tacheles.02 spezial: Chatduell am 6. September 2002

 

Gregor Gysi
Christoph Schlingensief

 

Moderator: Seien Sie willkommen bei unserem Live-Chat-Duell tacheles.02 spezial. Ich begrüsse herzlich den Film- und Theater-Regisseur Christoph Schlingensief in Erfurt und den PDS-Politiker Gregor Gysi in Berlin. Wo hört Politik auf und wo fängt Show an? – Darüber wollen wir heute mit unseren beiden Gästen diskutieren.

Moderator: tacheles.02-Spezial ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de und findet im Rahmen des Debattenforums wahlthemen.de statt, einem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Zentrum für Medien und Interaktivität und politik-digital.de.

Herr Schlingensief, Herr Gysi – Sind Sie bereit für Ihren Showdown in unserem Chat?

Gregor Gysi: Ja

Christoph Schlingensief: Welcher show-down?

Moderator: Der zu dem Sie bei uns eingeladen sind! Herr Schlingensief, Sie sagen, Politiker würden heutzutage anstatt Politik zu machen nur noch Bilder produzieren, auf die der Gegner reagieren muss! Können Sie dieses Bild idealerweise an Herrn Gysi erklären?

Christoph Schlingensief: Habe ich das gesagt? – Gut, wenn Sie so wollen, dann entspricht Herr Gysi im ersten Moment dem Bild eines reuigen Sünders. Es scheint zu funktionieren. Doch da wir selber Sünder sind, zweifeln wir am Reinheitsgebot. Ich frage Gysi: Warum er in dem Moment, in dem er sich als Sünder fühlt, den Ort, an dem er überprüfbar seine Sünde "abarbeiten" könnte, den Rückzug plant?

Gregor Gysi: So etwas kann man nicht glaubhaft in einer Funktion abarbeiten. Die Leute verstünden es nur als Festhalten an dem, was man mißverständlich unter Macht versteht – festem Einkommen und Privilegien, vor allem aber an medienwirksamer Öffentlichkeit über ein Amt. Solche Entscheidungen sind sie bei mir alle emotional und rational bestimmt. Ich weiss, dass gerade die Anhängerschaft der PDS auf der einen Seite eine solche Konsequenz wünscht, sie andererseits auch bedauert. Rationalität hilft in 50/50 Situationen nicht ausreichend weiter.

Christoph Schlingensief: Dann wäre es doch gerade jetzt an der Zeit zu fragen, warum wir als Bürger die Auseinandersetzung mit Fehlern nicht sehen wollen und sollen?

Gregor Gysi: Das konnte ja nun jeder sehen, wenn er nur wollte. Das Aussitzen und Wegwischen ist ja auch nicht zum Einmischen anderer geeignet.

Christoph Schlingensief: Ich denke, wir sind da konditioniert. Wenn keiner in der Politik in der Lage ist, diese Auseinandersetzung öffentlich zu führen, dann kann Politik automatisch nicht mehr ehrlich sein.

Gregor Gysi: Außerdem stelle ich mich nun ja auch regelmäßig der Öffentlichkeit, im Augenblick sogar Schlingensief. Es erleichtert mir außerdem einen eventuellen Neu- und Andersstart.

Christoph Schlingensief: Aber ist das kein ähnlicher Neustart, wie ein Bonus-Flug-Betrüger Späth, der nun im Kompetenz-Team sitzt?

Moderator: Wo können wir Sie denn in Zukunft bewundern?

Gregor Gysi: Ich werde dadurch ja nicht unpolitischer. Vielleicht sogar im Gegenteil. Warum haben Sie in dieser Bundestagswahl eigentlich keine eigene Partei gegründet, Herr Schlingensief?

Christoph Schlingensief: Ist das die Kompetenz, die Sie meinen, um einen Neustart zu legitimieren?

Gregor Gysi: Späth hat seine Maßstäbe, ich meine. Die Öffentlichkeit kann es bewerten. Außerdem war Späth lange Zeit politisch zurückhaltend, wenngleich auch nicht ökonomisch. Nein. Was ich meine, ist ein inneres Befreiungsgefühl, um neu starten zu können, wenn Zeit, Raum, Situation und innere Verfassung dies zulassen.

Christoph Schlingensief: Oh je, besuchst Du gerade ein Philosophie-Seminar?

Gregor Gysi: Das liegt schon viele Jahre zurück. Im Bundestag musste ich mich psychologisch beschäftigen, sonst hätte ich ihn nie ausgehalten.

Christoph Schlingensief: Warum haben Sie bei der Entscheidung nicht an jene gedacht, die an Sie geglaubt haben, weil sie hofften, dann endlich auch neu starten zu können? Warum denkt Gysi im Moment nur an Gysi?

Christoph Schlingensief: Was meinen Sie denn damit?

Gregor Gysi: Zur letzten Frage: Ich habe sehr wohl an andere gedacht und deren Reaktionen gespürt und meinte, nicht nur mir, sondern auch Ihnen einerseits eine Konsequenz schuldig zu sein, andererseits aber auch politisch aktiv zu bleiben.

Moderator: Nun doch noch eine Nachfrage zur Glaubwürdigkeit, Herr Gysi. Man sagt Ihnen nach, dass Sie aus allem eine Personality-Show zu machen verstehen. Ihren Rücktritt vom Amt des Wirtschaftssenators haben viele auch als Show verstanden und nehmen Ihnen offensichtlich ihre moralischen Bedenken nicht ab. Ist das der Preis, den man zahlen muss, wenn man häufig Politik mit Show verquickt?

Gregor Gysi: Ich denke dass alles schon damit anfängt, das ein Moderator, der ein eigenes Vorurteil pflegt sich hinter einem "wir", d.h. hinter angeblich vielen Leuten mit seiner Frage versteckt.

Christoph Schlingensief: Genau!

Gregor Gysi: Wie immer gibt es Leute, die es glauben, und solche die es nicht tun. Wahrscheinlich hängt es davon ab, wie man sich selbst verhielte, oder ob man einem anderen glaubt oder nicht.

Moderator: Keine Verbrüderung bitte!

Christoph Schlingensief: Aber Gysi ist in meinen Augen schon jemand, der immer dann für diese Pressekultur steht – dem teilweise sehr überzeugend wirkenden Politiker die Zirkusnummer zu unterstellen. Ich streite nicht ab, dass ich Gysi mag, weil er mir in vielen Punkten direkter und in seinen Äußerungen und Handlungen engagierter vorkam.

Gregor Gysi: Noch eine Bemerkung: Ich hatte lediglich eine schriftliche Erklärung abgegeben und es an dem Abend und am folgenden Tag abgelehnt, mich in die Medien zu begeben. Daraufhin belagerten eine Vielzahl von Kamerateams und Journalisten einen ganzen Tag lang mein Grundstück, bis ich aufgab und eine Pressekonferenz für den nächsten Tag versprach. Kurzum: Die Medien erzwingen meinen öffentlichen Auftritt, um ihn mir anschließen vorzuwerfen.

Christoph Schlingensief: So eine angelernte "Ich bin ein Mensch"-Scheiße, wie von Herrn Stoiber, kann doch nicht Sinn und Inhalt politischer Auseinandersetzung sein. Wir können also festhalten: Egal, was wir tun, keiner wird es glauben. Was ist also zu tun?

Moderator: Ist das nicht das Problem, dass Medien von der Politik leben und vice versa?

Gregor Gysi: Zu Schlingensief: Keiner ist nicht richtig. Aber ausreichend viele nicht.

An den Moderator: Politik kommt in dem Maße, in dem sie sich nach den Spielregeln der Medien richtet, und diese wiederum kaum welche gelten lassen. Im Vergleich zur vierten Gewalt (Medien) hat die dritte (Justiz) wenigstens Spielregeln.

Christoph Schlingensief: Wir reden hier über das Wechselspiel von Politik und Medien. Interessant ist aber jene Gruppe, die durch diese beiden permanent beeinflusst wird. Ich sage auch hier: Politik ist nicht wirklich real an Lösungen interessiert. Genauso wenig wie die Medien. Politik ist eine Simulation, die Lösungen vorgaukelt, die Medien simulieren die Aufdeckung dieser Simulation und manipulieren dadurch auf ihre Art.

Moderator: Ein Paradebeispiel für die Frage: "Degeneriert die Politik nicht zur Inszenierung?" war das Theater im Bundesrat in der Zuwanderungsdebatte. Karl Hegemann hat in einem Schlingensief-Projekt gesagt "Kunst und Politik sind beides Produktionen von Illusionen, an die man glaubt". Herr Gysi, ist die Illusionen der Politiker nicht dadurch geplatzt, dass Sie den Menschen durch diese Inszenierung ihre Illusion von Demokratie ein Stück weit genommen haben?

Gregor Gysi: Natürlich ist Politik auch Simulation. Aber nicht nur. Es macht einen Unterschied, ob Du, wie vor dem Fernsehen, größere Öffentlichkeit nur schriftlich erreichst oder wie heute Bilder produzierst. Politik findet auch Lösungen, vorausgesetzt, sie wird dazu gezwungen. In dem Maße, wie Medien auf Unterhaltung setzten, setzen sie auch Politik unter Druck, nämlich dahingehend, sie ohne Unterhaltung nicht zu verbreiten.

Christoph Schlingensief: Wenn man aber wie Hegemann sagt, an Illusionen glaubt, dann aber doch nur, weil man damit eine Hoffnung verbindet. Hegemann scheut sich, diese Hoffnung zu formulieren. Was wäre diese Hoffnung? 600 Euro Mindestversorgung? Arbeit? Oder die Hoffnung, sich endlich wieder auf etwas verlassen zu können. Was denkst du, Gregor?

Gregor Gysi: Die Hoffnungen sind sicherlich je nach Lebenssituation sehr unterschiedlich. Also bleibe ich bei einer alten Regel, das man als Politiker wissen muss, welche Hoffnungen man erfüllen und welche man enttäuschen will. Mir gibt es zu viele in der Politik, die versprechen und sich vielleicht sogar wünschen, allen Hoffnungen entgegenzukommen, und dadurch letztlich nichts bewegen.

Christoph Schlingensief: Das ist mir zu schwammig! Meinst Du das PDS Wahlplakat, das vor dem Haus meiner Eltern in Oberhausen hängt? Darauf steht: Enteignung jetzt!

Gregor Gysi: Das finde ich blödsinnig!

Moderator: Es gibt offensichtlich das Dilemma, dass Politik auf der einen Seite die Wirklichkeit gestalten soll – für jeden Politiker nach bestem Wissen und Gewissen. Andererseits müssen Politiker ständig extrem damit beschäftigt sein, Mehrheiten für ihre Ideen aufzutreiben. Kann man dieses Spannungsverhältnis je in den Griff kriegen?

Christoph Schlingensief: Ich dachte, Ihr wolltet die Leute aus dem Osten vertreten?

Gregor Gysi: Zu Schlingensief: Ja, auch das. Das ist doch ziemlich konkret. Wer gegen die Rückübertragung und damit die Enteignung der Ostdeutschen war, musste sich mit den Alteigentümern anlegen.

Christoph Schlingensief: Die Politiker sollten zunächst einmal eingestehen, dass es dieses Spannungsverhältnis in ihren (politischen) Leben gibt.

Gregor Gysi: Deren Lobby war aber eindeutig stärker.

Christoph Schlingensief: Und die wohnen in Oberhausen? Meinst Du etwa meine Eltern?

Gregor Gysi: Zum Spannungsverhältnis: Die Frage ist, ob man Mehrheitsmeinungen vertreten oder versuchen will, Mehrheitsmeinungen zu überzeugen? Im ersten Fall bist Du passiv und fast meinungslos, im zweiten aktiv und zur Auseinandersetzung bereit.

Moderator: Herr Schlingensief, Sie haben vor zwei Tagen in der Friedman-Talkshow gesagt, die Arbeit in ihrer Partei "Chance 2000" vor vier Jahren als "Politiker" habe Sie gegen Ende auch nur noch funktionieren lassen, da war wenig von Idealismus übriggeblieben. Warum war das so? Was kann man dagegen tun?

Christoph Schlingensief: Da stimme ich Gregor Gysi völlig zu.

Gregor Gysi: Ich hatte schon gesagt, dass ich das Plakat unsinnig finde. Ich kenne es auch nicht. Es scheint die Idee einer kleinen westlichen PDS-Gruppe zu sein. Die meint wahrscheinlich, so auffallen zu können. Sie haben sicherlich zu wenig Gegner und versuchen, sich welche zu organisieren.

Christoph Schlingensief: Siehst Du, und das ist das Gute an Dir. Ein Laurenz Meyer oder Müntefering würden nun versuchen, das ganze unter Meinungsvielfalt und demokratischem Ausdruck zu verkaufen. Du sagst einfach, dass hier ein paar Westler Ostler spielen. Darum fordere ich Dich auf, morgen eine weitere Pressekonferenz einzuberufen, in der Du nur wenige Tage vor der Wahl – egal wie peinlich es wird – Deinen Rückzug als Fehler erklärst und deine Arbeit sofort an vorderster Front wieder aufnimmst.

Gregor Gysi: Dann müsstest Du mich erst davon überzeugen, dass es wirklich ein Fehler war! Außerdem hätten die Leute nichts davon, denn es gibt keinen Rücktritt vom Rücktritt. Und das ich als politischer Mensch öffentlichkeitswirksam bleibe, habe ich ja schon versprochen.

Christoph Schlingensief: Ich habe schon gesagt, dass Du aufgrund Deiner Fähigkeit, das Showgeschäft zu bedienen und gleichzeitig zu demaskieren, den Polit-Imitatoren ein Dorn im Auge bist. Da bin ich nicht der einzige, der das spürt. Schröder spielt Denkmal… Fischer ist Denkmal… Stoiber denkt mal.

Gregor Gysi: Nein, Stoiber versucht, Denkmal zu werden.

Christoph Schlingensief: Er könnt’s werden.

Moderator: Ein Kommentar aus unserem User-Chat: peymann: Sehr schön: Schlingensief inszeniert die Rückkehr des Gregor G.

Gregor Gysi: Aber es ginge nur in der DDR mit Staatsauftragskunst. Ich sage doch: Verrückte gibt es nicht nur in der Politik. Außerdem hoffe ich doch ein Dorn für viele zu bleiben, für andere vielleicht ein Stück Hoffnung. Über das "wie" können wir ja mal diskutieren.

Christoph Schlingensief: Das ist doch nicht verrückt, das ist eine konkrete Forderung! Ich meinte auch mehr peymann.

Moderator: Das "Wie" fänden viele sicherlich interessant.

Gregor Gysi: Schade, dass Schlingensief keine Frau ist, sonst könnten wir eine Doppelspitze machen.

Christoph Schlingensief: Vielleicht kann ich mal klarstellen, dass ich hier nicht an eine Inszenierung denke, sondern an einen ganz konkreten Schritt, Veränderungen, Zweifel, Transformationen, einfach praktisch umzusetzen. Ich spüre, dass ich keine Frau bin, könnte mir aber eine Doppelspitze mit Dir in einer neuen Partei vorstellen. Vielleicht würden auch andere, wie Andrea Fischer, Lafontaine, Cohn-Bendit auch mitmachen. Dann bist Du endlich die PDS los, und die anderen haben uns am Hals.

Gregor Gysi: Willst Du mich dem Herzinfarkt nahe bringen?

Christoph Schlingensief: Die Partei heißt PPP – Partei der Post-Politik.

Gregor Gysi: Aber dafür braucht man doch keine Partei. Die kann man auch machen, wenn man in der PDS ist.

Christoph Schlingensief: Das stimmt aber nicht. Du warst schon mal weiter. Ist auch ein Fehler, so weit in die Zukunft zu denken.

Moderator: Sie inszenieren sich gerade selber. Aus Mangel an Glaubwürdigkeit entsteht Politikverdrossenheit. Sie stehen beide in der Öffentlichkeit, machen Politik und tragen damit Verantwortung. Fördern Sie nicht gerade mit ihren Inszenierungen Politikverdrossenheit?

Christoph Schlingensief: Ich sag‘s noch Mal: Mach Deine Pressekonferenz und kehr jetzt zurück!

Gregor Gysi: Die Frage ist doch, wie man Politik anders, auch effektiver organisieren kann um Interesse an der Veränderung eigener Lebensbedingungen neu zu wecken.

Christoph Schlingensief: Auch der Moderator leidet an dem Problem, jeden anderen Gedankenansatz sofort als Selbstinszenierung zu werten und alles für lösbar zu halten.

Gregor Gysi: Die Trägheit in der Politik hat viel mit der Politik in der Gesellschaft zu tun, denn die Hektik verlangt zum Ausgleich diese Trägheit. Unklar sind doch nicht nur die Interessen der anderen, sondern verstärkt auch die eigenen. Ich bin doch gar nicht weg, also muss ich auch nicht zurück. Seit wann ist Dir ein Amt so wichtig? Du wirst mich noch oft genug erleben können, wenn Du es denn willst.

Christoph Schlingensief: Natürlich bist Du weg! Guckt doch eure Prozentzahlen an! In dem System bist Du weg.

Gregor Gysi: Nein.

Christoph Schlingensief: Meinst Du Deine neue Talkshow?

Gregor Gysi: Dieses System umfasst nicht nur Ämter.

Gregor Gysi: Und meinen Medienzugang habe ich mir so erarbeitet, dass ich nicht zwingend auf ein Amt angewiesen bin. Insoweit schadet es zwar auch nicht, aber es muss auch nicht sein.

Moderator: Leiden ist das falsche Wort. Dazu ein Kommentar aus unserem User-Chat: Stefanie Anna: Tatsache ist, dass beide Chatpartner die Politikverdrossenheit der Bevölkerung unterstützen.

Christoph Schlingensief: Wenn Stefanie Anna dieser Meinung ist, dann tut sie mir leid.

Gregor Gysi: An Stefanie Anna: Was heißt das eigentlich: "Politikverdrossenheit"? Es stehen gesellschaftlich zwar größere Veränderungen an, aber sie kommen schleichend, getarnt, nicht so offensichtlich wie 1989.

Moderator: An Gregor Gysi, z.B. dass die Gruppe der Nichtwähler immer größer wird. Ist doch schade drum, oder?

Gregor Gysi: Das politische Interesse für das schleichende Getarnte ist deutlich schwerer zu wecken als für das offensichtliche wie 1989.

Gregor Gysi: An Moderator:

1. Weiß ich gar nicht, ob Nichtwähler zwingend unpolitisch sind und
2. müsste man ergo versuchen Politik attraktiver zu machen, d.h. die Menschen an Sachentscheidungen bis hin zu Teilen des Bundeshaushalts zu beteiligen. Deshalb habe ich vorgeschlagen, jede Bundestagswahl mit einem Volksentscheid von drei bis fünf Fragen zu verbinden, deren mehrheitliche Verantwortung verbindlich für den nächsten Bundestag sein müsste, egal wie er sich zusammensetzte.

Moderator: Wir sprachen aber von Politikverdrossenheit. Das hat in der Tat nichts mit unpolitisch zu tun?

Gregor Gysi: Dann müsste im Wahlkampf weniger inszeniert und die nach der eigenen Meinung richtigen Antworten gerungen werden. Die Wahlbeteiligung würde steigen, weil die Leute nicht nur zwischen Parteien, sondern auch zwischen inhaltlichen Alternativen entscheiden könnten.

Christoph Schlingensief: Was wäre bei der Frage Ausländer rein oder raus? Möchtest Du das Risiko eingehen in Deutschland?

Gregor Gysi: 1. Kann man auch hierfür Mehrheiten gewinnen, allerdings nur bei einer sachlichen und intellektuellen Kraftanstrengung, und 2. sind Fragen, deren eine alternative Beantwortung verfassungswidrig wäre, unzulässig.

Christoph Schlingensief: Ich finde deinen Vorschlag nicht schlecht.

Gregor Gysi: Deshalb – so mein Vorschlag – müsste in einem kurzen Verfahren das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass sowohl die mehrheitliche Antwort "Ja" als auch "Nein" verfassungskonform wäre.

Christoph Schlingensief: Ich glaube aber, dass solange die Schärfung und intellektuelle Auseinandersetzung nicht im Bundestag praktiziert wird, die Sache keine Chance hat. Solange große Teile der Parlamentarier den Bundestag verlassen, wenn ein solcher Schwachkopf wie Schill seine Ausländerfeindlichkeit zur Schau stellt, solange werden wir Moral mit mangelnder Fähigkeit zur Auseinandersetzung verwechseln.

Gregor Gysi: Da stimme ich Dir ausdrücklich zu! Ich war immer für die Auseinandersetzung und gegen das Verlassen. Aber es ist leider eine linke Tradition, diese Auseinandersetzung nicht zu führen.

Christoph Schlingensief: Da wären wir doch an dem Punkt angekommen, dass Du genau das im Bundestag und nicht in einer Talkshow praktizieren müsstest.

Gregor Gysi: Ich habe mich des öfteren mit rechtsextremistischen Jugendlichen gefetzt, und glaube sogar, gewisse Überzeugungen geweckt zu haben, allerdings nur dann, wenn ihre Anführer nicht dabei waren. Aber im Bundestag war ich doch schon seit Übernahme des Senatsamtes nicht mehr! Weil Bundesratsmitglieder nicht zugleich im Bundestag sein dürfen. Auch ohne Rücktritt wäre ich also auch in den Bundestag nicht wieder eingekehrt.

Moderator: Wäre es dann nicht besser gewesen, wenn Sie beide zum Wohle einer fähigen Auseinandersetzung im Bundestag geblieben wären, bzw. noch mal kandidieren würden?

Christoph Schlingensief: Ich muss jetzt leider in die Stadthalle Erfurt.

Gregor Gysi: An Moderator: An mich hatten sie sich im Bundestag einigermaßen gewöhnt. Mit Schlingensief wären sie einfach überfordert. Aber zu gönnen wäre er ihnen.

Christoph Schlingensief: Weil ich dort für den Fortbestand der rot/grünen Regierung kämpfen will. Es ist immerhin Wahlkampf!

Moderator: Das finden wir schade, Herr Schlingensief. Viel Spaß dabei!

Christoph Schlingensief: Spaß stell ich mir anders vor.

Gregor Gysi: Ich muss nach Wismar. Um für den Wiedereinzug der PDS zu kämpfen, denn rot-grün ohne PDS wird furchtbar, weil nur noch zurückweichend dem rechten Druck ausgesetzt. Also überlege, was du den Leuten in Erfurt rätst!

Christoph Schlingensief: Tschüss Gregor! – Was gibt es denn da?

Gregor Gysi: Eine Wahlkundgebung. Ich bin doch – wie versprochen – aktiv.

Moderator: Und auch Ihnen vielen Dank, Herr Gysi. Und eine gute Fahrt nach Wismar.

Moderator: Liebe Podiumsgäste! Wir bedanken uns im Namen von tagesschau.de, WAHLTHEMEN.DE und politik-digital.de für Ihre Teilnahme sowie die vielen Fragen und Kommentare. Herzlichen Dank besonders an Christoph Schlingensief und Gregor Gysi für Ihre Bereitschaft, an diesem "virtuellen Podium" teilzunehmen. Wir hoffen, dass es auch für Sie interessant war! Wer Interesse hat, weiter zu diskutieren, ist herzlich eingeladen, am Debatten-Forum zum Thema: "Politik oder Show?" bei WAHLTEHMEN.DE teilzunehmen.

Sollten Sie vom Chatten noch nicht genug haben – es geht weiter: Am kommenden Sonntag können Sie sich ab 20:30 Uhr im Live-Chat-Duell mit zwei Medienprofis über das finale TV-Duell austauschen. Und am Montag ab 15:00 Uhr haben wir das Chat-Duell zweier Landesfürsten, Roland Koch aus Hessen und Kurt Beck aus Rheinland-Pfalz, im Programm.

tacheles.02-Spezial ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de und findet im Rahmen des Debattenforums "WAHLTHEMEN.DE" statt, einem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Zentrum für Medien und Interaktivität und politik-digital.de.