulieren mag ich nicht.
anja:
Haben Sie persönlich nicht ein schlechtes Gefühl dabei, dass
Sie mit Daten agieren, die lange Zeit nicht in Ihrem Besitz waren und
über deren Wahrheitsgehalt Sie schwer urteilen können?
Marianne Birthler:
Tja, die Sache mit der Wahrheit. Also: Die Amerikaner haben die Daten
nicht verfälscht, da sind wir sicher. Ansonsten stellt sich bei allen
Quellen immer die Frage, ob sie Tatsachen wiederspiegeln. Wir wissen,
dass die Stasi sehr korrekt gearbeitet hat. Dennoch würde ich mir
eine Meinung nur auf der Grundlage einer Karteikarte bilden.
Kino:
Wer garantiert Ihnen, dass sie Amerikaner sie nicht gefälscht haben?
Marianne Birthler:
Bei den Mikrofilmen handelt es sich um Bilddateien.
susi:
Frau Birthler, Sie sagten, dass die Qualität der Rosenholz-Dateien
zu wünschen übrig ließe (vor allem wegen falscher Wiedergabe
durch das CIA). Gerät man da nicht in die Gefahr, Menschen fälschlicherweise
der Spionage zu bezichtigen?
Marianne Birthler:
Deswegen geben wir nicht einfach Karteikarten heraus, sondern nutzen sie
zum Auffinden von weiteren Unterlagen oder vergleichen sie mit anderen
Daten, die wir haben. Zehnjährige Erfahrung zeigt uns aber: Wo IM
draufsteht, ist auch IM drin. Dennoch muss man den Einzelfall sorgfältig
anschauen, um sich ein Urteil zu bilden. Es ist eben ein Unterschied,
ob jemand vor zwanzig Jahren mal ein paar Berichte geschrieben und sich
dann vom MfS zurückgezogen hat oder ob jemand bis Oktober 1990 Freunde
und Kollegen denunziert hat.
ehrlich:
In den Medien stand zu lesen, Sie befürworten die erneute Überprüfung
des PDS-Politstars Gregor Gysi? Halten Sie das wirklich für angemessen?
Marianne Birthler:
Das stand nicht in den Medien.
nachgefragt:
Sind Sie persönlich wirklich der Meinung, die Veröffentlichung
der Rosenholzdatei helfe der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit
oder meinen Sie nicht auch, dass verjährte Straftaten wieder einmal
nur die Menschen in Ostdeutschland in ein schlechtes Licht stellen?
Marianne Birthler:
Bei den Rosenholz-Daten geht es vor allem um die Westarbeit der Stasi,
also überwiegend um ehemalige Bundesbürger – allerdings
nicht nur. Im übrigen stellen die Stasiakten die Ostdeutschen nicht
in ein schlechtes Licht, sondern beweisen, dass wir kein Volk von Spitzeln
und Verrätern waren.
zeitleich:
Allgemein gefragt: Haben sie das Gefühl, dass sich kaum noch jemand
für diesen Teil deutscher Geschichte interessiert?
Birchlermüsli:
Während Filme wie "Goodbye Lenin" die Ostalgie fördern,
ist das Interesse an der Vergangenheitsbewältigung doch stark gesunken.
Sind Sie enttäuscht oder verbittert?
Marianne Birthler:
Zwei Antworten: Die Zeit der Enthüllungsstories ist so gut wie vorbei,
deshalb meinen manche, das Interesse lässt nach. Aber wir stellen
ein von Jahr zu Jahr steigenden Interesse, insbesondere bei Jugendlichen
fest. Wir merken das an Besuchen, Projekttagen usw. Ich bin nicht ein
bisschen verbittert. Dass das Interesse mal größer und mal
kleiner ist, halte ich für normal. Denken Sie an den 17. Juni: Plötzlich
waren Millionen Menschen interessiert. War auch ein DDR-Thema.
moses:
Wie lange wird ihre Behörde noch arbeiten? Denken sie, dass sie irgendwann
geschlossen werden sollte oder für immer Historikern als Quelle dienen
sollte?
Marianne Birthler:
Die meisten unserer Aufgaben sind noch lange nicht erledigt.
An eine veränderte Organisationsform für das Archiv wird man
erst denken können, wenn nicht mehr so viele Anträge eingehen.
Im übrigen bin ich davon überzeugt, dass die spannendsten Zeiten
der Aufarbeitung noch bevorstehen. 13 Jahre sind eine sehr kurze Zeit.
Gemessen an 1945 befinden wir uns im Jahre 1958.
Moderator:
Nachfrage zu Gysi:
Jan:
Wollen sie Gysi trotzdem noch mal überprüfen? Und Stolpe?
Marianne Birthler:
Wir überprüfen überhaupt nicht. Das haben wir im übrigen
noch nie getan. Wir geben immer nur entsprechende Unterlagen heraus, wenn
die entsprechenden Stellen überprüfen wollen. Wir entscheiden
auch nicht, nach welchen Kriterien überprüft wird und mit welchen
Folgen.
Claudio Wellmann:
Hat Ihre Behörde Erkenntnisse über noch heute bestehende Seilschaften
aus ehemaligen Stasi-Mitarbeitern – etwa im Medienbereich, in der
Politik, im Sport oder in der Wirtschaft ?
Marianne Birthler:
Keine konkreten.
frogX:
Wäre es nicht konsequent auch die Archive des BRD-Verfassungsschutzes
aus der Zeit der DDR zu öffnen?
Marianne Birthler:
Mal abgesehen davon, dass es sich hier um ein gänzlich anderes Thema
handelt: Ich bin schon immer dafür gewesen, amtliche Unterlagen der
Bevölkerung zugänglich zu machen.
Kino:
Frau Birthler, wie ist der Stand der Dinge bei den Stasi-Akten von Helmut
Kohl?
Marianne Birthler:
Das Berliner Verwaltungsgericht prüft gerade, ob für neue Anträge
zu Helmut Kohl das neue Gesetz gilt oder das Urteil, das die Herausgabe
seiner Unterlagen verbietet, noch gilt.
Claudio Wellmann:
Nachfrage zu Stasi-Seilschaften: glauben Sie persönlich (!), dass
es diese noch heute gibt ?
Marianne Birthler:
Es gibt nach wie vor Milieus, in denen ehemalige Stasi-Mitarbeiter das
Sagen haben. Aber es sind mehr Milieus als schlagkräftige Organisationen
und Seilschaften.
Tom:
Wie viele Spione hat die DDR in den Westmedien eingesetzt – und
was waren dabei die bevorzugten Medienhäuser bzw. Sender ?
Marianne Birthler:
Kann man im Moment noch nicht beziffern. Insgesamt waren 1989 ca. 3000
bis 3500 Spione im Westen aktiv. Zur Frage der Medien wird zur Zeit noch
intensiv geforscht. Die ARD z.B. hat ein großes Projekt dazu in
Arbeit.
oihoi:
Ich habe gelesen – wenn es denn stimmt – dass drei Außenstellen
geschlossen werden sollen? Warum und was passiert mit den Arbeitsplätzen?
rundertisch:
Nach internen Plänen sollen ab 2006 drei der dreizehn Außenstellen
in den ostdeutschen Ländern geschlossen werden, lese ich. Warum,
wo und gehen dadurch Arbeitsplätze verloren?
Marianne Birthler:
Unsere Behörde wird allmählich kleiner. Für 2010 planen
wir, mit weniger Außenstellen auszukommen. Entlassen wird deshalb
niemand.
mi5:
Zu der Schließung: Wer betreut dann die Unterlagen, wenn in der
Region keine Behörde mehr ist?
Marianne Birthler:
Es wird auch künftig in allen ostdeutschen Bundesländern Außenstellen
geben. Das steht im Gesetz.
hitzefrei:
Ich habe bis jetzt viel gelernt im Chat, wie sie wirklich arbeiten. Da
stellt sich mir die Frage, warum das bisher bei mir und anderen nicht
so bekannt ist. Ist ihre PR-Strategie missglückt?
Marianne Birthler:
Danke. Schauen sie mal auf unsere Website www.bstu.de und machen Sie sich
selber ein Bild.
anja:
Frau Birthler, wie sieht eigentlich Ihr Alltag als Bundesbeauftragte aus?
Marianne Birthler:
Vorträge, Diskussionen, Verhandlungen, Post, Ausstellungseröffnungen,
Innerbehördliche Angelegenheiten, telefonieren, die Behörde
repräsentieren , chatten….
Maria:
Frau Birthler, Sie wollen eine stärkere Aufklärung der Stasi-Aktivitäten
in der alten Bundesrepublik. Wie wollen Sie in diesem Punkt vorgehen?
SimoneR.:
Erwarten sie prominente Enthüllungen, die etwa in Parteien für
Wirbel sorgen werden?
Marianne Birthler:
Ja, der Westen ist ein Problem. Aber auch von dort bekommen wir immer
mehr Anfragen – zu Akten und zu Vorträgen und Veranstaltungen. Leider
haben wir dort keine Außenstellen. Die Erwartungen an Rosenholz
halte ich insgesamt für übertrieben. Die meisten Spione, die
89 noch aktiv waren, sind schon bekannt gewesen. Hier und da könnte
es dennoch zu interessanten Neuigkeiten kommen.
lenin:
Wie erschließen Sie denn neue Quellen für weitere Unterlagen?
Und welches Interesse steckt dahinter? Denn damit kann ja Politik gemacht
werden?
Marianne Birthler:
Wir erschließen nicht neue Quellen, sondern die Akten, die ungeordnet
oder zerrissen in unseren Archiven lagern. Das Interesse, das dahintersteckt,
bezieht sich auf die Bedeutung, die das MfS in der DDR hatte. Das MfS
war der wichtigste "Dienstleister" für die SED, nannte
sich selber "Schild und Schwert der Partei". Außerdem
ist es historisch und weltweit das erst Mal, das der Geheimdienst einer
Diktatur nackt da steht. Deshalb interessieren sich Historiker aus aller
Welt für unsere Archive.
digger:
Wie groß ist die Zahl der Personen, die nach den von Ihnen verwalteten
Unterlagen eine aktive Rolle im Zusammenhang mit der Stasi gespielt haben?
Marianne Birthler:
90.000 hauptamtliche Mitarbeit und 174.000 inoffizielle Ende 89.
Moderator:
noch mal zu "Rosenholz"
tttt23:
Was gibt es denn für interessante Neuigkeiten bezogen auf Rosenholz-Dateien?
Da haben sie mich jetzt aber neugierig gemacht.
Marianne Birthler:
Wir wissen bisher wenig über die Mitarbeiter der HVA vor den 80er
Jahren und so gut wie nichts über die Mitarbeiter der HVA in der
DDR.
Edgi:
Zu MfS: Nackt ist ja schön und gut, aber wie sieht es mit der Strafverfolgung
aus? Da gibt es doch Nachholbedarf!
Marianne Birthler:
Mit wenigen Ausnahmen sind alle Verbrechen aus der DDR-Zeit verjährt.
Das wichtigste war aber das "Rückwirkungsverbot". Danach
dürfen heute nur Vergehen bestraft werden ,die auch zu DDR-Zeiten
ungesetzlich waren.
Hitzefrei:
Mhh, Ihre Antwort hat meine Frage nicht beantwortet. Irritiert es Sie
denn nicht, dass so viele Halbwahrheiten oder Fehler über die Arbeit
ihrer Behörde in der Öffentlichkeit kursieren?
Marianne Birthler:
Doch, aber ich habe mich ein wenig daran gewöhnt. Und dass ich hier
sitze, zeigt ja, dass ich etwas dagegen tun möchte. Man kann ja (eigentlich
zum Glück) niemanden dazu zwingen, sich für etwas bestimmtes
zu interessieren.
Nachtrag: Natürlich spielt auch eine Rolle, dass es nicht wenige
gibt, die gern den Mantel des Vergessens über alles breiten würden.
Aber das ist in den Zeiten nach Diktaturen immer so. In Spanien fangen
die Leute heute erst an, öffentlich über die Verbrechen Francos
zu diskutieren.
schüler
11a: Wenn sie die Aufarbeitung der DDR und der Nazizeit vergleichen,
was ist der entscheidende Unterschied und was ist besser heute?
Marianne Birthler:
Wir haben Zugang zu wichtigen Quellen, die damals entweder vernichtet
waren oder für Jahrzehnte weggesperrt. Andererseits: Viele Menschen
sind sich heute keineswegs im Klaren darüber, welche Verbrechen zu
DDR-Zeiten geschehen sind.
Claudio Wellmann:
Nachfrage Stasi-Milieus: eine Journalistin der Lausitzer Rundschau wurde
bei Recherchen zu diesem Thema bedroht. Ein Einzelfall?
Marianne Birthler:
Kein Einzelfall, aber zum Glück selten.
Shalom:
Sie rühmen die Aufarbeitung. Aber ist eine staatliche Behörde
der richtige Ort für eine unabhängige Aufarbeitung? Richtet
sich nicht gegen sie persönlich, Frau Birthler.
Marianne Birthler:
Der Staat hat auf die Inhalte unserer Arbeit keinerlei Einfluss. Unsere
Arbeit ist außerdem teuer. Ich weiß keine private Institution,
die sie finanzieren würde. Und ist es nicht auch gut, dass der Staat
mit dieser Behörde demonstriert, wie wichtig die Aufarbeitung ist?
cia22:
Mit heftiger Kritik hat der Direktor der Gedenkstätte im ehemaligen
Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, auf
das Programm des Ökumenischen Kirchentages reagiert. Die Aufarbeitung
der DDR-Vergangenheit werde fast völlig ignoriert, sagte Knabe. Stimmen
sie dem zu?
Marianne Birthler:
Das Thema war in der Tat unterrepräsentiert. Allerdings keinesfalls
so, wie Herr Knabe das geschildert hat. Der Kirchentag wird auch nicht
von einer Zentrale vorbereitet, sondern von vielen Gruppen, d.h., die
Verantwortung tragen viele.
cia22:
Na ja, kein Einfluss, das glaube ich nicht. Über Etatentscheidungen
kann er doch ihre Arbeit stark einschränken?
Birne:
Der Staat kann doch indirekt über Geld ihre Arbeit einschränken?
Gegengewicht:
Gibt es von westdeutschen Institutionen Unterstützung für die
Aufarbeitung oder stehen Sie alleine da?
Marianne Birthler:
Mal abgesehen von den allgemeinen Sparzwängen werden wir nicht durch
besondere Etatkürzungen behandelt. Der Bundestag, der ja die finanziellen
Mittel beschließt, unterstützt unsere Arbeit. Not leiden manche
privaten Aufarbeitungsinitiativen, die von Spenden oder Zuwendungen abhängig
sind, wie Opferberatungen. Es gibt eigentlich kaum noch westdeutsche Institutionen,
oder meinen sie etwa den Bundestag?
Michilo:
Kann man die (Un-)Taten aller Stasi-Mitarbeiter (West und Ost) online
einsehen? Ein solcher Pranger würde abschreckend wirken. Ich betone,
ich meine nicht die Opfer – also Bespitzelte, die müssten ein Widerspruchsrecht
haben.
Marianne Birthler:
Im empfehle noch einmal unsere Website mit vielen Informationen und einer
Liste von Publikationen. Außerdem kann man unsere Ausstellungen
oder unser Archiv besuchen und dort alle Fragen der Welt der stellen.
Kurt:
Ist Ihrer Meinung nach der Bedarf an Beratungsstellen für ehemals
politisch Verfolgte durch "Gegenwind" bzw. das BZFO abgedeckt,
oder wo könnte/sollte ausgebaut werden?
Marianne Birthler:
"Gegenwind" macht eine sehr wichtige und tolle Arbeit und wird
viel zu wenig unterstützt. Während sich alle Welt für Rosenholz
interessiert, stehen die Opfer leider im Schatten.
Aller:
Empfinden Sie Ihre täglich arbeit als befriedigend? Drückt die
tägliche Konfrontation nicht auch auf die Stimmung?
Marianne Birthler:
Ich habe einen wunderbaren Job. Manchmal erfahre ich bedrückende
Dinge – aber dass diese an das Tageslicht kommen, erfüllt mich mit
Genugtuung.
Moses:
Nachfrage: haben sie noch Lust auf die Aufgabe oder reizt sie auch mal
etwas anderes?
Marianne Birthler:
Ich bin für fünf Jahre gewählt, davon ist gut die Hälfte
um. Im Moment möchte ich nix anderes machen.
schüler
11a: Werden Sie von anderen Länder als Expertin für
den Aufbau vergleichbarer Behörden angefragt, etwa in Jugoslawien?
Marianne Birthler:
Ja, es gibt viele Kontakte: zu Ungarn, Polen, Tschechien und mehreren
anderen Ländern. Dort gibt es inzwischen vergleichbare Institutionen
(auch Rumänien). Neuerdings werden wir von irakischer Seite nach
unseren Erfahrungen gefragt.
Moderator:
Die Stunde ist fast um. Leider konnten aufgrund des Andrangs beileibe
nicht alle Fragen beantwortet werden. Leider nicht zu ändern. Eine
letzte Frage:
Kurt:
Hätten Sie einen Vorschlag, wie man die Opfer besser aus Ihrer Rolle
herausholen kann? Eine Art Versöhnung mit Tätern oder andere
öffentliche Anerkennung?
Marianne Birthler:
Das wichtigste ist für viele, dass sich jemand für ihre Geschichte
interessiert. Dann war das Leiden wenigstens nicht umsonst.
Moderator:
Vielen Dank für Ihre Fragen, vielen Dank Frau Birthler, dass Sie
zum Chat ins ARD-Hauptstadtstudio gekommen sind. Wir wünschen allen
Teilnehmern noch einen angenehmen Sommerabend!
Marianne Birthler:
Danke für das Interesse und die spannenden Fragen. Auf unserer Seite
wird übrigens auch gechattet.