Dagmar Schipanski ist Professorin für Physik, war Landtagspräsidentin
und Ministerin in Thüringen und zuvor Kandidatin von CDU/CSU für das Amt
des Bundespräsidenten (1999). Seit 2007 ist sie Mitglied des Kuratoriums Jugend debattiert. Im Chat auf debatte-digital in Zusammenarbeit mit politik-digital.de beantwortete sie am 06. Juli 2010 live Fragen zur Bundespräsidentenwahl, zu Frauen und Quereinsteigern in der Politik und zu Jugend debattiert.

Moderator: Hier ist es jetzt 17.30 Uhr. Frau Schipanski chattet
heute mit uns aus Ilmenau in Thüringen. Meine Frage dorthin: Können wir
beginnen?

Dagmar Schipanski: Ja, wir können beginnen.

Moderator: Im Vorfeld des Chats hatten die Nutzerinnen und Nutzer
die Möglichkeit, schon vorab Fragen zu stellen und diese auch zu
bewerten. Hier kommt die TOP 1 der beliebtesten Fragen:

Hansi90: Hallo Frau Schipanski, ist Herr Köhler als Bundespräsident gescheitert, weil er keine Erfahrung mit der Tagespolitik hatte?

Dagmar Schipanski: Bundespräsident Köhler ist nach meiner
Auffassung nicht gescheitert, sondern er hat aus sehr nachvollziehbaren
Gründen das Amt zur Verfügung gestellt. Er hat eine Aussage getroffen in
Afghanistan, die dann aus dem Zusammenhang herausgerissen in den Medien
diskutiert worden ist. Er hatte keine Chance, dieses wieder in Ordnung
zu bringen. Ich finde, der Umgang zwischen Politik und Medien sollte
verändert werden. Darauf wollte Bundespräsident Köhler auch mit seinem
Rücktritt hinweisen. Deshalb achte ich seinen Schritt als
außerordentlich bedeutungsvoll für die deutsche Politik und bedaure,
dass dieser Schritt eigentlich nur negativ kommentiert worden ist. Ich
kenne Bundespräsident Köhler als einen sehr verantwortungsvollen
Menschen auch persönlich recht gut und achte ihn in allen seinen
Auffassungen und seinem Politikverständnis außerordentlich.

Ullamarie: Sollte der Präsident vom Volk direkt gewählt werden?

Dagmar Schipanski: Der Präsident könnte direkt vom Volk gewählt
werden, wenn ihm zusätzliche Kompetenzen zugeschrieben werden. Denken
sie an das Beispiel von Polen, das wir ja gerade im Moment erlebt haben.
Ich denke, dass nur eine moralische Instanz – so wie unser
Bundespräsident angelegt ist – eine Wahl direkt vom Volk nicht
rechtfertigt. Zusätzliche Kompetenzen: Ein Vetorecht bei wichtigen
Entscheidungen der Regierung, Weisungsrecht gegenüber der Regierung, bei
entscheidenden Grundsatzfragen beispielsweise im Moment bei der
Gesundheitsreform oder bei der Gestaltung von Hartz IV.

Berg.munix: Wie unabhängig sind Wahlmänner der Bundesversammlung?

Dagmar Schipanski: Nach der Verfassung unseres Landes sind sie
nur ihrem Gewissen verpflichtet. Diese Meinung vertrete ich. In der
politischen Praxis zeigt sich, dass dieses Verfassungsgebot nicht
grundsätzlich eingehalten wird. Dadurch ist die Wahl des
Bundespräsidenten beeinträchtigt. Ich wünsche mir eine strikte
Einhaltung des Verfassungsgebotes.

Lucie: Christian Wulff will Integration stärken. Was wäre Ihr großes Thema als Bundespräsidentin gewesen?

Dagmar Schipanski: Mein großes Thema als Bundespräsidentin wäre
nach wie vor das Zusammenwachsen von Ost und West gewesen und vor allen
Dingen die Lehren aus der geteilten deutschen Geschichte für die
verantwortungsvolle Zukunftsgeschichte unseres Landes. Nach wie vor
steht für mich die Bedeutung der Wissenschaft für die Zukunftsgestaltung
einer modernen Gestaltung im Vordergrund. Darüber wird in Deutschland
viel zu wenig diskutiert und es bleibt für mich die Frage der
Chancengleichheit von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft. Das
entspricht auch der Integrationsfrage.

Frida: Wieso hatte Wulff erst so wenige Stimmen und am Ende
genug, so dass es auch im ersten Wahlgang gereicht hätte? Gibt es da
keine Absprachen?

Dagmar Schipanski: Ich hatte ja schon darauf hingewiesen, dass
laut Verfassungsgebot jeder Abgeordnete unabhängig seinem Gewissen
verpflichtet ist. Der Präsidentschaftskandidat Gauck ist ebenso eine
hervorragende Persönlichkeit wie Christian Wulff. Er hat einen anderen
politischen Hintergrund, insbesondere durch sein stetiges Eintreten für
die Demokratie unter widrigen Bedingungen in der DDR, die aktive
Gestaltung der friedlichen Revolution und die aktive Gestaltung der
Einheit Deutschlands als Leiter der Gauck-Behörde. Dieses andere
politische Feld hat viele ostdeutsche Abgeordnete – so glaube ich – in
den ersten Wahlgängen nach ihrem Gewissen entscheiden lassen. Ob es
andere Absprachen gegeben hat, kann ich als nicht zugelassene Wahlfrau
nicht beurteilen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass dann im dritten
Wahlgang – wo ja dann offensichtlich war, dass die Linken offenbar unter
Fraktionszwang gehandelt haben – auch andere Parteien Absprachen
getroffen haben.

Schweinifan: Was kann Joachim Gauck, auch ohne Amt, für die Demokratiekultur tun?

Dagmar Schipanski: Er kann wie bisher auf vielen Veranstaltungen –
auf Buchlesungen, in Radiosendungen, in Fernsehsendungen – sein Leben
als Beispiel dafür darstellen, wie man sich für die Demokratie einsetzen
kann.

Hinterbank: Welche Parteien gehen, Ihrer Meinung nach, gestärkt aus der Wahl?

Dagmar Schipanski: Ich glaube, dass diese Bundespräsidentenwahl
für alle Parteien ein Beispiel war, sich an die Verfassung zu erinnern.
Ich habe nicht den Eindruck, dass eine Partei besonders gestärkt aus
dieser Wahl hervorgegangen ist. Ich würde eher sagen, dass die Linken
mit ihrer Contra-Haltung zu Gauck ein gewisses Demokratieverständnis
vermissen lassen.

Hans: Ist die Linke die eigentliche Verliererin der Bundespräsidentenwahl?

Dagmar Schipanski: Es ist aus dieser Haltung eigentlich deutlich
geworden, dass die Linke sich nicht mit der Vergangenheit in der DDR
auseinandersetzen will. Das finde ich kein gutes Fundament für unsere
Zukunft, denn eine friedliche Revolution entsteht nicht aus dem Nichts
heraus. Es ist höchste Zeit, dass wir uns mit den Mechanismen, den
Zwängen und den Unrechtsurteilen des SED-Staates auseinandersetzen.

Sabi42: Ist es Ihrer Meinung nach schwieriger, als Frau eine führende Politikerin oder eine Top-Managerin zu werden?

Dagmar Schipanski: Meiner Meinung nach ist beides gleich schwer.
Es ist sehr kompliziert, als Frau anerkannt zu werden und sich
durchzusetzen, weil es doch eine ganze Menge von Vorurteilen gibt. Ich
habe es nie für möglich gehalten, da ich aus der Wissenschaft komme,
dass es so viele Vorurteile gibt, erfahre sie aber jetzt täglich.
Deshalb ist es für mich ganz wichtig, dass möglichst viele Frauen sich
hoch qualifizieren, damit sie für solche Positionen geeignet sind und
sozusagen ein entsprechendes Reservoir an Führungskräften darstellen.
Sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft als auch in der
Wirtschaft.

An.no.nym: Ist es in den vergangenen Jahren leichter geworden, als Frau in der Politik Führungspositionen zu bekommen?

Dagmar Schipanski: Ich habe nicht den Eindruck, dass es für
Frauen viel einfacher geworden ist, eine Führungsposition in der Politik
zu bekommen. Obwohl man anerkennen muss, dass es in der Politik mehr
weibliche Führungskräfte gibt als beispielsweise in den Topetagen der
Wissenschaft oder der Wirtschaft. Ich finde es wünschenswert, dass mehr
Frauen in allen drei Gebieten in höheren Positionen tätig sein können,
weil wir bestimmte Probleme als Frau anders betrachten als ein Mann. Das
hängt mit unserer sozialen und
kommunikativen Begabung zusammen. Mehr Frauen könnten das Leben in der
Politik und in der Öffentlichkeit etwas familiärer machen.

Lea94: Hätten Sie sich eine Frau als Bundespräsidentin gewünscht?

Dagmar Schipanski: Natürlich hätte ich mir eine Frau als
Bundespräsidentin gewünscht, nur weiß ich nicht, ob sie allein als Frau
das Leben in unserer Gesellschaft so entscheidend verändern hätte
können. Es wäre ein Signal gewesen, aber ich glaube, dass das
Grundanliegen ein verändertes Bewusstsein in unserer Gesellschaft ist.
Das bedeutet für uns Frauen, dass man in der Gesellschaft nicht
unbedingt sozusagen die Abtrennung von der männlichen Welt pflegen muss,
sondern man muss die Kommunikation pflegen. Hier hat die Frauenbewegung
noch ein großes Potenzial vor sich – aber auch die vielen männlichen
Netzwerke, die bisher ein Eindringen von Frauen in ihre Netze
erfolgreich verhindern.

Präsident2020: Wer sind für Sie herausragende Frauen in der Politik, sowohl in der Gegenwart, als auch in der Vergangenheit?

Dagmar Schipanski: Eine hervorragende Frau, die allen zuerst
nicht als Politikerin erscheint, ist für mich Madame Curie, die als
Wissenschaftlerin aber auch als Botschafterin für Polen in Frankreich
sehr viel in politischer Hinsicht erreicht hat. Natürlich ist Frau
Merkel für mich eine hervorragende Politikerin im Moment. Ebenso Frau
von der Leyen. Und es gibt sehr sehr viele Politikerinnen auf der
kommunalen Ebene, die Hervorragendes leisten, die aber eigentlich zu
wenig in der Öffentlichkeit bekannt sind. Denn ich finde es erfreulich,
dass sich auf der kommunalen Ebene sehr viele Frauen in den letzten
Jahren etabliert haben, beispielsweise auch Landrätinnen. Wir haben in
Thüringen drei weibliche Landräte. Wir haben auch eine
Ministerpräsidentin in Thüringen, wir haben eine Landtagspräsidentin –
alle diese Frauen sind für mich Vorbilder für die Jugend und sind,
glaube ich, sehr gut geeignet, andere Frauen dazu anzuregen, in die
Politik zu gehen. Wenn Sie die historischen Gestalten wollen, dann
müssen wir von der Zarin Katharina der Großen bis zur Königin Louise
sehr viele nennen. Aber ich glaube, es kommt mehr darauf an zu zeigen,
dass im Moment in Deutschland doch eine sehr große Bewegung der Frauen
ist, sich in der Politik zu etablieren.

Heinz Schenk: Im Osten Deutschlands haben mehr Frauen
Führungspositionen – zumindest in der Politik. Hat das mit der
DDR-Geschichte und der Stellung der Frau in diesem Land zu tun?

Dagmar Schipanski: Es ist so, dass in den neuen Ländern mehr
Frauen in Führungspositionen in der Politik sind. Beispielsweise zur
Zeit als ich Landtagspräsidentin in Thüringen war, waren wir ein
Triumvirat von drei Frauen, die den Landtag geführt haben. Auch beide
Vizepräsidenten waren Frauen. Das hängt mit der Vergangenheit in der DDR
zusammen. Ich habe immer gesagt, wir Frauen in der DDR haben die
Gleichberechtigung gelebt. Die Frauen in Westdeutschland haben dafür
gekämpft. Wir waren gleichberechtigte Partner im Berufsleben. Alle
Frauen waren berufstätig, ohne sich Vorwürfe machen zu müssen, dass man
die Kinder vernachlässigt. Die Kinderbetreuung war gut organisiert –
sowohl im Kindergarten als auch in der Schule. Verwerflich war dabei die
ideologische Beeinflussung der Kinder. Wir haben aber heute die Chance,
im demokratischen System diese Vorzüge in unserem Sinne neu
einzusetzen. Das haben die neuen Länder getan.

Bruno50: In Deutschland gibt es mittlerweile einige
Politikerinnen in bedeutenden Positionen. Wie beurteilen Sie die
Situation in anderen Ländern, hauptsächlich in der EU?

Dagmar Schipanski: Wenn Sie sich umschauen, macht sich schon
deutlich, dass – ich glaube in ganz Europa – die Frauen in der Politik
im Vormarsch sind. Die Länder in Osteuropa sind dafür auch ein Beispiel.
Ich denke insbesondere auch an die baltischen Länder, wo Frauen in
Führungspositionen sind, aber auch in der Slowakei und bei anderen
Osteuropäern. Ich hoffe, dass Westeuropa auch auf diesem Weg
voranschreitet. Aber Frankreich beispielsweise ist ein Land, in dem auch
viele Frauen in vielen politischen Führungspositionen sind. In
Frankreich ist auch das Selbstverständnis der Frauen, im Beruf tätig zu
sein, wesentlich mehr ausgeprägt als in Deutschland. Ich möchte es
präzisieren: Das Selbstverständnis der Männer, dass Frauen arbeiten
können, ist dort mehr ausgeprägt als in Deutschland. Ich wünsche mir in
dieser Hinsicht einen Bewusstseinswandel in unserem Land und hoffe, dass
wir Frauen aus Ostdeutschland für ganz Deutschland hier ein gutes
Beispiel liefern.

Sansi_Bart: Gerade in der CSU finden sich momentan wenige Politikerinnen. Woran kann das liegen?

Dagmar Schipanski: In der CSU sehe ich das nicht so. Frau Aigner
ist Bundesministerin, Frau Barbara Stamm ist Landtagspräsidentin. Es
gibt sehr viele weibliche Abgeordnete im Münchner Landtag. Ich habe
manchmal gerade das Gefühl, dass in der CSU sehr viele Frauen an der
Basis arbeiten. Ich werde im Herbst beispielsweise wieder bei Frau
Stewens sein und wir werden dort gemeinsam eine Veranstaltung
durchführen zu "Zwanzig Jahre deutsche Einheit".

Marieke: Debattieren Frauen anders als Männer?

Dagmar Schipanski: Also ich glaube, das müssen die Männer eher
beurteilen als die Frauen. Da bin ich jetzt baff über diese Frage. Es
mag sein, dass wir manchmal andere Gründe anführen. Aber rein von der
Diskussionskultur her habe ich manchmal – wie zum Beispiel bei
Jugend-debattiert – den Eindruck, dass sowohl von der Wortgewandtheit,
der Schlagfertigkeit und der Wortwahl die Frauen und die Männer gleich
sind.

Chefsache: Hielten Sie eine Frauenquote in der Politik für wirksam?

Dagmar Schipanski: Wir haben in der CDU das Frauenquorum. Ich
halte es für notwendig. Ich muss allerdings dazu sagen: Zu Beginn der
90er Jahre war ich noch der Auffassung, dass wir keine Quote brauchen,
dass wir die Chance haben, eine allmähliche Entwicklung zu durchleben.
Doch die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre haben mich zu einer
Verfechterin der Frauenquote werden lassen.

Sternchen: Welchen Rat würden Sie mir geben, wenn ich Politikerin werden will?

Dagmar Schipanski: Als erstes brauchen Sie eine fundierte
berufliche Ausbildung und Sie müssen in diesem Beruf gearbeitet haben,
damit Sie Ihr soziales Umfeld entsprechend einschätzen können und auch
wissen, welche Wirkungen einzelne Gesetze haben können. Für mich ist
eine gute berufliche Ausbildung das A und O für jeglichen Aufstieg in
der Politik. Hinzu kommt, dass man nicht nur in Praktika gearbeitet hat,
sondern wirklich einige Jahre im Beruf tätig war. Das nächste wäre,
dass man sehr wortgewandt sein muss, dass man gut logisch denken und gut
analysieren kann. Man braucht eine gewisse Volksverbundenheit und auch
Popularität. Und dann muss man lernen, mit dieser Popularität zu leben.
Man sollte nicht denken, dass das immer einfach ist, denn es erfordert
von Ihnen auch, sich ständig öffentlicher Kritik auszusetzen. Und dazu
braucht man dann ein dickes Fell, weil leider gerade in der
Öffentlichkeit ja mehr über negative Dinge berichtet wird als über das
Positive, was Sie in Ihrem Beruf erreicht haben. Also muss man sich ganz
genau prüfen: Bringe ich alle diese Eigenschaften mit, um dann ein
Leben lang in der Politik wirken zu können? Viele sehen nur die positive
äußere Fassade: Die Empfänge, die öffentlichen Veranstaltungen – aber
Politik ist harte Arbeit, ist meist ein 12-Stunden-Tag und Verzicht auf
vieles Persönliche.

Frank-En: Gibt es so etwas wie eine politische Ausbildung? Also etwas, womit man den Politikbetrieb erlernen kann?

Dagmar Schipanski: Das gibt es natürlich. Es studieren sehr viele
Politikwissenschaften. Und auch Juristen fühlen sich besonders geeignet
für die Politik. Aber ich persönlich würde mir wünschen, dass sich für
die Politik auch Menschen aus anderen Berufen berufen fühlen und dann
zusätzliches Wissen erwerben. Das kann man erwerben über die
Bundeszentrale und die Landeszentralen und die Akademien für politische
Bildung. Jede Partei bietet Kurse und Weiterbildungen an – da gibt es
vielfältige Möglichkeiten.

YO!HANNES: Warum sind so viele Politiker eigentlich Juristen, Rechtsanwälte? Gibt es da einen logischen Zusammenhang?

Dagmar Schipanski: Es gibt einen logischen Zusammenhang, da bei
den Juristen ja Gesetze – das ist die Materie, die die Abgeordneten ja
bearbeiten – Studiengegenstand sind. Trotzdem wünsche ich mir, dass mehr
Politiker aus anderen Berufen kommen, damit – ich sage es mal etwas
provokativ – mehr gesunder Menschenverstand in die Politik kommt und zum
anderen, dass dann vielleicht die Gesetze auch verständlicher für den
Bürger formuliert werden. Denn jeder Wissenschaftszweig hat seine eigene
Sprache entwickelt und entwickelt diese weiter fort. Es ist leider so,
dass gerade die Formulierung neuer Gesetze für den Bürger nicht sehr
verständlich ist. Deshalb ist mit der Forderung nach mehr Bürgernähe in
der Politik auch die Forderung verbunden, dass mehr Abgeordnete aus
unterschiedlichen Berufen wählbar sind. Und einen Gesichtspunkt darf man
auch nicht vergessen: Dass die Politiker – wenn sie nicht gewählt
werden – wieder in ihren Beruf zurückgehen müssen. Das ist für Juristen
am einfachsten, weil sie meist Anwaltskanzleien haben. Für Physiker
beispielsweise ist nach acht Jahren Abgeordnetentätigkeit der
Wiedereinstieg schwierig.

Liebknecht: Warum wechseln so wenige Menschen aus der Wirtschaft
in die Politik? Wie wichtig ist die „Ochsentour“ durch die Parteien
heute noch?

Dagmar Schipanski: Die „Ochsentour“ durch die Parteien ist heute
noch sehr wichtig, aber ich plädiere dafür, dass in unserer modernen
Gesellschaft der Wechsel von Wirtschaft und Wissenschaft in Politik und
umgekehrt erleichtert werden muss.

Klaus123: Braucht die Politik mehr Expertise von älteren Quereinsteigern als von karrierefixierten Youngstern?

Dagmar Schipanski: Diese Frage kann ich mit „Ja“ beantworten.

Gee(h)rt: Wann oder woran haben Sie gemerkt, dass Sie in die Politik einsteigen wollen?

Dagmar Schipanski: Bei mir war es die friedliche Revolution von
1989. Ich habe vierzig Jahre im DDR-System gelebt, in dem ich mich nicht
wohl gefühlt habe und dessen Mängel ich hautnah erlebt habe. Für mich
war die friedliche Revolution ’89 die Befreiung aus der Isolation und
die Öffnung in ein neues Leben. Dieses neue Leben wollte ich aktiv
mitgestalten und habe das zuerst dort getan, wo ich die größte Kompetenz
hatte: Bei der Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft in den neuen
Ländern, bei der Neukonzipierung der Universitäten und später bei der
Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im vereinten Deutschland, also
auch in den alten Ländern. Für mich war die politische Betätigung
einfach das Wahrnehmen meiner Verantwortung in der neu gewonnenen
Freiheit.

SophieO: Wünschen sie sich manchmal mehr Debattenkompetenz bei Politikern?

Dagmar Schipanski: Ich wünsche mir nicht nur Debattenkompetenz –
ich wünsche mir auch mehr berufliche Kompetenz. Denn dann wären die
Debatten auch von mehr Sachkompetenz getragen. Ich möchte jetzt nicht
den Bundesminister für Gesundheit, Herrn Rösler, kritisieren sondern ich
möchte die öffentliche Debatte kritisieren, die zur Gesundheitsreform
geführt wird. Haben Sie dort jemals das Wort Patient gehört? Es geht
dort um die Kopfpauschale, es geht um die Kopfprämie. Es geht nur um das
Geld und um das Geld, das den Krankenkassen fehlt. Meiner Meinung nach
muss es bei der Debatte um den Patienten gehen, der im Mittelpunkt des
Interesses stehen muss. Dazu gehört dann auch eine Reorganisation des
Gesundheitssystems, wobei wir vielleicht auch Geld einsparen können.

Mausi: Was konnte die Plattform Jugend-debattiert bislang erreichen?

Dagmar Schipanski: Erstmal: Jugend-debattiert ist nicht nur eine
Plattform, die wir mit debatte-digital jetzt auch nutzen, sondern es ist
eine große Bildungsbewegung, die in allen Bundesländern einen breiten
Zuspruch gefunden hat und jetzt europaweit veranstaltet wird. Ich habe
es persönlich unterstützt durch die Aufnahme des Wettbewerbs
Jugenddebattiert in die Landtage, weil ich finde, dass die
hervorragenden Qualitäten, die die jungen Leute durch diese Ausbildung
bei Jugend-debattiert erhalten, auch beispielgebend für die Abgeordneten
ist. Die jungen Leute haben eine solch hervorragende Ausbildung, dass
sie in mancher Debatte besser sind als die Debatten, die wir sonst in
den Landtagen oder im Bundestag verfolgen.

Son-JA: Welche Rolle spielen neue Medien für Politiker, gerade
politikverdrossene Jugendliche oder junge Erwachsene wieder an die
Politik heranzuführen?

Dagmar Schipanski: Die neuen Medien werden von den Politikern
zunehmend genutzt. Wir sind uns bewusst, dass wir in den neuen Medien
viel besser mit den Jugendlichen kommunizieren können als beispielsweise
in Zeitungen. Ich möchte hervorheben, dass besonders die jungen
Abgeordneten in den vergangenen Wahlkämpfen die neuen Medien ganz
bewusst eingesetzt haben und sich damit auch ganz neue Wählerschichten
erschlossen haben.

ThoSchäGü: Gerade Themen, die Jugendliche interessieren (wie zum
Beispiel: Schulpolitik), werden immer wieder von Politikern
vernachlässigt. Wieso?

Dagmar Schipanski: Ich war selbst Ministerin für Wissenschaft,
Forschung und Kunst und Präsidentin der Kultusministerkonferenz, als die
ersten PISA-Ergebnisse in Deutschland vorgestellt wurden und ein
Aufschrei durch unser Land ging, dass die Bildung und die Ausbildung
verbessert werden muss. Wir haben in der Kultusministerkonferenz sehr
zügig als Antwort auf dieses Ergebnis der PISA-Studie Maßnahmen
eingeleitet, die zur Verbesserung des Bildungssystems in Deutschland
geführt haben. Als besonderes Merkmal dieser Maßnahmen möchte ich die
Einführung von Bildungsstandards benennen, die für jedes Schulfach und
für jedes Schuljahr verbindlich die Zielstellung der zu erlernenden
Kompetenzen und Fähigkeiten festlegen. Die konsequente Anwendung von
Bildungsstandards kann unser Schulsystem wettbewerbsfähig und
konkurrenzfähig machen im internationalen Maßstab. Die Einführung ist
kompliziert und bedarf der Mitarbeit von Ministerien, Schulen, Lehrern
und Schülern. Wir sind hier auf einem guten Weg, wenn man bedenkt, dass
wir in den letzten Jahren unseren Platz bei PISA erheblich verbessert
haben. Ich kann die Auffassung nicht teilen, dass die Politiker sich zu
wenig um die Bildung kümmern.

Olfnilreb: Wie stark denken Sie, beeinflussen gerade Jugendliche starke Persönlichkeiten?

Dagmar Schipanski: Ich habe bemerkt, dass Jugendliche sich sehr
auf Vorbildfunktionen von Menschen in der Gesellschaft konzentrieren .
Das können Fußballspieler sein, wie wir es im Moment ganz deutlich
erleben, Schauspieler, Sänger und ich würde mir wünschen, dass man sich
auch mehr an Wissenschaftlern, an Politikern und an erfolgreichen
Managern orientieren würde. Nur ist unser Leben nicht so spektakulär wie
das der Stars und deshalb fehlt wahrscheinlich die Aufmerksamkeit bei
den Jugendlichen. Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Jugendliche zu
Diskussionen kommen, zu denen ich immer zur Verfügung stehe, und dass
man auch mehr mit Persönlichkeiten aus der Wissenschaft diskutiert. Hier
haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

Moderator: Unsere Chat-Zeit ist fast vorbei. Das Schlusswort gebührt Ihnen, Frau Schipanski:

Dagmar Schipanski: Ich bedanke mich bei allen Jugendlichen, die
an diesem Chat teilgenommen haben. Es waren auch für mich sehr
interessante Fragen, die mich sehr nachdenklich gestimmt haben. Ich
wünsche allen, dass sie sich weiterhin mit politischen Fragen
beschäftigen und hoffe, dass wir uns irgendwann im Landtag oder im
Bundestag wiedertreffen. Die Zukunft unserer Demokratie hängt von der
Jugend ab und deshalb freue ich mich, dass sich so viele beteiligt
haben.

Moderator: Das waren 60 Minuten Live-Chat mit Frau Prof. Dr.
Dagmar Schipanski. Vielen Dank an Frau Schipanski für ihre Antworten und
natürlich vielen Dank an euch alle für die vielen Fragen, die wir aus
Zeitgründen leider nicht alle stellen konnten. Das Chat- Transkript
findet ihr in Kürze auf www.jugenddebattiert.debatte-digital.de. Das
Chat-Team wünscht allen noch einen schönen Abend!