Rainald BeckerRainald
Becker
, ARD-Korrespondent in Ägypten während des
Irak-Kriegs,
war am 24. April 2003
zu
Gast im tacheles.02 Live-Chat von tagesschau.de und politik-digital.de.

Moderator:
Herzlich willkommen im tacheles.02-Chat. tacheles.02 ist ein Format von
tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt von tagesspiegel.de.
Heute begrüßen wir Rainald Becker, ARD-Korrespondent in Kairo/
Ägypten. Wir haben eine Stunde Zeit. Sind Sie bereit und kann es
losgehen?

Rainald Becker:
Ja, Hallo und Grüße vom Nil

Moderator:
Herr Becker, Sie waren in den vergangenen Tagen für eine Stippvisite
in Syrien. Ihr Ziel war es, sich einen Eindruck über die Lage vor
Ort verschaffen. Wie waren denn Ihre Eindrücke?

Rainald Becker:
Das leben in Syrien verläuft auf den ersten Blick völlig normal,
aber unter der Decke, wenn man mit den Menschen spricht, ist Spannung
und Unsicherheit zu spüren. Jeder fragt sich hinter vorgehaltener
Hand, wie es politisch weitergeht.

Marie: Wie
waren ihre Arbeitsbedingungen in Syrien?

Rainald Becker:
Okay, aber jedes Drehvorhaben, vor allem die sensiblen, wie z.B.
Aufnahmen an der Grenze zum Irak müssen genehmigt werden. In meinem
Fall wurde die Anfrage abgelehnt.

Moderator:
Werden Sie es noch mal versuchen?

Rainald Becker:
Na, für den kommenden Weltspiegel ist es zu spät, aber natürlich
werden wir Syrien und die politische Entwicklung nicht aus den Augen verlieren.

Moderator:
Eine Nachfrage zur Ablehnung der Aufnahmegenehmigung von Marie:

Marie:
Mit welcher Begründung?

Rainald Becker:
Die Begründung ist in solchen Fällen immer die gleiche: nicht
im Interesse des Landes und zu unsicher für Journalisten.

Rzeznik: Als
wie real schätzt die syrische Bevölkerung die Gefahren eines
drohenden Krieges ein?

Rainald Becker:
Derzeit als nicht real, aber für die weitere Zukunft des
Landes will sich niemand wirklich festlegen.

Jule: Besitzt
Syrien tatsächlich Massenvernichtungswaffen?

Rainald Becker:
Gute, aber schwer zu beantwortende Frage. Es gibt Berichte –
nicht bestätigt – über Chemiewaffen – Tests vor einigen Jahren.

Rzeznik: Wie
unabhängig berichten die syrischen Medien über die Situation
im Irak und über die Spannungen zwischen USA und ihrem Land?

Rainald Becker:
So unabhängig wie Medien in arabischen Ländern sind,
d.h. die meisten Zeitungen, das Fernsehen und der syrische Rundfunk, sind
entweder staatsnah oder gar von regierungstreuen Managern geleitet. Im
Mittelpunkt steht immer das syrische und das arabische Interesse.

Iberischer
Halbpinsel:
Wie sieht die Zukunft in Syrien aus, ist mit einem
demokratischen System mit oder ohne militärische Intervention zu
rechnen?

Rainald Becker:
In absehbarer Zeit sicherlich nicht. Das würde einen radikalen
Regimewechsel voraussetzen, und dazu ist die syrische Bevölkerung
weder bereit noch in der Lage. Wir reden hier von einem Regime, dass sich
mit Hilfe einer Einheitspartei und Geheimdiensten an der Macht hält,
und das seit 30 Jahren.

Moderator:
Eine Frage von Wetzel zum Regimewechsel:

Wetzel: Kann
es sein, dass manche die Ablösung der Baath-Regierung in Syrien begrüßen
würden, auch wenn es die Amerikaner tun?

Rainald Becker:
Sicher gibt es manche, die das begrüßen würden, aber offen
sagen will das keiner, und zu viele profitieren auch vom Regime.

Moderator:
Wer würde das denn begrüßen? Dazu passt auch
die Frage:

rinder wahn:
Was macht die syrische Opposition, gibt es sie und wo sitzt sie?

Rainald Becker:
Die syrische Opposition, die, die sich offen als solche bezeichnet,
sitzt im Ausland in Europa, den USA. Im Land ist eine offen geäußerte
Opposition mit dem Ziel eines Regimewechsels nicht möglich.

Micha: In
den letzten Wochen sah es Medienberichten zufolge so aus, als würde
bald ein Angriff der USA auf Syrien erfolgen. Jetzt bemühen sich
die Amerikaner um Beschwichtigung. Wie kam es zu diesem Meinungswechsel?

Rainald Becker:
Offensichtlich Einsicht in das derzeit nicht Mögliche. Für
einen Angriff auf Syrien gibt es bisher keine bestätigte Rechtfertigung,
und ein solcher Akt würde die ganze arabisch-islamische Welt endgültig
gegen die USA aufbringen.

Assembly:
Hat der Druck der USA auf Syrien schon Auswirkungen auf die Politik
des syrische Staatschefs Assad gehabt?

Rainald Becker:
Ja, denn die arabischen Staaten sind in der Syrien-Frage eindeutig
zusammengerückt und Assad hat sich sofort auch europäischer,
insbesondere französischer Unterstützung vergewissert. Auch
die Russen sind gegen jede Aktion gegen Syrien. Zudem hat Syrien bei den
Vereinten Nationen eine Resolution eingebracht, mit dem Ziel, den gesamten
Nahen Osten WMD (Massenvernichtungswaffen-) frei zu bekommen, also auch
Israel.

sms: Was
ist das syrische Interesse im Irak-Konflikt und der Nachkriegszeit?

Rainald Becker:
In erster Linie Ruhe an der Grenze, keine Verbindungen mit dem
Saddam – Regime deutlich werden zu lassen, und sich selbst so demokratisch
wie möglich nach außen zu präsentieren.

Gabriel: Hat
Bashar Assad knapp drei Jahre nach dem Tod seines Vaters die von der Bevölkerung
Syriens in den jungen Herrscher gesetzten Erwartungen erfüllt?

Rainald Becker:
Nur teilweise, denn die alten Weggefährten seines Vaters
ist er nicht losgeworden. Der Außen- und der Verteidigungsminister
beispielsweise regieren ganz sicher im Sinne des Vaters weiter. Zaghafte
Liberalisierungsversuche sind inzwischen weitgehend im Sande verlaufen.

Moderator:
Wie verlassen kurz Syrien und kommen zu einem anderen Konfliktherd:

MatthiasA.:
Ich habe eine Frage: Was ist eigentlich mit den Kurden? Geraten
sie wieder in Vergessenheit? Man hat den Kurden immerhin einen Kurdenstaat
versprochen?

Rainald Becker:
Die Kurden werden im Nachkriegsirak sicher eine Rolle spielen,
die Frage ist nur welche. Ein Kurdenstaat ist nicht im Interesse zum Beispiel
der Türkei, aber auch nicht des Iran. Und bei den USA ist man wohl
noch dabei, die Meinung zu finden. Im Moment spricht vieles dafür,
dass man erst mal eine Art weitgehender Autonomie zugestehen wird.

StWeber: Meinen
Sie, dass der Irak-Krieg die Friedenschancen in Israel eher erhöht
oder verringert hat? Wird es zu einer weiteren Radikalisierung der extremen
Moslems kommen?

Rainald Becker:
Das kann man nie ausschließen, aber für Frieden mit Israel
ist vor allem die politische Entwicklung der palästinensischen Selbstverwaltung
entscheidend. Das neue Kabinett wird wesentlich dazu beitragen können
und müssen, dass der Friedenplan des sogenannten Quarttets wirklich
eingesetzt werden kann. Der sieht ja bekanntlich die Gründung eines
Palästinenserstaates 2005 vor.

Moderator:
Wie ist denn in der arabischen Welt die Reise von Außenministern
Fischer und sein Treffen mit Arafat aufgenommen worden?

Rainald Becker:
Die deutsche Rolle im Friedensprozess wird hier grundsätzlich
positiv gesehen, zumal nach der deutschen Haltung zum Irak-Krieg, aber
die Wirkung einer solchen Reise ist nicht wirklich und unmittelbar zu
messen.

JoGRA: Warum
engagiert sich Außenminister Fischer nicht noch stärker im
Friedensprozess und übernimmt sogar eine ECHTE Vermittlerrolle?

Rainald Becker:
Das ist so nicht möglich aus zwei Gründen: 1. Das besondere
deutsche Verhältnis zu Israel und 2. eine Lösung sollte auch
nach den Vorstellungen der arabischen Staaten von ihnen selbst kommen.

Regine: Wird
das aktuelle palästinensische Attentat Auswirkungen auf den Friedensprozess
in Israel haben?

Rainald Becker:
Wie bei jedem Attentat – so zynisch das klingen mag – hat es
kurzfristig hemmende Wirkung, mittel- und langfristig aber keine, denn
es gibt selbst nach Einschätzung der Beteiligten keine Alternative
zum Friedensprozess.

JoGRA: Welchen
Einfluss wird Präsident Arafat noch auf die weitere Entwicklung des
Nahost-Friedensprozesses haben? Welche Macht hat Abbas?

Rainald Becker:
Arafats Einfluss ist zwar noch zu spüren, aber zunehmend weniger.
Selbst bei seinen arabischen Gesprächspartnern gilt er als Auslaufmodell.
Sein Einfluss stirbt langsam, und das ist für die Entwicklung nur
gut. Abbas muss jetzt beweisen, dass er seinem Ruf als gemäßigter
Reformer auch Taten folgen lässt.

Moderator:
Auch wenn wie sie sagen, dass alle den Friedensprozess wollen,
warum stockt er dann so?

Rainald Becker:
Gute Frage, die Antwort darauf wäre der Schlüssel zur
Lösung. Er stockt, weil die Motoren des Prozesses, also die USA,
Europa, Vereinte Nationen u.a. jetzt den Focus auf Irak gerichtet hatten
und er stockt, weil Sharon nur Reformen bei den Palästinensern fordert,
selber bei seinen Siedlern aber so gut wie nicht aktiv wird.

Moderator:
Danke für die Blumen, eine weitere Frage zum Friedensprozess:

Edasimi: Kann
man überhaupt von Friedenprozess sprechen, ohne dass zu einer vollständigen
Räumung der Siedlungen und einer Lösung für beide Parteien
in Jerusalem?

Rainald Becker:
Was sie beschreiben, ist der angestrebte Zustand. Derzeit verlieren
sich die Politiker im Gerangel um den Weg dahin, wie es gehen kann und
welche Forderungen auf dem Tisch liegen, wurde schon vor vielen Jahren
im Oslo-Vertrag beschrieben.

JoGRA: Inwieweit
ist Ministerpräsident Scharon überhaupt bereit, einen Palästinenserstaat
zu akzeptieren?

Rainald Becker:
Die Frage hat er für meine Begriffe nie wirklich klar beantwortet.
Er zieht sich immer zurück auf die Sicherheitsinteressen Israels
und sichere Grenzen.

Moderator:
Themenwechsel hin zu einem anderen Land in der Region:

MatthiasA.:
Was für eine Rolle spielt die Türkei in der Nachkriegszeit

Rainald Becker:
Die Türkei hat vielfältige Interessen, zum einen kann
ihr nicht an einem kurdischen Nachbarstaat gelegen sein, zum anderen darf
sie eine starke Islamisierung an ihren Grenzen nicht zulassen. Das gefährdet
ihre Einbindung in westliche Bündnisse wie Nato und eine mögliche
Mitgliedschaft in der EU. Sie darf aber auch durch zu restriktive Politik
nicht die islamischen Bruderstaaten verprellen – eine Gratwanderung für
die türkische Regierung in der kommenden Zeit.

Moderator:
Im Rundflug zurück nach Ägypten, wo Sie sich ja gerade befinden:

Beto: Hat
sich der Zorn der Ägypter über den Einmarsch der Amerikaner
im Irak etwas gelegt?

Rainald Becker:
Ja, das hat er zum Teil von selbst durch die doch kürzer
als erwartete Kriegsdauer. Zum anderen ist er auch rigoros gelegt worden
durch extreme Sicherheitsmassnahmen und konsequente Verhaftungen.

Pete: Wie
beurteilt die öffentliche Meinung in Kairo den Krieg der USA gegen
Irak?

Rainald Becker:
Der Krieg wird nach wie vor als illegal betrachtet und abgelehnt,
aber er ist ja inzwischen auch ein Fakt. Viel wird jetzt davon abhängen,
wie sich die Amerikaner im Irak verhalten, bezogen auf Öl, Nachkriegsordnung
und schnellen Abzug.

pink: Wie
betrachten die Staaten des Nahen Ostens Europa, eher als Verbündeten
gegen die Supermacht oder eher als Verbündeten der Supermacht?

Rainald Becker:
Man kennt seine Freunde wie zum Beispiel Deutschland und Frankreich,
die durch ihre Haltung zum Krieg hier sicherlich Punkte gesammelt haben.
Aber man verurteilt interessanterweise auch England nicht pauschal, hofft
da eher auf den positiven Einfluss von Deutschland und Frankreich.

Beto:
Mal angenommen, die Amerikaner attackieren weitere arabische Länder,
glauben Sie, dass sich das arabische Volk auf die Dauer im Zaum halten
lässt?

Rainald Becker:
Ich könnte jetzt diplomatisch abgewogen antworten, aber
kann es angesichts der Radikalität der Frage auch kurz machen: Sie
wären dann wohl nicht mehr ruhig zu halten.

Moderator:
Würde das den Regierungen schaden, etwa in Ägypten?

Rainald Becker:
In jedem Fall würde es ihnen schaden, im Extremfall könnte es
sie sogar in ihrer Existenz gefährden.

Moderator:
Vorletzte Frage:

Pilot_Pirx:
Bekommen wir jetzt als Folge des Krieges eine panarabische Bewegung?

Rainald Becker:
Damit rechne ich nicht, dazu sind die Araber untereinander zu
zerstritten. Der letzte Versuch einer panarabischen Bewegung unter Gamal
Abdel Nasser ist auch nach relativ kurzer Zeit gescheitert.

Pilot_Pirx:
Was kann die US-Regierung tun, um ihr Standing in der arabischen
Welt jetzt zu verbessern?

Rainald Becker:
Kurz und klar geantwortet: die Soldaten schnell abziehen, aber
ausreichend Dollars und technisches Know-how dalassen.

Moderator:
Jetzt die letzte Frage: Wie lange bleiben sie noch in Ägypten und
wann sehen wir sie in der ARD?

Rainald Becker:
Nun, am Wochenende kehre ich zurück auf meinen angestammten
Arbeitsplatz als politischer Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio in
Berlin, am Sonntag kommt mein Weltspiegel-Beitrag über Syrien, und
danach sehen sie mich wieder aus Berlin. Der arabischen Welt und Politik
bleibe ich aber verbunden, vielleicht führt mich der Weg nach Berlin
ja wieder hierher.

Moderator:
Liebe Chat-Freunde, unsere Gesprächsrunde ist leider vorbei.
Herzlichen Dank, Herr Becker, dass Sie mit uns gechattet haben und vielen
Dank an alle UserInnen für Ihr Interesse. Danke für die sehr
spannenden Antworten, Herr Becker und alles gute für Ihre Rückreise.

Rainald Becker:
Ich danke auch. Tschüß vom Nil.

maxim2003:
Vielen Dank, dass sie Zeit für uns hatten.

Moderator:
Noch ein Terminhinweis: Am Montag, 28. April 2003, ist Shimon
Stein, israelischer Botschafter in Deutschland, von 17.30 bis 18.30 Uhr
Gast im tacheles.02 Live-Chat. Wir würden uns freuen, wenn Sie wieder
dabei sind. Die Transkripte aller tacheles.02-Chats finden Sie auf den
Webseiten der Veranstalter www.tagesschau.de und www.politik-digital.de.
Tschüß aus Berlin!