Am 17. Juli 2007 war Bernhard Gertz, der Vorsitzende
des Bundeswehrverbandes, im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de.
Er sprach über die Lage der deutschen Soldaten in Afghanistan,
nahm zu Einsätzen der Bundeswehr im Inneren Stellung und erklärte,
weshalb er eine reine Berufsarmee ablehnt.

Moderator:
Willkommen im tagesschau-Chat! Im ARD-Hauptstadtstudio
ist heute unser Gast der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Bernhard
Gertz. Der Verband vertritt die Interessen von rund 210.000 Mitgliedern.
Oberst Gertz sagt man nach, dass er einer derjenigen ist, der am
besten über die Stimmung der Truppe Bescheid weiß. Ein
Fachmann also für alle Fragen in Sachen Bundeswehr. Jetzt geht
es damit los:

bernadette: Wie offen können Sie über
die Lage der deutschen Soldaten in Afghanistan sprechen?

Bernhard Gertz: Ich habe keinerlei
Rücksichten zu nehmen, weil ich Gott sei Dank nicht der Bundesregierung
angehöre. Deswegen gibt es von meiner Seite zu diesem Thema
nur Klartext.

Berhard Gertz
Bernhard Gertz
Vorsitzender des Bundeswehrverbandes

Moderator: Gab es wegen der klaren Worte schon
mal Beschwerden aus der Bundesregierung?

Bernhard Gertz: Das gefällt nicht jedem,
wenn Klartext gesprochen wird. Regierungen reden gern vom vollen
Teil eines halbvollen Glases und lassen die Beschreibung des leeren
Teils weg. Meine Aufgabe ist es, auch über den leeren Teil
zu sprechen.

Leutnant: Wie häufig treffen sie auf Franz-Josef
Jung und wie sehen solche Treffen aus?

Bernhard Gertz: Wir treffen uns wöchentlich.
Entweder auf Verabredung – zum Beispiel wenn ich einen Termin erbitte,
wird das regelmäßig kurzfristig organisiert. Oder wir
laufen uns bei zahlreichen anderen Anlässen in Berlin über
den Weg. In der vergangenen Woche etwa haben wir uns beim Focus-Fest,
beim Bild-Fest und beim ZDF-Fest getroffen. Darüber hinaus
telefonieren wir miteinander, wenn etwas zu besprechen ist.

Moderator: Für alle, die die Gebräuche
in Berlin nicht kennen: Es gibt nicht jede Woche so viele Feierlichkeiten.
Das ist so ein bisschen der Start in die Ferien.

Sandbär: Für den Einsatz in Afghanistan
fordern Sie eine größere Beteiligung der zivilen Ressorts,
wie zum Beispiel der Polizei. Ist es nicht sinnvoll, hier bereits
vor Einsätzen wie in Afghanistan, Ex-Jugoslawien, Kongo und
so weiter derartige Strukturen vorzubereiten? Und muss der „Lead
" dazu immer beim Militär liegen?

Bernhard Gertz: Erstens: Ja. Es wäre vorzuziehen,
auch über verfügbare zivile Strukturen bereits zu Beginn
eines Einsatzes entscheiden zu können. Für eine so genannte
„Selbsttragende Sicherheitsstruktur“ in Afghanistan
zum Beispiel ist nicht nur der Aufbau afghanischer Streitkräfte,
sondern vor allem der Aufbau einer loyalen und in der Fläche
präsenten afghanischen Polizei von herausragender Bedeutung.
Dafür hat nicht das Militär die Lead-Funktion übernommen,
sondern die Bundesrepublik Deutschland als so genannte Lead-Nation.
Leider hat sie seit 2002 durchschnittlich nur etwa 40 Polizeiausbilder
in Afghanistan zur Verfügung stellen können. Das war ein
Tropfen auf den heißen Stein.

Moderator: Jetzt gibt es eine Verstärkung
auf insgesamt 140 Ausbilder (mehrere Nationen beteiligen sich).
Reicht das aus?

Bernhard Gertz: Leider reicht auch das bei weitem
nicht aus. Afghanistan ist bekanntlich ein riesengroßes Land
mit gleichzeitig miserabelsten Verkehrsverbindungen. Da muss man
die Polizei in der Fläche präsent machen. Deswegen bräuchten
wir sehr viel mehr Polizeiausbilder vor Ort. Zurzeit behelfen wir
uns mit Notmaßnahmen. Eine solche Notmaßnahme besteht
darin, dass 30 deutsche Feldjäger in Mazar-i-Sharif im Norden
afghanische Polizisten ausbilden. Ich finde das ein ärgerliches
Armutszeugnis für die Fähigkeit der Bundesrepublik, auch
im Bereich der Polizeiausbildung belastbare Strukturen herzustellen.
Vielleicht steht uns da der Föderalismus im Weg.

Cpt: Welche Möglichkeit hat der Bundeswehrverband,
„Druck" auf die Politik auszuüben, um deren Unkenntnis
entgegen zu wirken? Und mehr Ausbildung und Stärkung der Zivilgesellschaft
in Afghanistan zu erreichen?

Moderator: Oder kürzer ausgedrückt:

remlb73: Wer bremst?

Bernhard Gertz: Der Bundeswehrverband kann öffentlich
Themen besetzen, über die die Regierung nicht gerne spricht.
Das eigene Versagen wird von der Regierung selten thematisiert.
Deswegen sorgen wir dafür, dass nicht nur über die militärische
Seite Afghanistans gesprochen wird, sondern auch über die Mängel
und Defizite beim Aufbau von Polizei und Justiz, bei der Bekämpfung
von Drogenanbau und -handel, bei der Entwaffnung, Demilitarisierung
und Reintegration ehemaliger Kämpfer und auf dem Feld der Verbesserung
der Lebensbedingungen für die Menschen in Afghanistan. Die
Staatengemeinschaft kennt diese Mängel und Defizite ganz genau,
es fehlt aber an Konsequenzen. Nicht zuletzt, weil eine wirkungsvolle
internationale Koordinierung aller zivilen Aufbaumaßnahmen
bislang nicht stattfindet. Einen spezifischen „Bremser"
kann man nicht identifizieren. Allerdings besteht bei allen beteiligten
Regierungen die Neigung, mehr über die Erfolge zu sprechen
als über die Mängel und Defizite.

joker: Wie geht die Bundeswehr mit den „Warlords"
und deren privater Hausmacht um? Insbesondere wenn es um deren Einnahmen
aus Erpressung und Drogenanbau geht?

Bernhard Gertz: Die Bundeswehr hat wenig Möglichkeiten
eines unmittelbaren Vorgehens. Weil sie als Bestandteil der Isaf-Truppe
nicht über exekutive Befugnisse verfügt. Polizei und Justiz
sind Aufgabe des souveränen afghanischen Staates. Deshalb kann
die Bundeswehr zum Beispiel keine Strafverfolgung für sich
durchführen. Übrigens nicht einmal, wenn eigene Soldaten
von Anschlägen betroffen gewesen sind. Sie kann helfen beim
Aufbau loyaler Polizeikräfte, sie kann durch schnell sichtbare
Maßnahmen des zivilen Aufbaus unter militärischem Schutz
für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen
sorgen und auf diesem Weg versuchen, das Vertrauen in die Zentralregierung
zu stärken.

Moderator: Zur Erklärung: In Afghanistan
gibt es zwei Missionen mit ausländischen Truppen: Isaf ist
eine Unterstützungstruppe für den afghanischen Staat.
OEF = Operation Enduring Freedom, diese Mission ist für die
Bekämpfung von internationalen Terroristen zuständig.
Für OEF waren bislang vor allem KSK-Spezialkräfte eingesetzt.
Derzeit sind keine KSK-Soldaten in Afghanistan [KSK=Kommando Spezialkräfte,
eine Spezialeinheit der Bundeswehr, Anm. der Redaktion]

hansisch: Unabhängig davon, dass es möglicherweise
unbezahlbar ist: Welche Truppenstärke halten Sie in Afghanistan
für notwendig, um tatsächlich die Sicherheit zu gewährleisten,
die für zivile Aufbauhilfe erforderlich ist?

Bernhard Gertz: Ich bin überzeugt, dass die
Zahl der Soldaten nicht entscheidend ist. Natürlich hätte
der Isaf-Oberbefehlshaber gerne mehr Soldaten. Vor allem mit Spezialfähigkeiten,
an denen regelmäßig Mangel herrscht, wie zum Beispiel
Heeresflieger mit funktionstüchtigen Hubschraubern, Fernmelder,
Spezialpioniere, Sanitäter . Entscheidend ist für mich,
dass die Art und Weise der militärischen Kampfführung
im Süden stärker Rücksicht nehmen müsste auf
die Menschen. Natürlich schont es die eigenen Soldaten, wenn
man bei Gegnerkontakt Luftverstärkung anfordert und den vermeintlichen
oder tatsächlichen terroristischen Gegner mit Bomben bekämpft.
Wenn dabei aber regelmäßig Zivilisten getötet werden,
ist man mit dem Anspruch, eine Staats- und Gesellschaftsordnung
errichten zu wollen, die auf dem Respekt vor der Menschenwürde
gründet, nicht mehr glaubwürdig. Deshalb brauchen wir
im Süden eine klügere Art und Weise des militärischen
Vorgehens und entschieden viel mehr zivilen Aufbau.

Rantanplan54: Waren Sie schon persönlich
in Afghanistan? Wenn ja, wie war Ihr Eindruck?

Bernhard Gertz: Ich habe einige Male die deutschen
Stationierungsorte besucht, in Kabul, in Kundus und in Faizabad.
Mein Eindruck war, dass man nach einem Flug von Deutschland über
Usbekistan unmittelbar im Mittelalter landet. In einer Gesellschaftsordnung,
die man erst verstehen muss, bevor man mit Rezepten versucht, die
Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern. Man lernt auch
ein Stück Demut. Man bewundert, wie Menschen unter so kargen
Bedingungen zurecht kommen können. Man entdeckt, dass Langsamkeit
auch eine Tugend sein kann und stellt fest, dass das Gespräch,
dass der Kontakt mit den Menschen sehr viel wichtiger ist als martialisches,
militärisches Auftreten.

Moderator: Zweimal vom gleichen User:

liqmaster: Wie geht die Bundeswehr mit diesen
zivilen Opfern um, die ja durch die OEF verursacht wurden, aber
dennoch den Druck vor Ort auf die Truppe erhöhen, da dadurch
ja ein Misstrauen in der Bevölkerung aufgebaut wird.

liqmaster: Wie wird denn das Engagement der Deutschen
außerhalb Kabuls von der zivilen Bevölkerung aufgenommen?

Bernhard Gertz: Die Deutschen befinden sich im
Norden Afghanistans immer noch in einem ihnen freundschaftlich zugeneigten
Umfeld. Dort ist also offenbar Vertrauen entstanden. Deshalb hat
es ja auch in Kundus nach dem Selbstmordattentat auf die deutschen
Soldaten am 19. Juni 2007 eine spontane Gegendemonstration gegeben.
Im Süden ist die Situation grundlegend anders. Dort befinden
sich unsere niederländischen Freunde – die im Ergebnis unser
Rezept aus dem Norden zu kopieren versuchen – in einem feindseligen
Umfeld, weil das militärische Vorgehen insbesondere der Amerikaner,
Briten und Kanadier die Menschen gegen alle westlichen Soldaten
aufgebracht hat. Bundesminister Dr. Franz-Josef Jung hat vor etwa
sechs Wochen sowohl öffentlich als auch bei seinem folgenden
Besuch in Washington die Zahl der so genannten „Kollateralschäden"
thematisiert. Ich fand das gut, denn nur, wenn man mit den Verbündeten
darüber redet, kann man das Verhalten ändern.

krauler: Ich lebe in Großbritannien. Hier
wird der Einsatz der Bundeswehr sehr kritisch bewertet. Das britische
Militär fühlt sich bei seinen Kampfeinsätzen in den
gefährlichsten Zonen wie Helmand von den Partnern allein gelassen.
In der öffentlichen Diskussion wird der deutschen Afghanistan-Politik
Lahmheit und zum Teil sogar Feigheit vorgeworfen. Mit welchen Argumenten
kann man Ihres Erachtens solchen Vorhaltungen begegnen?

Bernhard Gertz: Diese Vorwürfe sind mir nicht
unbekannt. Sie sind in leicht abgemilderter Form auch schon von
britischen Parlamentariern in der NATO-Parliamentary Assembly erhoben
worden.
Dazu muss man feststellen, dass es die britische Regierung gewesen
ist, die sich für den Einsatz im Süden entschieden hat.
Die Bundesrepublik hat sich entschieden, ihre Truppen auf den Norden
zu konzentrieren und stellt dort den regionalen Befehlshaber. Dass
dort relative Ruhe und Stabilität herrschen, ist auch eine
Folge des seit 2002 klug umgesetzten Konzepts der so genannten „Vernetzten
Sicherheit“, bei der das Militär einen schützenden
Rahmen für den zivilen Wiederaufbau stellt. Soldaten, die diese
Aufgabe haben, können keine Kämpfer im klassischen Sinne
sein. Sie müssen den Kontakt mit Menschen suchen, kommunizieren,
erklären, überzeugen, auf Menschen zugehen. Diese Soldaten
abzuziehen, um sie im Süden in einem militärischen Kampf
einzusetzen, wäre töricht. Ich finde, jeder sollte die
selbst gewählte Aufgabe nach besten Kräften erfüllen.
Wir wären heute schon viel weiter im Norden und im Süden,
wenn die Deutschen beim Polizeiaufbau als Lead-Nation nicht so versagt
hätten und wenn Großbritannien als Lead-Nation bei der
Bekämpfung des Drogenanbaus nicht so katastrophal gescheitert
wäre.

MartinSchneider: Wie steht es um den Ausrüstungsstand
der Bundeswehr in Afghanistan? Vor einiger Zeit war doch mal die
Rede davon, dass Mangel an Fahrzeugen der „Humvee-Klasse"
herrscht, beziehungsweise die vorhandenen veraltet sind. Wie ist
die sonstige Ausrüstungslage vor Ort? [Humvee= ein geländegängiges,
vielseitig einsetzbares Fahrzeug, Anm. der Redaktion]

Bernhard Gertz: Inzwischen haben wir eine ausreichende
Anzahl geschützter Fahrzeuge in Afghanistan. Der Anteil der
geschützten Fahrzeuge am Gesamtfuhrpark der Bundeswehr liegt
bei 45 Prozent. Regierung und Parlament haben in den letzten Jahren
über das Instrument des so genannten „einsatzbedingten
Sofortbedarfs“ Priorität auf die schnelle Beschaffung
geschützter Fahrzeuge gelegt. Deswegen haben wir an dieser
Stelle heute kein nennenswertes Problem mehr. Unsere Kommunikationstechnologie
ist allerdings immer noch von vorgestern. Da hoffen wir darauf,
dass die berühmte Herkules-Lösung eines Tages auch vollständige
Interoperabilität mit unseren Verbündeten zulässt.

Moderator: Herkules = ein Großprojekt zur
Verbindung aller Kommunikationstechnik der Bundeswehr, beziehungsweise
deren Ersatz.

Markus Wochnik: Könnte eine reine Berufsarmee
besser, schneller, effizienter auf die Herausforderungen solcher
Auslandseinsätze reagieren? Wenn ja, warum?

Bernhard Gertz: Eine Berufsarmee hat regelmäßig
das Problem, aus der Gesellschaft genügend qualifizierte Männer
und Frauen für den soldatischen Dienst zu rekrutieren. Einsätze
wie der in Afghanistan haben für junge Leute einen erheblichen
Abschreckungswert. Da mag man sich gerade noch vorstellen, gegen
einen zusätzlichen finanziellen Aufschlag den Grundwehrdienst
von neun Monaten freiwillig auf dreizehn, höchstens 23 Monate
zu verlängern, um in dieser Zeit einmal für vier Monate
in den Auslandseinsatz zu gehen. Aber auf Dauer dabeibleiben will
man nicht.
Deswegen haben alle Berufsarmeen gerade im Bereich der Mannschaften
und Unteroffiziere ein ganz erhebliches Rekrutierungsproblem. Gerade
in Deutschland, vor dem Hintergrund unserer Geschichte, wird jedes
Fehlverhalten von Bundeswehrsoldaten als besonders schwerwiegend
betrachtet. Deswegen kann die Bundeswehr sich nicht leisten, mit
Männern und Frauen in Einsätze zu gehen, die das Leitbild
von Staatsbürgern in Uniform intellektuell nicht auszufüllen
vermögen. In diesem Bereich hat die Wehrpflicht uns über
Jahrzehnte gute Dienste geleistet. Entscheidend ist nicht, ob man
eine reine Freiwilligenarmee hat oder eine Freiwilligenarmee mit
einem begrenzten Umfang an Grundwehrdienstleistenden. Entscheidend
ist, ob diese Armeen seriös finanziert sind in Personal, Betrieb
und Investition. Auch eine unterfinanzierte Berufsarmee wird ihre
Aufgaben nicht wirklich schultern können. Mir fehlt der Glaube,
dass der deutsche Gesetzgeber eine Berufsarmee besser finanzieren
würde, als die jetzige Bundeswehr.

RegiBull: Wenn von der Umstellung auf eine Berufsarmee
geredet wird, kommt an dieser Stelle immer das Argument, dass eine
Wehrpflichtarmee besser in der Bevölkerung und Demokratie verankert
ist. Ich halte dieses Argument für verfehlt, da es den Berufssoldaten
diese Fähigkeit de facto abspricht. Wie denken Sie darüber?
Und sollte man im modernen Deutschland nicht ein wenig mehr Vertrauen
in seine Soldaten haben?

Bernhard Gertz: Das ist in der Tat ein Argument
von gestern oder vorgestern. Ich bin ziemlich sicher, dass meine
Kameraden ihr demokratisches Selbstverständnis nicht an der
Garderobe abhängen würden, wenn aus der Bundeswehr morgen
eine Berufsarmee würde. Aber wenn nur noch die zur Armee kommen,
die mit 18 oder 19 Jahren schon fest entschlossen sind, Soldat werden
zu wollen, gewinnt die Armee ganz sicher ihren Nachwuchs aus einem
wesentlich kleineren Spektrum der politischen und weltanschaulichen
Orientierungen. In der Wehrpflichtarmee sind immer wieder Leute
bei uns geblieben, die nie den Wunsch hatten, Soldat zu werden,
dann aber festgestellt haben, dass auch ein System von militärischer
Hierarchie, Befehl und Gehorsam und Disziplin viele spannende berufliche
Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Die Generation der heutigen
militärischen Führung weist viele solche Persönlichkeiten
auf. Die wären dann künftig nicht mehr da.

Diablo: Denken Sie, der Wehrdienst wird in Zukunft
weiterhin so bestehen bleiben, oder könnte sich da etwas ändern?

Bernhard Gertz: In der SPD gibt es zurzeit eine
intensive Diskussion über die Zukunft der allgemeinen Wehrpflicht.
Die Partei hatte 2005 schon einmal damit begonnen, vor dem Hintergrund
der vorgezogenen Bundestagswahl – den vorgesehenen Sonderparteitag
aber abgesagt. In diesem Jahr werden viele Kräfte in der SPD
auf eine Entscheidung in der Wehrpflichtfrage drängen. Vieles
spricht dafür, dass sich ein Vorschlag durchsetzt, nachdem
man zwar grundsätzlich an der allgemeinen Wehrpflicht festhalten
will, jedoch nur noch diejenigen jungen Männer einberuft, die
sich vorher freiwillig mit ihrer Einberufung einverstanden erklärt
haben. Das wäre ganz sicher das Ende der klassischen Wehrpflicht
in Deutschland, auch wenn die Schöpfer dieser Idee betonen,
man werde für den Fall, dass es nicht genügen Freiwillige
gäbe, auf die zwangsweise Einberufung zurückgreifen. Dieser
Beteuerung glaube ich nicht. Ob in der Koalition darüber Einigkeit
herzustellen ist, darf mit Fug bezweifelt werden.

Moderator: Stellvertretend für viele Fragen
zu diese Thema:

ijo: Wo endet für Sie der Einsatzbereich
der Bundeswehr im Inneren? Würden Sie am Status Quo rütteln?

Bernhard Gertz: Ich halte eine Veränderung
der verfassungsrechtlichen Festlegungen für den Einsatz der
Bundeswehr im Inneren nicht für geboten. Polizeiliche Gefahrenabwehr
im Inland ist Polizeiaufgabe und nicht Aufgabe vom Militär.
Es kann jedoch Situationen geben, in denen Fähigkeiten benötigt
werden, über die die Polizei nicht verfügt. Beispiel:
Ein Flugzeug mit ausschließlich Terroristen an Bord, das als
Waffe benutzt zu werden droht, soll abgeschossen werden. Das kann
nur die Luftwaffe. Der derzeitige Artikel 35 Absatz 2 des Grundgesetzes
lässt aber für den Fall, dass die Bundeswehr um Amtshilfe
bei der polizeilichen Gefahrenabwehr im Inland gebeten wird, auch
für diese nur den Einsatz polizeilicher Waffen zu. Das heißt,
die Luftwaffe müsste dann mit einer Pistole oder Maschinenpistole
auf das Terroristenflugzeug schießen. In diesem Punkt scheint
sich die Große Koalition über eine Wortlautänderung
einig. Alle anderen Vorschläge von Herrn Schäuble lehnt
der Bundeswehrverband genauso ab, wie alle anderen im Bundestag
vertretenen Parteien mit Ausnahme von CDU und CSU.

FatBaron: „Polizeiliche Gefahrenabwehr im
Inland ist Polizeiaufgabe und nicht Aufgabe vom Militär…"
Das ist sicher richtig, aber ist die Polizei denn gerüstet
für den Fall von Anschlägen mit ABC-Waffen zum Beispiel?
Müsste das nicht besser geregelt werden?

Bernhard Gertz: Es wäre nicht klug, bei der
Polizei Fähigkeiten zu duplizieren, die bei den Streitkräften
vorhanden sind. Eine solche technische Amtshilfe wie die Bereitstellung
von Kapazitäten für die ABC-Abwehr ist auch verfassungsrechtlich
viel weniger problematisch, weil es dabei nicht um den Einsatz von
Waffen geht. Hier haben sich schon immer die Fähigkeiten der
Polizei und der Streitkräfte ergänzt. Auch bei der Fußball-WM
waren die ABC-Abwehrkräfte der Bundeswehr in Bereitschaft.

Moderator: Noch mal zu den Auslandseinsätzen:

AnnaLena1: An der Hilfe für Soldaten, die
bei Einsätzen verletzt werden und dann dienstunfähig werden
hat sich bis heute nichts geändert. Sie werden nach Ablauf
eines Jahres entlassen! Warum schafft es der Bundeswehrverband nicht,
für mehr Öffentlichkeit und somit für Druck auf die
Verantwortlichen der Einsätze zu sorgen? Damit „einsatzversehrte"
Soldaten auch in Zukunft der Bundeswehr oder Bundeswehr-Verwaltung
mit ihrem Fachwissen erhalten bleiben?

Bernhard Gertz: Zur Zeit befindet sich der Entwurf
des so genannten „Einsatzweiterverwendungsgesetzes“
in der Ressort-Abstimmung innerhalb der Bundesregierung. Über
den Inhalt besteht bereits Einigkeit, nur die förmliche Prüfung
durch das Bundesministerium für Justiz ist noch nicht abgeschlossen.
Dieses Gesetz soll Soldaten, die im Einsatz verwundet worden sind
und auch nach Abschluss der ärztlichen Behandlung mindestens
50 Prozent Minderung der Erwerbsfähigkeit aufweisen einen Rechtsanspruch
verschaffen, entweder auf Übernahme in das Dienstverhältnis
eines Berufssoldaten oder auf ein Lebenszeitarbeitsverhältnis
im Bundesdienst. Da dieser Entwurf von allen Fraktionen unterstützt
wird, rechne ich damit, dass er noch in diesem Jahr Gesetz wird.
Wir wollen ihn außerdem rückwirkend in Kraft gesetzt
sehen, so dass alle zwischenzeitlich eingetretenen Härtefälle
davon erfasst werden.

Iratus: Wie bewerten Sie die Vor- beziehungsweise
Nachbereitung der Soldaten und Soldatinnen für den Auslandseinsatz
aktuell? Wo und in welchen Bereichen sehen Sie dort noch Verbesserungsmöglichkeiten?

Bernhard Gertz: Aus der Mitgliederbefragung des
Deutschen Bundeswehrverbandes, an der 45.000 Mitglieder teilgenommen
haben, haben wir zwei Erkenntnisse gewonnen:
Erstens: Parlament und Regierung gelingt es nicht, Soldaten die
Sinnhaftigkeit ihrer Auslandseinsätze zu vermitteln. Zweitens:
Die landeskundliche Einweisung in die spezifischen Verhältnisse
im Einsatzland wird von den Soldaten mit großer Mehrheit als
nicht ausreichend empfunden. In beiden Bereichen muss in der Tat
in der Ausbildung vor dem Einsatz nachgearbeitet werden. Bei der
Nachbereitung der Einsätze sollte dem Thema Posttraumatische
Belastungsstörung noch stärkere Beachtung geschenkt werden
als in der Vergangenheit.

bwwb: Was würden die Soldaten vor Ort am
liebsten ändern, was sie jedoch aus rechtlichen oder Mandatsgründen
nicht können?

Bernhard Gertz: Das hängt sehr von der spezifischen
Situation ab, in der sich die Soldaten jeweils befinden. Da kann
etwa der Wunsch aufkommen, die Verfolgung der Kundus-Attentäter
anstelle der afghanischen Polizei selbst machen zu dürfen.
Oder der Wunsch, technische Geräte zur Störung der Auslösung
ferngelenkter Sprengsätze zu besitzen, von denen man gehört
hat, dass es sie gibt und dass sie sich seit geraumer Zeit in der
Erprobung befinden. Als ich im vergangenen Juli in Kinshasa unsere
dort frisch eingetroffenen Eufor-Soldaten getroffen habe, hätten
die am liebsten den Verantwortlichen, der in einer europaweiten
Ausschreibung den Zuschlag an eine spanische Firma für den
Aufbau eines Feldlagers vergeben hatte, auf den Mond geschossen.
Das konnte ich gut verstehen. Im Übrigen sagt man von uns Soldaten,
wenn wir nichts zu meckern hätten, seien wir nicht gesund.

Moderator: Das waren 60 Minuten tagesschau-Chat
mit Bundeswehrverbands-Chef Bernhard Gertz. Herzlichen Dank, Oberst
Gertz, dass Sie bei uns waren, herzlichen Dank an alle User für
Ihr Interesse und die zahlreichen Fragen. Die waren bei weitem nicht
alle zu schaffen. Das Protokoll ist in Kürze auf den Seiten
der Veranstalter www.tagesschau.de und www.politik-digital.de zu
finden. Wir wünschen allen Beteiligten noch einen schönen
Tag!