Am Dienstag, 18.3.08, war Eberhard Sandschneider, China-Experte und Direktor des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über die Aufstände in Tibet und die Rolle der chinesischen Regierung.

Moderatorin: Herzlich willkommen im tagesschau-Chat. Im ARD-Hauptstadtstudio ist heute Prof. Dr. Eberhard Sandschneider zu Gast. Er ist China-Experte und Direktor des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Liebe User, nutzen Sie die Gelegenheit, um ihre Fragen zu den massiven Aufständen in Tibet an unseren Experten zu richten. Herr Sandschneider, herzlich willkommen – können wir beginnen?

Eberhard Sandschneider: Selbstverständlich, ich freue mich auf die Fragen.

Eberhard Sandschneider 
Eberhard Sandschneider, Direktor der DGAP


Moderatorin: Gleich zu Beginn eine der beliebtesten Fragen aus der Vor-Chat-Phase:

salkw: Wie kommt China dazu, einen Anspruch auf Tibet zu erheben?

Eberhard Sandschneider: China hat unmittelbar nach der Errichtung der Volksrepublik im Jahr 1949 und in den beiden anschließenden Jahren Tibet militärisch erobert und erhebt seither einen Souveränitätsanspruch, der von der internationalen Staatengemeinschaft auch nicht in Frage gestellt wird. Erst vor wenigen Wochen hat der deutsche Außenminister die Zugehörigkeit Tibets zum chinesischen Staatsgebiet ausdrücklich bestätigt. Die Kritik des Westens richtet sich eher gegen Menschenrechtsverletzungen und gegen den Umgang Chinas mit der tibetischen Kultur.

dedda: Was ist an Tibet so bedrohlich für China?

Eberhard Sandschneider: Tibet selbst ist gar nicht bedrohlich für China, aber die Unabhängigkeitsbestrebungen sind eine große Herausforderung für Chinas Interesse, seine nationale Souveränität und seine interne Stabilität zu wahren.

F_Wüchner: Der Zeitpunkt für den Aufstand ist geschickt gewählt. China steht wegen der Olympischen Spiele unter den Augen der Weltöffentlichkeit und kann nicht zu hart auf die Proteste reagieren. Denken Sie, dass auch andere "Separatisten" wie die Uighuren oder die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung, die Gunst der Stunde nutzen und die chinesische Regierung unter Druck setzen werden?

Eberhard Sandschneider: Das ist zumindest die Befürchtung der Regierung in Peking. Wir sollten nicht vergessen, dass am kommenden Samstag in Taiwan Präsidentschaftswahlen stattfinden, die aus Pekinger Sicht ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit und zum Teil auch mit Sorge betrachtet werden. Die chinesische Regierung hat mittlerweile begriffen, dass die Olympiade nicht nur ein großes sportliches Ereignis – mit dessen Hilfe man das Image des Landes international aufpolieren kann – sein wird, sondern dass es auch vielfältige Versuche gibt, Kritikpunkte des Westens bei dieser Gelegenheit in besonderer Weise insbesondere in unseren Medien in den Mittelpunkt zu stellen. Selbstverständlich wissen die Vertreter tibetischer Exilorganisationen, dass die hohe internationale Aufmerksamkeit auf der Olympiade für sie ein idealer zeitlicher und sachlicher Zusammenhang ist, um ihre eigenen Forderungen in die internationale Aufmerksamkeit zu bringen.

Lukas Uhde: Halten Sie einen Boykott der Spiele für angemessen? Und würde er in China überhaupt etwas bewirken?

Eberhard Sandschneider: Erstens würde ein solcher Boykott nichts für die Menschen in Tibet bewirken. Er würde auch die chinesische Regierung nicht zu einer Änderung ihrer Haltung bringen. Bestenfalls könnten diejenigen, die das Bedürfnis empfinden, "etwas zu tun", sich damit trösten, es den Chinesen wieder einmal gezeigt zu haben. Diese Form von Gutmenschentum hilft uns in keiner Weise weiter. Ich halte es für problematisch, wenn wir bei jeder Frage in der wir mit China kritisch diskutieren müssen, gleich zu maximalen Drohgebärden greifen und die Drohung mit einem Olympiaboykott wäre eine solche Gebärde.

kgohde: Hätte man die Olympischen Spiele überhaupt an China vergeben dürfen? Nach dem Massaker am Platz des himmlischen Friedens 1989 wurde sich doch auch ungeheuer empört. Aber die schnelllebige Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden.

Eberhard Sandschneider: Ihr Eindruck ist richtig. Die internationale Öffentlichkeit hat spätestens nach 1992 zu Business-as-usual im Umgang mit China zurückgefunden. Verlockende wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben sehr schnell vergessen lassen, wie entsetzt wir über die Ereignisse des 4. Juni 1989 waren. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass auch das ein sehr medial gesteuertes Ereignis war, das vor laufenden Fernsehkameras abgelaufen ist. In vielen anderen Fällen, wo es keine Präsenz westlicher Kameras gab, haben wir zum Teil gar nicht wahrgenommen, dass durchaus vergleichbare Polizei- und Militäreinsätze in China stattgefunden haben. Dass China die olympischen Spiele erhalten hat, ist aus meiner Sicht völlig in Ordnung. Es ist bei uns eine weit verbreitete Fehlannahme, durch Druck, Kritik oder Drohen mit Sanktionen in China selbst politische Veränderungen herbeiführen zu können. Die Erfahrung zeigt, dass ein schwieriger und langwieriger aber im Grundsatz konstruktiver Dialog am Ende eher zum Erfolg führt, als wenn man China ausgrenzt. Und wir dürfen nicht vergessen, dass der wirtschaftliche Erfolg des Landes auch dazu geführt hat, dass das Selbstbewusstsein, mit dem China international auftritt, mindestens genauso schnell gewachsen ist wie das Bruttosozialprodukt des Landes.

StudentsForAFreeTibet: Warum ist die Deutsche Regierung so zurückhaltend, was Verurteilungen der chinesischen Innenpolitik betrifft?

Eberhard Sandschneider: Weil solche Verurteilungen nichts verändern in China. Es ist relativ einfach mit wohlklingenden Reden Fehlentwicklungen in China an den Pranger zu stellen. Das heißt aber nicht, dass sich deshalb in China und für die Menschen in China etwas verändert. Noch einmal: Wem daran gelegen ist, der ist gut beraten, einen schwierigen aber konstruktiven Dialog mit China zu pflegen.

Lichtwolf: Was kann ich als Einzelperson tun, was kann Deutschland als Nation tun, um Druck auf China auszuüben bzw. irgendetwas gegen die Menschenrechtsverletzungen zu tun?

Eberhard Sandschneider: Als Einzelperson können Sie wenig tun, um nicht zu sagen gar nichts. Selbst Deutschland als Nation hat nur begrenzte Möglichkeiten, unmittelbar Druck auf China auszuüben. Nach aller Erfahrung ist es am Ende auch erfolgversprechender, nicht den Versuch zu machen, mit Druck zu arbeiten, sondern China selbst an seinen eigenen Interessen zu packen und auf der Ebene an einer Verbesserung der Situation zu arbeiten.

Moderatorin: Noch eine Frage aus der Vor-Chat-Phase:

Lotta: Die chinesische Regierung geht mit aller Härte gegen tibetische Demonstranten vor. Trotz einseitiger Berichterstattung seitens der Regierung: Wie schätzen Sie die Haltung bzw. die Stimmung in der chinesischen Bevölkerung diesbezüglich ein?

Eberhard Sandschneider: Wir wissen wenig über das, was die allgemeine Bevölkerung in China über große politische Zusammenhänge denkt. Die Größe des Landes macht es auch unwahrscheinlich, dass insbesondere die vielen Millionen Menschen, die auf dem Lande leben, über größere politische Zusammenhänge genauer informiert sind. Gerade in Fragen Tibets ist die offizielle Informationspolitik nach wie vor entweder zurückhaltend oder sehr propagandistisch. Das wenige, was wir an Reaktionen haben, deutet darauf hin, dass die chinesische Regierung sich auf die Unterstützung der Bevölkerung verlassen kann, wenn es um die Aufrechterhaltung der nationalen Einheit aber auch um das Anwachsen des internationalen Gewichtes Chinas geht. Nach allem was wir wissen, wird die überwiegende Mehrheit der hanchinesischen Bevölkerung sich uneingeschränkt für einen Verbleib Tibets im chinesischen Staatsgebiet aussprechen.

Horst: Welche Reaktion würden Sie der deutschen Bundesregierung empfehlen, wenn die VR China gewalttätige Demonstrationen in Deutschland für eine Unabhängigkeit – sagen wir: Bayerns – unterstützen würde?

Eberhard Sandschneider: Im Zweifelsfall dieselbe Reaktion, die auch China zeigt: Die deutsche Bundesregierung müsste sich mit allem Nachdruck eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands verbieten. Im Übrigen ist Ihr Hinweis durchaus berechtigt: Wenn es am 1. Mai in Kreuzberg randalierende Demonstranten gibt, die Schaufenster einschlagen und Fahrzeuge anzünden, greift auch in Deutschland die Staatsgewalt mit aller Konsequenz durch. Ihre Frage ist insofern hilfreich, als dass sie zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur besserwisserisch nach China zu schauen sondern gelegentlich mal auch in den eigenen Spiegel.

Lichtwolf: Ich weiß von in Deutschland lebenden Chinesen, dass sie die Gewaltanwendung gegenüber den Tibetern keinesfalls befürworten. Doch es scheint extrem starke Desinformation oder zumindest zu wenig Information in China selbst zu bestehen, so dass die meisten chinesischen Bürger nicht viel von der wirklichen Situation wissen. Wie wäre es möglich, in China selbst einen Austausch über die "Tibetfrage" zu erwirken, vor allem, da es Ausländern nicht möglich scheint, dort zu wirken, und im Land selbst alle solchen Bemühungen zensiert werden?

Eberhard Sandschneider: Dafür bleiben die Möglichkeiten bedauerlicherweise mit Sicherheit sehr begrenzt. Ihre Vermutung ist zunächst richtig, dass es nur sehr wenig verlässliche Informationen gerade über Tibet in der chinesischen Presse gibt. Jeder chinesische Bürger aber der es wagt, sich an dieser Stelle zu engagieren, muss damit rechnen, dass er seinerseits in Konflikt mit der chinesischen Polizei gerät. Insofern sind die Hürden für zivilgesellschaftliches Engagement dieser Art in China sehr hoch. Das ist bedauerlich für ein besseres Verständnis für Tibet aber umgekehrt genau im Interesse der Regierung, der es um die Aufrechterhaltung von Stabilität und Ordnung als oberstes Ziel geht.

maximax: Welchen Rang haben militärische / strategische Überlegungen innerhalb von Chinas Beweggründen, Tibet für sich zu beanspruchen? Dabei wäre auch ein kurzer Anriss der aktuellen Sichtweise der chinesischen Führung vom Verhältnis zu Indien interessant.

Eberhard Sandschneider: Selbstverständlich sind militärstrategische Überlegungen Teil von Chinas Anspruch auf Tibet, aber eben nur ein Teil. Bezeichnenderweise sind sich die politischen Eliten in China und Taiwan, bei allem was sie ansonsten trennt, durchaus einig in der Frage, ob Tibet Teil des chinesischen Staatsgebietes ist. Das Verhältnis zu Indien ist für China ein besonders wichtiges, weil es in der Vergangenheit von hohen Spannungen gekennzeichnet war und in den letzten Jahren gerade auch in Anbetracht der wirtschaftlichen Entwicklung in beiden Ländern enorm an Bedeutung gewonnen hat. Zwar toleriert die indische Regierung den Sitz der exiltibetischen Regierung in Daramsalah, aber in der vergangenen Woche wurde ein Protestmarsch, der von dort bis zur Olympiade nach Lhasa führen sollte, nach 56 Kilometern von indischen Polizeikräften gestoppt. Es ist nicht im Interesse Indiens, China an dieser sehr sensitiven Stelle mehr als nötig zu irritieren. Umgekehrt respektiert die chinesische Regierung, wenn auch mit Zähneknirschen, die Tatsache, dass der Dalai Lama in Nordindien eine Zufluchtsstätte gefunden hat.

Moderatorin: Bevor wir zum Dalai-Lama kommen. Hier ein Einwurf zu Ihrem Kreuzberg-Tibet-Vergeich:

zuschauer11: Anmerkung: Bei den Randalen am 1. Mai in Kreuzberg gibt es aber keine Presse-Zensur!

Eberhard Sandschneider: Ich habe Kollegen an der Freien Universität, die das entschieden anders sehen.

peter_kraus: Welche Folgen wird ein möglicher Rücktritt des Dalai Lama haben?

Eberhard Sandschneider: Ein möglicher Rücktritt des Dalai Lama könnte sich nur auf seine weltlichen Funktionen beziehen. Er ist und bleibt Zeit seines Lebens der geistliche Führer des tibetischen Buddhismus. Ein Nachfolger kann nur auf dem Wege der Suche nach einer Reinkarnation nach seinem Tode gefunden werden. Da er selbst in den letzten Jahren zwar als Repräsentant Tibets aber nicht als Politiker im eigentlichen Sinne aufgetreten ist, muss man seinen Hinweis auf einen möglichen Rücktritt eher als ein Signal an die gewaltbereiten Gruppen in der tibetischen Bevölkerung werten, seinem Aufruf zur Gewaltlosigkeit zu folgen. Das zeigt auch ein wenig die Schwierigkeit, in der er sich befindet, da seine Politik der Gewaltlosigkeit offensichtlich gerade unter der jüngeren tibetischen Bevölkerung nicht mehr zwangsläufig geteilt wird.

frokli: Gibt es Tibeter die die Invasion der Chinesen gut fanden?

Eberhard Sandschneider: Es gibt auch in Tibet Menschen, die mit den chinesischen Behörden zusammenarbeiten, insofern ihren Frieden mit Peking gemacht haben und daraus auch wirtschaftliche und sonstige Vorteile ziehen. Ein Abzug Chinas wäre für diese Bevölkerungsgruppe ein gewaltiger Positionsverlust. Insofern darf man nicht davon ausgehen, dass es eine klare Zweiteilung gibt: Auf der einen Seite die Bevölkerung Tibets und auf der anderen Seite Hanchinesen, bzw. die Regierung Chinas in Peking. Die unterschiedlichen Interessen und Gruppierungen in Tibet sind sehr viel differenzierter, als es uns auf den ersten Blick erscheint.

Moderatorin: Zweimal eine ähnliche Frage:

chrisitan m: China verweist immer mit ganz alten Landkarten darauf, dass Tibet schon vor langer Zeit Teil des alten chinesischen Reiches war. Ist dies korrekt oder Propaganda?

dingo: Gehörte Tibet nicht bis Ende des 19.Jahrhunderts zu China?

Eberhard Sandschneider: Das ist immer eine Frage der Sichtweise. Das chinesische Reich in seinen gewaltigen Ausmaßen hat sich tatsächlich zu Zeiten bis an die Grenzen des heutigen Tibet erstreckt. Aber nicht immer war der Durchgriff der chinesischen Staatsgewalt letztendlich gesichert. Die Tibetfrage unterscheidet sich an dieser Stelle kaum von anderen Souveränitätsproblemen, wie wir sie in vielen Teilen der Welt sehen. Taiwan beispielsweise behauptet bis heute, nur sieben Jahre offiziell zu China gehört zu haben – in all den anderen Jahren war es entweder japanische Kolonie oder de facto eigenständig und verweigert deshalb die Anerkennung der Zugehörigkeit zu China. Aus chinesischer Sicht sieht das genau umgekehrt aus. Am Ende geht es um harte machtpolitische Fragen. Seit der Eroberung Tibets Anfang der 50er Jahre durch die Volksbefreiungsarmee hat niemand im Westen oder generell in der internationalen Staatengemeinschaft den Anspruch Chinas auf Tibet in Frage gestellt. Die Kritik bezieht sich immer nur auf kulturelle und menschenrechtliche Aspekte.

logienchen: Wie stark sind denn andere "separatistische" Bewegungen in China. Sind die ernsthaft eine Bedrohung für die Stabilität des Landes?

Eberhard Sandschneider: Neben den Problemfällen Tibet und Taiwan muss man an dieser Stelle insbesondere die nördlich von Tibet gelegene Provinz Xin-Jiang nennen, die mehrheitlich von Uighuren bewohnt wird, die in Anbetracht der Entwicklungen in Zentralasien nach dem Zusammenbruch der UdSSR ebenfalls immer wieder Sezessionsbestrebungen zeigen. Für die chinesische Regierung sind dies durchaus ernst zu nehmende Problemfälle, die aus vielerlei Gründen die innere und äußere Stabilität des Landes bedrohen können. Deshalb versucht Peking, eine Politik zu betreiben, die entsprechende Tendenzen schon im Keime erstickt. Indem man einerseits versucht, diese Regionen am Wirtschaftswachstum möglichst teilhaben zu lassen. Andererseits mit härtesten Kontrollschritten reagiert, wenn es zu Unruhen und Aufständen kommt.

gornach: In den letzten Tagen konnte man des Öfteren chinesische Offizielle im Fernsehen sehen, die sich zu den Vorfällen in China geäußert haben. Warum war darunter auch häufiger der chinesische Außenminister, es handelt sich doch um eine innerchinesische Angelegenheit?

Eberhard Sandschneider: Eine bemerkenswert gelungene Frage, die der chinesischen Regierung ein klein wenig auf die Finger schlägt. Eigentlich dürfte sich in dieser Frage der chinesische Außenminister nicht zu Wort melden. Da sich seine Stellungnahmen im Kontext der Sitzungen des nationalen Volkskongresses bewegt haben, an dem die gesamte chinesische Regierung teilnimmt, müsste man aus chinesischer Sicht offensichtlich darauf verweisen, dass die internationale Kritik an den Vorgängen in Tibet eine Frage der außenpolitischen Imagepflege ist. Insofern darf sich dann auch der Außenminister zu Wort melden.

Xuesheng: Inwiefern verzerrt der Dalai Lama Ihrer Meinung nach die Darstellung der tibetischen Meinung in der westlichen Presse? Seine gemäßigte Position widerspricht den Ansichten radikaler "Free Tibet"-Aktivisten. Gewalttätige Ausschreitungen auf Seiten der Tibeter erscheinen uns Westlern dadurch unrealistisch.

Eberhard Sandschneider: Der Dalai Lama ist dieser Tage in einem deutschen Presseorgan als "Popstar der Besinnlichkeit" bezeichnet worden. Wie immer Sie zu dieser Charakterisierung stehen, man muss ihm zugestehen, dass er bei aller Anerkennung der unbestritten Integrität seiner Persönlichkeit über ein perfektes Marketing verfügt. Er hat es geschafft, im Westen als "der" Repräsentant Tibets und der tibetischen Sache wahrgenommen zu werden. Selbst dort, wo es in der tibetischen Exilgemeinde andere Auffassungen gibt, ist sein persönliches Renommee sehr hoch. Aber trotzdem ist es eine zu einfache Perspektive, alle Fragen zur Entwicklung in Tibet ausschließlich auf den Dalai Lama zu konzentrieren. Wir haben gelegentlich im Westen die Neigung hochkomplexe schwierige Zusammenhänge in China auf einfache Perspektiven zu reduzieren. Der freundlich lächelnde Dalai Lama ist dafür ein ausgesprochen geeigneter Sympathieträger.

chrisitan m: Wird China in Zukunft die Ansiedlung von Han-Chinesen in Tibet forcieren, um die eigentlichen Tibeter noch mehr zur "Minderheit im eigenen Land" zu machen? Wie sind generell die Zukunftsaussichten von Tibet, das ja genau zwischen China und Indien liegt?

Eberhard Sandschneider: Zur ersten Frage heißt die Antwort: Ja. Verstärkte Ansiedlungen ethnischer Chinesen in Tibet war immer ein Bestandteil der Stabilisierungspolitik Pekings bis zu dem Punkt, dass die Sorgen der Exiltibeter, dass sie allmählich zu einer Minderheit werden, sicherlich berechtigt sind. Das gilt auch für Fragen der Wahrung kultureller Integrität bis hin zur Praktizierung der tibetischen Sprache. Insofern sind die Befürchtungen um den Bestand der tibetischen Kultur – auch wenn man nicht von einem kulturellen Genozid sprechen möchte, wie es der Dalai Lama jetzt tut – mehr als berechtigt. Zu den Zukunftaussichten von Tibet: Trotz seiner strategischen Lage zwischen zwei schnell wachsenden Schwellenländern wird dies voraussichtlich kaum zu einer Verbesserung der Situation Tibets beitragen. Die politische aber auch geografische Situation macht es sehr schwierig, vom Transit beider Länder zu profitieren. Innerhalb Chinas hat sich die ökonomische Situation Tibets zwar verbessert, aber das Land gehört immer noch zu den mit Abstand ärmsten Regionen in China. Die strategische Mittellage zwischen China und Indien wird daran vermutlich nichts ändern.

PhilippD: Ich habe in der ostchinesischen Provinz Zhejiang studiert, wobei ich oft von chinesischen Studenten die Meinung hörte, Tibet sei durch die Armee "befreit" worden. Wovon Sie befreit wurde, konnte jedoch niemand sagen. Denken Sie dies ist ein Lippenbekenntnis gegenüber der offiziellen Meinung, oder tatsächlich die eigene Überzeugung vieler, auch gebildeter Chinesen?

Eberhard Sandschneider: Selbst gebildete Chinesen – wenn sie mit Ausländern sprechen – müssen auf die Sprachwahl achten. Der Begriff "Jiefang" den sie gehört haben, kennen sie wahrscheinlich aus der offiziellen chinesischen Sprache als den Kernbegriff für das Jahr 1949 und die Befreiung Chinas von der Herrschaft von der Kuomintang. Seither wird der in allen offiziellen Reden verwendet, wenn es um Machtergreifung der kommunistischen Partei in China geht. Insofern ist der Teil der offiziellen Politiksprache und diesen Ausdruck haben ihre chinesischen Gesprächspartner ihnen gegenüber verwendet.

duranyr: Wie sieht es denn in der Zeit nach dem jetzigen Dalai Lama aus? China versucht ja schon seit einiger Zeit auf die Personen, die die Neu-Inkarnation bestimmen, Einfluss auszuüben.

Eberhard Sandschneider: Das ist Kern der chinesischen Strategie im Umgang mit diesem Problem. Der jetzige Dalai Lama ist 72 Jahre alt. China wartet auf seinen Tod, um danach die Suche nach seiner Reinkarnation bestimmen zu können. Ein Vorbild ließ sich schon vor einigen Jahren bei der Suche nach dem zweithöchsten Religionsführer – dem Panchen-Lama – beobachten. Der von den tibetischen Würdenträgern ausgesuchte Kandidat ist seit Jahren verschwunden, ohne dass man weiß, wo sich sein genauer Aufenthaltsort befindet. Die Spekulation die nächste Reinkarnation zu kontrollieren, gehört mittlerweile offen ausgesprochen zu den klaren strategischen Zielen der chinesischen Regierung.

Moderatorin: Ihr Vergleich lässt die User nicht los:

zuschauer11: Zum Thema Pressefreiheit bei den Krawallen in Kreuzberg wüsste ich schon gern, was mit Herrn Sandschneiders Anmerkung gemeint ist? Aber das gehört vermutlich nicht in diesen Chat…

howie: Sie vergleichen das Vorgehen der chinesischen Sicherheitskräfte mit einem Polizeieinsatz am 1.Mai in Berlin. Verharmlosen sie da nicht? Schließlich wird in demokratischen Staaten eben nicht scharf geschossen.

Eberhard Sandschneider: Wie das so ist mit Vergleichen: Man kann Dinge hineinlesen, die dann dafür sorgen, dass diese Vergleiche auch hinken. Bemerkenswerterweise reagieren Sie offensichtlich auf Sachverhalte, die ihnen näher liegen, als China in besonderer Weise, was nur verständlich ist. Mein Vergleich war ganz einfach: Man kann China selbstverständlich für harte Polizeieinsätze kritisieren. Aber die wenigen Bilder, die wir aus Tibet gesehen haben, zeigen nicht nur prügelnde und schießende Soldaten, sondern auch randalierende und brandschatzende Demonstranten. Kein Staat der Welt kann es sich leisten, in seinen Großstädten Demonstrationen mit einem so hohen Gewaltpotenzial ablaufen zu lassen, ohne polizeilich oder entsprechend militärisch einzugreifen. Ich versuche also eigentlich nur, Sie einzuladen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, um hoffentlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass einseitige Sichtweisen nicht weiterhelfen und eine ausschließlich kritische Sicht auf das Vorgehen der chinesischen Kräfte durchaus auch an der Sache vorbeigehen kann. Dabei weiß ich sehr wohl um das Risiko, dass Sie mir jetzt unterstellen können, mich als Sachwalter chinesischer Interessen zu präsentieren. Das tue ich mit Sicherheit nicht. Aber ich habe in meiner Arbeit mit China immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es manchmal sehr hilfreich ist, bestimmte Positionen, die man selbstverständlich zu China einnimmt, einen Augenblick "zurückzuübersetzen" auf vergleichbare Situationen in Deutschland, um begreifen zu können, wie unterschiedliche Perspektiven auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Insofern hat mir vorhin der Bezug zu Bayern gut gefallen.

harrystuttgart: China wird als zukünftige Weltmacht betrachtet. Vielleicht sogar als die weltweite Nummer 1. Wie wird sich die Weltgemeinschaft in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht mit einer kommunistischen Weltmacht (auch als weltweite Nr. 1) entwickeln? Erleben wir einen neuen "kalten Krieg" im Bereich der Wirtschaft und der Militarisierung?

Eberhard Sandschneider: Das ist eine der spannendsten und am heftigsten diskutierten Fragen in den gegenwärtigen Strategiedebatten. Aus westlicher Sicht sind wir im Augenblick eindeutig überfordert mit der Frage, wie wir künftig mit einem Land umgehen, das wirtschaftlich erfolgreich ist, immer mehr zu einem Wettbewerber und Rivalen von uns wird, aber gleichzeitig keine demokratischen Strukturen aufweist. Vor dem Aufstieg Chinas waren wir mit einer solchen Herausforderung nicht konfrontiert und jetzt tun wir uns sehr schwer, plausible Antworten zu finden. Eines haben die letzten Monate aber in verstärkter Weise gezeigt: Die Zeiten sind vorbei, in denen sich China vom Westen schulmeistern lässt. Das Land ist dank seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit politisch stark genug, etwa in Afrika enormen Zuspruch für eine Entwicklungspolitik zu finden, die mit unseren Vorstellungen wenig zu tun hat und tut gleichzeitig im technologischen – auch im militärischen – Bereich alles, um besser in der Lage zu sein, auch seine eigenen Interessen aktiv zu vertreten. Ein neuer kalter Krieg mit China kann unmöglich in unserem Interesse sein. Insofern wird kein Weg daran vorbeiführen, Wege des konstruktiven Dialoges mit China zu finden, die es erlauben – bei allen Interessenunterschieden – trotzdem gemeinsame Lösungswege zu entwickeln. Keines der drängenden globalen Probleme lässt sich ohne China lösen. Im Gegenteil: In der Regel ist China sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung. Das muss Grundlage für unsere Chinapolitik sein.

Moderatorin: Noch einmal zu den Olympischen Spielen:

Lennart: Gestern Abend gab es einen, wie ich finde, ziemlich guten Kommentar in der Tagesthemen. Dort wurde dazu aufgerufen, von einem Olympia-Boykott abzusehen (wenn auch die Aussagen des IOCs und der Sportler zu dürftig sind) und aus den Olympischen Spielen politische Spiele zu machen. Dies soll geschehen, indem unangenehme Fragen gestellt werden von Journalisten, Fans und der Politprominenz. Meinen Sie, dass das realistisch ist? Wird man tatsächlich die Olympischen Spiele politisieren können (klar, alles ist politisch, gehen wir davon aus, dass es unterschiedliche Stufen von Politisierung gibt) oder sind die Organisatoren so geschickt und können unangenehme Fragen verhindern?

Eberhard Sandschneider: Wenn Sie jemals versucht haben, einem offiziellen chinesischen Vertreter eine unangenehme Frage zu stellen, werden Sie vermutlich erfahren haben, wie geschickt die Flucht in leere Worthülsen mittlerweile in China praktiziert wird. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ihre Vermutung, dass die Olympiade nicht nur zu Jubelspielen genutzt wird, sondern gerade auch von westlichen Journalisten das Ausleuchten kritischer Aspekte in der Entwicklung Chinas sehr wahrscheinlich ist. Schon jetzt hat man den Eindruck, dass fast jeder westliche Journalist, der etwas von sich hält, im Vorfeld der Olympiade nach China reist, um mit kritischen Berichterstattungen zurückzukommen. Auch die chinesische Regierung hat längst begriffen, dass ihr Ziel, die Olympiade für einen gewaltigen Imagegewinn des Landes zu nutzen, alles andere als einfach zu erreichen ist. Im Augenblick dominieren eher die Risiken für den Imageverlust als die Chancen für den Imagegewinn. Das weiß man in Peking und für alle sensitiven Fragen werden für offizielle Sprecher der Verantwortlichen längst die Worthülsen festgelegt und produziert, mit denen sie sich dann auseinandersetzen müssen.

Moderatorin: Wir haben während des Chats eine Umfrage bei den Usern angestellt: War die Vergabe der Olympischen Spiele an China ein Fehler?- 71 Prozent haben "ja" gesagt, 29 Prozent "nein". Ist dieses Ergebnis eine Mode-Erscheinung? War die Meinung der Deutschen aus Ihrer Sicht vor einigen Jahren noch anders?

Eberhard Sandschneider: Wir beobachten im Augenblick in Deutschland eine bemerkenswerte Trendwende. Aus dem China-Hype den wir noch vor einigen Jahren hatten, ist längst China-Angst geworden. Das Land ist uns insgesamt unheimlich, weil es sich schnell entwickelt, weil wir nicht wissen, was das letztendlich an unmittelbaren Konsequenzen für uns hat. Obwohl wir ahnen und zum Teil auch schon erleben, dass Dinge, die in China passieren, auf unser tagtägliches Leben unmittelbar Einfluss haben. Das gilt für den Erhalt von Arbeitsplätzen genauso wie für das berühmte "Made in China", das man auf Kleidungsstücken in unseren Kaufhäusern findet. Ich bin fest davon überzeugt, dass es keinen Sinn macht, vor China Angst zu haben. Auch in China werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das Land hat zwar einen beeindruckenden Entwicklungsweg hinter sich aber auch Probleme angehäuft im sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereich, die gewaltig sind und zumindest ähnlich tief greifenden Herausforderungen führen, wie die Situation derzeit in Tibet. Letztendlich ist das, was China tut, aus der Sicht der chinesischen Regierung legitim. Das Land entwickelt sich in Konkurrenz und zum Teil auch in Rivalität zum Westen. Wir würden das genauso tun, wenn wir es nur könnten. Es ist zu billig, an dieser Stelle nur China zu kritisieren anstatt uns die Frage zu stellen, was wir tun müssen, um den globalen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, begegnen zu können. Ich verstehe das Bauchgefühl, die Olympiade besser nicht an China zu geben. Aber noch einmal: Dieses Land einzubinden – auch indem man es zum Teil eines solchen sportlichen Großereignisses macht – ist langfristig sinnvoller als jetzt kurzfristig darüber nachzudenken, wie man mit emotionaler Betroffenheit auf die Ereignisse in Tibet reagieren kann.

Moderatorin: Das war eine Stunde tagesschau-Chat. Herzlichen Dank, Herr Prof. Sandschneider, dass Sie sich Zeit für die Diskussion mit den Usern von tagesschau.de und politik-digital.de genommen haben. Dankeschön auch an unsere User für die vielen Fragen, die wir leider nicht alle stellen konnten. Das tagesschau.de-Team wünscht allen noch einen schönen Tag.

Eberhard Sandschneider: Ganz herzlichen Dank für die vielen spannenden Fragen und viel Spaß beim Nachdenken über Kreuzberg!

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