Am 26. Juni 2007 war Silke Engel, ARD-Korrespondentin
in London, zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de.
Sie erwartet von dem Blair-Nachfolger Gordon Brown einen ernsthafteren
Regierungsstil. Das britische Verhältnis zu Deutschland werde
jedoch distanziert bleiben, vermutet Engel.

Moderatorin: Liebe Politik-Interessierte, herzlich
willkommen zum tagesschau-Chat. Unser Gast ist heute Silke Engel,
Korrespondentin im ARD-Studio London. Auf der Insel vollzieht sich
gerade ein Machtwechsel: Tony Blair tritt am 27. Juni als britischer
Premierminister ab, sein Schatzkanzler Gordon Brown folgt ihm nach.
Silke Engel ist ganz nah am Geschehen. Nutzen Sie die Gelegenheit
und stellen Sie ihre Fragen rund um Großbritannien! Frau Engel,
können wir beginnen?Silke Engel

Silke Engel: Auf geht’s!

Moderatorin: Viel Interesse an der Person Brown:

DBeck: Was sagt die englische Presse zu Brown?
Gibt es schon einen Spitznamen für ihn?

Silke Engel: Brown hat viele Spitznamen: brummiger Analytiker,
mürrischer Schotte.

Britannia: Hat eigentlich die Queen schon auf
Brown reagiert?

Silke Engel: Noch überhaupt nicht. Das hat jedoch nichts zu
sagen. Die Queen hält sich da traditionell raus.

Dr. Kaiser: Brown gilt im Gegensatz zu Blair als
spröde und uncharismatisch. Kann er Labour aus der Vertrauenskrise
führen?

Silke Engel: Viele Briten hoffen das. So charismatisch Blair ist,
er war vielen nicht substanziell genug. Diese Bodenhaftung soll
Brown den Sozialdemokraten zurückgeben. Außerdem erhoffen
sich die Briten weniger Medienhype, weniger Schauspielerei und statt
dessen ernsthaftere Politik. Die neuen Akzente beziehen sich vor
allem auf das Soziale in Großbritannien. Die öffentliche
Gesundheitsversorgung soll besser werden; die Bildung hat sich Brown
vorgenommen. Vor allem aber soll die Regierung nicht von oben herab
regieren, sondern das Volk mitnehmen und die Entscheidungen transparenter
machen.

tricky: Was sind die wichtigsten Anliegen der
neuen Brown-Regierung? Was wird sich am meisten verändern?

Silke Engel: Vor allem der Regierungsstil wird sich ändern.
Inhaltlich ist zunächst kein „Linksruck“ zu erwarten.
Gleichwohl will Brown mehr auf Werte setzen und Labour die Seele
zurückgegeben.

neoblair: Was hat Europa in Bezug auf Gordon Brown
zu erwarten? Wird der schleichende Abschied der Briten von Europa
nun manifestiert?

Silke Engel: Bisher galt Brown immer als europaskeptischer im Vergleich
zu Blair.

Moderatorin: In welchen Punkten vor allem?

Silke Engel: Was die Finanzpolitik angeht: Brown ist ein Verfechter
des freien, harten Wettbewerbs. Da lässt er sich nicht reinreden.
Außerdem haben die Briten Angst vor zu vielen Regelungen aus
Brüssel. Da halten sich die Briten zurück. Sie haben eher
zu Hause Probleme. Weil Presse und Opposition ein Referendum fordern.

Divus: Was ist mit dem EU-Beitritt der Türkei?
Wie wird die Haltung Browns sein?

Silke Engel: Brown hat sich dazu bisher zurückgehalten. Erweiterungsfragen
werden in London momentan gar nicht diskutiert.

Moderatorin: Eine Nachfrage:

ms. singer: Was verstehen Sie denn unter „Labour
die Seele zurückgeben"?

Silke Engel: Blair wurde vorgeworfen, schnelllebig auf alles aufgesprungen
zu sein. Dadurch hat er traditionelle, sozialdemokratische Werte
über Bord geworfen. Aber Brown will diese Werte wie soziale
Gerechtigkeit, Chancengleichheit, eine gerechtere Verteilung des
Wohlstandes wieder stärker in den Mittelpunkt seiner Politik
rücken.

neoblair: Wird Labour mit Brown an der Spitze
mehrheitsfähig bleiben oder ist ein konservativer turn around
(„Wende“, Anm. d. Red.) zu erwarten?

Silke Engel: Das hängt davon ab, ob Brown den momentanen Vertrauensvorschuss
gut nutzen kann. Wenn er tatsächlich alles wahr macht, was
er ankündigt, dann gelingt es. Also: ein Kabinett mit Talenten
errichten und Debatten zulassen, auch wenn sie mal der großen
Linie der Partei widersprechen wie in der Irak-Politik. Denn die
Briten wollen Entscheidungen und keinen Schauspieler mehr. Die Konservativen
haben zwar einen besseren Entertainer an der Spitze. Aber keiner
weiß, wofür die Tories inhaltlich stehen. Wenn Brown
also tatsächlich inhaltliche Argumente dagegensetzt, dann fällt
seine etwas hölzerne Persönlichkeit nicht so ins Gewicht.
Momentan zeigen Umfragen jedenfalls, dass Brown ankommt, auch wenn
er nicht immer lächelt.

derreimers: Traditionell steht Großbritannien
den USA sehr nah. Hat sich Brown in letzter Zeit zu dem anstehenden
Wahlkampf in den USA geäußert? Welche Auswirkungen sind
auf die Beziehung zur Bush-Regierung zu erwarten?

Silke Engel: Grundsätzlich sieht sich Brown als Transatlantiker.
Er holt sich viele Anregungen aus den USA, vor allem im Ökonomischen.
Gleichzeitig aber hat er betont, dass sich an den internationalen
Verpflichtungen vorerst nichts ändert. Das heißt: Die
britischen Soldaten im Irak und in Afghanistan bleiben erst einmal.
Und sie verdienen die Unterstützung der britischen Regierung.
Aber Brown räumte auch Fehler ein in der Irak-Politik: Auch
die Geheimdienste haben nicht alles richtig gemacht, sagte er. Da
will er künftig darauf achten, dass so etwas wie mit den vorgeschobenen
Massenvernichtungswaffen nicht mehr vorkommt. Ansonsten jedoch hält
er sich mit konkreten Plänen zur Außenpolitik und zu
dem Verhältnis zu Bush zurück.

Divus: Sollten die USA einen neuen „Präventivschlag"
umsetzen (beispielsweise gegen den Iran), wird Brown sie „uneingeschränkt"
unterstützen, wie sein Vorgänger es tat?

Silke Engel: Er wird skeptischer sein, nicht sofort Unterstützung
zusagen. Aber er wird auch keine politische Linie neben den Amerikanern
fahren.

freundderfreiheit: Ist Brown nicht ebenfalls wie
Blair schon „ausgepowert"? Immerhin ist er genauso lange
wie Blair an der Regierung.

Silke Engel: Das ist ein Problem seiner künftigen Politik.
Er kann nicht alles von der Regierung Blair über Bord werfen,
weil er ja selbst beteiligt war. Gleichzeitig will er neue Akzente.
Und diesen Spagat den Briten zu verkaufen, dürfte nicht immer
leicht sein. Auch betont er immer die offenen Debatten, dass er
lernen und zuhören will. Das hätte er auch schon unter
Blair machen können. Da ist er mit den Eigenschaften jedoch
weniger aufgefallen. Insofern muss Brown seinen Ankündigungen
Taten folgen lassen, sonst hat er schnell verspielt.

Moderatorin: Zwischenfrage zum Charakter Blairs: Sie haben ihn
in einem Kommentar als engagierten, mitreißenden Überredungskünstler
und Populisten bezeichnet. Wie kommen Sie zu diesem Urteil?

Silke Engel: Tony Blair ist meiner Erfahrung nach ein begnadeter
Redner. Der kann sich auf eine Bühne stellen und alle sofort
in seinen Bann ziehen. Das heißt aber nicht, dass seine Argumente
alle schlüssig sind. Insofern redet er gut, oft achtet er jedoch
mehr auf die Rhetorik als auf den Inhalt. Das belegen alle Kampagnen,
die er gestartet hat. Populistisch deshalb, weil er oft den Zeitgeist
nimmt, um seine Politik zu vermarkten – er lud Popstars nach Downing
Street ein und so weiter. Inhaltlich aber hat er oft nicht Wort
gehalten. Beispiel Irak-Krieg: Die Massenvernichtungswaffen waren
vorgeschoben. Beispiel EU-Verfassung: Mal hat Blair ein Referendum
angekündigt, mal war es wieder nicht nötig. Er hat seine
Ansichten oft still und heimlich geändert.

sketcher: Ist das so eine Art Mentalitätswechsel
in der britischen Politik? Weg von den immer lächelnden Charismatikern,
hin zu einer neuen Ernsthaftigkeit?

Silke Engel: Auf jeden Fall.

Hermann54: Was wird eigentlich jetzt aus dem deutsch-britischen
Verhältnis? Mehr Herzlichkeit?

Silke Engel: Das glaube ich kaum. Brown kann mit Europa generell
und den Deutschen im Besonderen wenig anfangen. Das mag vor allem
an seinen mangelnden Sprachkenntnissen liegen. Es bleibt so wie
es ist, denke ich.

Melvin: Wie werden denn Angela Merkel und Gordon
Brown miteinander auskommen?

Silke Engel: Bisher hatte Brown ja noch nicht so viel Gelegenheit,
direkt mit Angela Merkel zu sprechen. Blair und Merkel haben sich
immer sehr gut verstanden. Und seit dem G8-Gipfel wird die zupackende,
pragmatische Art der deutschen Bundeskanzlerin sehr gelobt in der
britischen Presse. Was Brown allerdings gegen den Strich gehen dürfte,
ist Merkels Einsatz für ein engeres Europa. Da sind die Positionen
nach wie vor weit auseinander.

Croy: Brown hat 2003 gesagt: „Meine Schlussfolgerung
ist die folgende: Wenn sich anhand unserer fünf wirtschaftlichen
Kriterien herausstellt, dass ein Beitritt zum Euro gut für
den Erhalt von britischen Arbeitsplätzen, gut für die
Wirtschaft und für künftigen Wohlstand ist, dann ist es
aus ökonomischer Sicht und im nationalen Interesse richtig,
der gemeinsamen Währung beizutreten." Wie steht er heute
zum Euro?

Silke Engel: Genauso ablehnend. Hier in Großbritannien geht
keiner davon aus, dass der Beitritt zur Eurozone näher gerückt
ist. Es wird nach wie vor auf die Kriterien verwiesen, ohne dass
sie bewertet werden. Das heißt: Es läuft für Großbritannien
auch ohne Euro hervorragend. Daher braucht man die Einheitswährung
nicht. Und der Bevölkerung ist das gerade recht.

Moderatorin: Wahnfried fragt noch mal allgemein:

Wahnfried: Wie sehen denn Browns britische Perspektiven
für Europa aus?

Silke Engel: Dazu äußert er sich nicht konkret. Nur
Allgemeinplätze, dass Europa wichtig ist und dass Großbritannien
weiter eine Brückenfunktion einnimmt. Das heißt, dass
er dafür sorgen will, dass die Beziehungen zwischen Amerika
und dem Kontinent besser werden. Ansonsten aber wenig Konkretes.
Auch die in Zeitungen gefeierte neue Achse Paris-London – die ist
hier überhaupt kein Thema.

Moderatorin: Zur Innenpolitik:

Azim1: Wie sind die Ansichten Browns zur Integrationspolitik
und Minderheitenreligionen?

Silke Engel: Brown will die Chancengleichheit erhöhen und
zugleich die Migranten mit seiner Politik beim Verstand und beim
Herzen packen. So hat er es wörtlich ausgedrückt. Damit
Extremisten in der britischen Gesellschaft keine Chancen mehr haben.
Außerdem plädiert er für besseren Englischunterricht
bei den Zuwanderern, der auch zur Pflicht werden soll. Überhaupt
ist Bildung in dem Zusammenhang der Schlüssel. Denn nach jüngsten
Studien sind es gar nicht die Einwanderer, die arbeitslos sind und
an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, sondern vielmehr
Briten aus der ehemaligen Arbeiterklasse, der Unterschicht. Die
leben oft über Generationen von Sozialhilfe.

Neilpryde: Wird Gordon Brown versuchen, die Mittelklasse
in Großbritannien zu stärken? Wo er doch, wie ich hörte,
die letzten Jahre daran arbeitete, Labour der betreffenden Schicht
näher zu bringen?

Silke Engel: Brown muss die Mittelschicht bei der Stange halten
und zugleich zu den Wurzeln der Sozialdemokraten zurückkehren.
Aber es ist eine Legende, dass Brown so viel linker eingestellt
ist als Blair. Immerhin hat Brown eingeführt, dass staatliche
Projekte für private Geldgeber geöffnet werden. Er drängt
wie zuletzt bei dem EU-Gipfel auf den harten, ungeschützten
Wettbewerb.

lotsenboot: In London steht an jeder Ecke eine
Kamera wegen der Furcht vor Terroranschlägen – obwohl,
die Kameras gab’s ja auch schon früher. Wird das eigentlich
in Großbritannien noch diskutiert oder ist das allgemein akzeptiert?

Silke Engel: CCTV stört die Briten gar nicht (CCTV bedeutet
„Closed Circuit Television“ und beschreibt die Videoüberwachung
von öffentlichen Räumen oder des Verkehrs, Anm. d. Red.).
Die große Mehrheit sagt: Wenn es der Verbrechensbekämpfung
dient, warum nicht.

lotsenboot: Wir haben in Deutschland ja eine hübsche
Mindestlohn-Debatte. Wie finden die Briten die Erfahrungen, die
sie bislang damit gemacht haben? Und kann man den Mindestlohn dort
mit dem hier vergleichen?

Silke Engel: Seit es den Mindestlohn hier gibt, ist man weitgehend
zufrieden damit. Und zwar von allen Seiten. Eine Debatte darüber
gibt es nicht. Allerdings herrscht auch Kritik, gerade durch die
vielen Zuwanderer, die den Mindestlohn umgehen, um überhaupt
einen Job zu finden. Sie arbeiten oft länger oder unter der
Hand für weniger Geld – trotz der Kontrollen. Trotzdem lassen
sich Deutschland und Großbritannien nicht wirklich vergleichen.
Denn in Großbritannien wächst seit Jahren die Wirtschaft
und die Arbeitslosigkeit ist weit niedriger als in Deutschland.
Hier wird der Mindestlohn also nicht als Instrument gesehen, um
Langzeitarbeitslose zu zwingen, wieder einen Job anzunehmen. Aber
Schwarzmarkt und schlecht qualifizierte Arbeitnehmer, das gibt es
auch hier.

gb100: Welche Rolle spielt es, dass Brown Schotte
ist?

Silke Engel: Das erhöht die Skepsis bei vielen Nicht-Schotten.
Spannend wird auch beobachtet, wie sich Schottland nach den gerade
erst abgeschlossenen Regionalwahlen behauptet. Grundsätzlich
sind viele misstrauisch einerseits, andererseits aber fordern viele
auch, den London-Zentralismus aufzubrechen. Und dafür kann
Brown als Schotte als gutes Beispiel gelten.

Moderatorin: Zurück ins Ausland. Blair bekommt einen neuen
Job. Dazu Fragen:

Nahost: Was kann Blair eigentlich in Nahost als
Gesandter bewirken? Durch die Teilnahme am Irak-Krieg ist doch da
sicher viel Vertrauen und Sympathie verspielt.

Silke Engel: Das verwundert in London auch viele, dass ausgerechnet
der „Kriegstreiber" Blair jetzt neuer Friedensmissionar
werden soll. Gleichzeitig aber ist er ein hervorragender Diplomat,
der verhandeln kann, der Ausdauer hat, auch wenn es mal schwierig
wird. Seine Rolle als Friedensstifter hat er in Nordirland unter
Beweis gestellt. Insofern hofft auch London, dass Blair etwas bewirken
kann im Nahen Osten. Aber es gibt auch viele, die ernsthaft um seine
Sicherheit fürchten.

Mat3.0: Welche Initiative kann man von Gordon
Brown in der Krise im Nahen Osten erwarten, insbesondere wo ihm
mit Tony Blair nun ein alter Bekannter (und Widersacher) als verlängerter
Arm (oder Klumpfuß) zur Verfügung steht?

Silke Engel: Brown wird sich erst einmal zurückhalten und
sich schrittweise an die Außenpolitik herantasten. Aber in
der Tat ist er „not amused", bei Nahost-Verhandlungen
auf Blair zu treffen. Er befürchtet, dass ihm reinregiert wird,
was Brown gar nicht leiden kann. Der hat am liebsten alles unter
Kontrolle. Aber seine Prioritäten sind zunächst innenpolitische
Fragen.

Moderatorin: Wie sieht denn Browns Auslandsreiseplan aus? Wen wird
er als erstes besuchen?

Silke Engel: Der genaue Reiseplan steht noch nicht fest. Zunächst
wird er erst einmal seine neue Regierungsmannschaft ernennen.

Moderatorin: Da interessieren sich noch zwei für Browns royale
Gesinnung:

Azim1: Wie steht Brown zum Königshaus?

lemieux66: Ist er jemand, der dem Empire nachweint?

Silke Engel: Brown ist der Sohn eines Predigers. Er ist pflichtbewusst
und will seinem Land dienen. Da zeigt er eine ähnliche Demut
wie die Queen. Dem Empire weint er zwar keine Träne nach. Aber
er ist stolz auf die britische Geschichte und versucht, im modernen
Großbritannien so etwas wie Nationalstolz, also „Britishness"
zu etablieren. Denn weil so viele Nationen hier zusammenleben, gibt
es für manche nichts, was die Nation zusammenhält. Da
möchte Brown gerne was für tun und Werte schaffen, mit
denen sich alle Briten – egal welchen Ursprungs – identifizieren
können.

Moderatorin: Unsere Zeit ist um, herzlichen Dank nach London an
Silke Engel. Auch ein herzliches Dankeschön an die Chat-Teilnehmer
und ihre Fragen. Leider konnten wir sie nicht alle stellen.