Am Dienstag dem 10. März 2009 war die SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt Gesine Schwan zu Gast im tagesschau-Chat in Zusammenarbeit mit politik-digital.de. Sie beantwortete Fragen der Chatter zu ihren Wahlchancen, ihren Vorhaben im Fall der Wahl und zur aktuellen Finanzkrise.

 

Moderatorin: Herzlich Willkommen beim
tagesschau-Chat im ARD-Hauptstadtstudio. Mein Name ist Corinna Emundts.
Ich darf Gesine Schwan herzlich begrüßen, die bereits zum zweiten Mal
nominiert ist als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt. Derzeit ist
sie viel im Land unterwegs, sie hält fünf Grundsatzreden über
Gesellschaft, Demokratie und Globalisierung, die letzte davon in der
Paulskirche in Frankfurt. Dazwischen liegen viele Termine auf Einladung
von Abgeordneten und Verbänden. Frau Schwan, vielen Dank, dass Sie für
die Diskussion mit den Lesern von tagesschau.de und politik-digital.de
Zeit haben – sind Sie bereit?


Gesine Schwan: Gerne! Schönen Dank für die Einladung!

Moderatorin: Mit welcher Frage werden Sie bei Ihren Auftritten besonders oft konfrontiert? Was treibt die Menschen im Lande um?

Gesine Schwan:
Das hat sich im Laufe der Monate geändert. Zur Zeit ist sehr häufig die
Frage nach der Krise im Mittelpunkt. Aber dann ergibt sich daraus auch
die Frage nach der Aufgabe einer Bundespräsidentin in einer solchen
Krise.

Moderatorin: Welche Fragen kommen zur Krise?

Gesine Schwan:
Auch die Frage, oder ganz vornehmlich, was das denn eigentlich für eine
Krise sei und vor allen Dingen, ob man absehen kann, wie das sich
weiter gestalten wird. Diese Frage steht auch im Zusammenhang mit der
Frage, was kann Staat, was kann Politik machen und natürlich auch: Wie
können wir uns dagegen wappnen?

Moderatorin: Auch hier im Chat sind viele Fragen dazu eingetroffen:

Fraenkel:
Werte Frau Schwan, wie könnte das Spannungsverhältnis von Konflikt und
Konsens oder auch von Gewinnstreben und Stabilität in Vertrauen
umgesetzt werden?

Gesine Schwan: Das sind
sozusagen alles Stichworte, an denen mir sehr liegt. Wir brauchen einen
klaren politischen Rahmen für die Märkte. Sie müssen durchsichtig sein,
der Wettbewerb muss gesichert werden. Das ist in einer globalisierten
Wirtschaft sehr viel schwieriger als zur Zeit der sozialen
Marktwirtschaft, als die Politik noch im Nationalstaat die Rahmendaten
setzen konnte. Das geht heute nicht mehr.

Aber wenn wir die
Bürgerbeteiligung, die sich überall ja doch durchaus zeigt – und das in
einer gegenläufigen Tendenz zu den negativen Umfrageergebnissen zu
Parteiendemokratie und Parteien – wenn wir also die Bürgerbeteiligung
etwa in Nicht-Regierungsorganisationen ernster nehmen, mit einbeziehen
– und zwar als diejenigen, die die wirtschaftliche Tätigkeit stärker
noch kontrollieren, aber auch neue Koalitionen bilden können für neue
Projekte – und wenn wir den Privatunternehmen auch ihre politische
Verantwortung immer wieder klar machen, dann können wir durch
Transparenz sowohl der Bürgerbeteiligung als auch der Politik der
Privatunternehmen Vertrauen stärken. Vertrauen ist in meiner Sicht kein
blindes Vertrauen. Das ist kein Vertrauen – das ist Leichtsinn. Aber
wenn die Geschehnisse durchsichtig sind, wenn auch Kritik geübt werden
kann, dann wächst auch Vertrauen.

Aelmstee:
Durch die Finanzkrise wird die Kinderarmut laut aktueller
Berichterstattung noch weiter ansteigen. Mit welchen Mitteln wollen Sie
die Lebenssituation dieser Kinder verbessern?

Gesine Schwan:
Ich habe über diese Statistiken zur Kinderarmut auch gerade in meinem
letzten Vortrag in Essen in der Zeche-Zollverein gesprochen. Dieser
Vortrag hatte das Thema "Arbeit, Anerkennung, Zusammenhalt". Und in der
Tat, durch die Krise auf den Finanzmärkten droht die Armut, die
insbesondere Kinderarmut ist, noch größer zu werden. Letzte Meldungen
über Hartz-IV-Empfänger und Hartz IV-Sätze zeigen, dass gerade
alleinerziehende Mütter oder Väter wenig Chancen haben, aus den
Hartz-IV-Sätzen heraus zu kommen und mit diesen Sätzen, auch den
Kindersätzen, nicht zurecht kommen.

Ich denke, da haben auch
Gerichte darauf hingewiesen, dass sich da etwas ändern muss, dass diese
erhöht werden müssen. Aber ich denke, dass auch gerade durch
öffentliche Unterstützung von Kinderbetreuung, Bildung und Erziehung
die alleinerziehenden Väter und Mütter die Chance bekommen müssen,
wieder in Arbeit zu kommen. Denn unter den Hartz-IV-Empfängern haben am
ehesten kinderlose Erwachsene und Ehepaare die Chance, wieder
berufstätig zu werden.

Moderatorin: Ist das eine Bankrotterklärung für die Politik der vergangenen Jahre?

Gesine Schwan:
Nein, das ist keine Bankrotterklärung. Das zeigt, wie schwierig es ist,
aus einer hohen Arbeitslosigkeit heraus zu kommen und wie abhängig eine
solche Maßnahme von einer Vielfalt von Akteuren ist, die sie auch gut
ausführen müssen. Man hatte aus Beispielen aus Skandinavien gelernt, wo
eine bessere Weiterbildung und Zuordnung von Arbeitslosen zu offenen
Stellen durchaus Erfolg hatte. In Deutschland bleibt da sehr viel zu
tun, weil die Dimension auch viel größer war und wohl auch die
Kooperationsbereitschaft der Akteure, die an dieser Maßnahme beteiligt
waren, noch verbessert werden muss.

Moderatorin: Sollte ein Bundespräsident oder eine Bundespräsidentin Fehler von Regierungspolitik benennen?

Gesine Schwan:
Nein, die Person hat sich nicht zu beteiligen – nach meinem Verständnis
– an Einzelkritik, an operativer Politik, an Regierungs- oder
Oppositionspolitik. Warum eigentlich nur Regierungspolitik? Aber vom
Bundespräsidentenamt aus sollten Grundsätze, die hinter
Einzelentscheidungen stehen, herausgearbeitet werden und damit eine
öffentliche Debatte über Punkte und bessere Politik angeregt werden.
Das verlangt einen deutlich analytischen Zugang, den ich gegenüber
einer vorschnellen Moralisierung klar bevorzuge.

Manager:
Sehr geehrte Frau Schwan, was halten Sie von der Idee der
Verstaatlichung von Banken und Unternehmen in Krisenzeiten? Ist der
Staat der bessere Unternehmer?

Gesine Schwan:
Ich meine schon, dass Steuerunterstützung auch eine gewisse Kontrolle
für die Steuerzahler braucht. Aber ich halte nichts davon, Banken und
Unternehmen generell zu verstaatlichen. Wenig spricht dafür, dass auf
Dauer staatliche Bürokratien einfallsreicher, flexibler und
gemeinwohlorientierter auf dem Wirtschaftsmarkt handeln als private
Unternehmer. Allerdings müssen für private Unternehmen klare
Rahmendaten gelten, auch im Sinne und im Dienste nachhaltiger Politik.
Es darf nicht, wie bisher und im Unterschied zu früheren
Unternehmerphilosophien, die kurzfristige Gewinnmaximierung allein auch
auf Kosten etwa der Umwelt und beispielsweise der sozialen Situation
der Mitarbeiter im Vordergrund stehen. Überhaupt ist ein Unternehmen
nicht einfach ein Ort, an dem Rendite gemacht wird. Rendite muss sein,
das ist richtig. Aber eben nicht nur. Sondern ein Unternehmen ist auch
eine Organisation, in der Menschen arbeiten, die davon abhängen –
ebenso wie die Umwelt. Das muss wieder mehr beachtet werden, auch durch
eine zukunftsgewandte Mitbestimmung.

JH: Sie
sprechen von Bürgerbeteilung. Glauben Sie, dass Bürgerbegehren und
Referenden Deutschland wirklich demokratischer gestalten können?
Letztendlich sind es doch vor allem Interessengruppen, die die
Hauptakteure der direkten Demokratie sind.

Gesine Schwan:
Die Kräftigung der Demokratie hängt sicher nicht nur von Abstimmungen
und Plebisziten ab. Dass sich Bürger versammeln, um ein politisches
Projekt zu verfolgen, kann durchaus durch Interessen motiviert werden.
Sie sind in einer pluralistischen Demokratie nichts schlechtes. Auch
Partikularinteressen haben ihre prinzipielle Berechtigung. Aber sie
müssen sich öffentlich diskutieren lassen und dürfen sich nicht hinter
Parolen des Gemeinwohls verstecken. Die Bürgerbeteiligung, die ich
meine, bezieht sich vor allen Dingen auf gemeinnützige NGOs. Die
Engländer nennen das "advocacy organizations". Da machen sich
Bürgerinitiativen zu Anwälten gerade auch für solche sozialen Gruppen,
die es alleine noch nicht schaffen, sich zu Gehör zu bringen.

hallo:
Einmal abgesehen von der Wirtschaft, wie beurteilen Sie die aktuelle
Bildungssituation in Deutschland und das "Gefälle" zwischen den
Bundesländern? Was haben Sie für Verbesserungsvorschläge?

Gesine Schwan:
Ich weiß nicht genau, worauf die Frage des Gefälles abzielt. Vielleicht
auf Ergebnisse der PISA-Studie. Die PISA-Studie zeigt, dass innerhalb
Deutschlands das sogenannte Gefälle gar nicht so groß ist, dass es aber
erheblich besteht etwa im Unterschied zu den skandinavischen Ländern.
In meiner Sicht beruht der Erfolg der skandinavischen Ländern nicht nur
auf ihren Hochschulstrukturen – also etwa darauf, dass sie die jungen
Menschen sehr lange beieinander lassen und nicht so früh auseinander
sortieren, wie das in Deutschland geschieht – sondern vor allem auf
einer ganz anderen Einstellung zu Kindern und zur Bildung.

Sie
wollen die unterschiedlichen Talente fördern, sie wollen die Kinder
stärken in ihrer Individualität und in der Vielfalt ihrer Begabungen
ermutigen, vielmehr als das in Deutschland üblich ist. Dadurch haben
sie dann auch im Durchschnitt bessere Ergebnisse in den Gebieten wie
Rechnen, Lesen, Texte verstehen, die ja nur einen kleinen Teil von
Bildung ausmachen. Die Bejahung der Kinder und ihrer auch ganz
individuellen Lernvorgänge ist das Entscheidende.

Dreamdancer: Wie schafft unsere Gesellschaft einen notwendigen Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik?

Gesine Schwan:
Das ist sicher eine Frage auch der öffentlichen Debatte. Ich beobachte
eine Kluft zwischen denen, die beruflich wirklich mit Bildung zu tun
haben, denen gute Lernergebnisse der Kinder am Herzen liegen und die
meines Erachtens alle eher der skandinavischen Philosophie zuneigen,
und denen, die öffentlich-bildungspolitisch argumentieren, die nicht
immer in der täglichen Berührung mit Bildung sind und sehr
oberflächliche Elite-Parolen von sich geben. Um hier einen
Paradigmenwechsel zu erreichen, müssen wir gerade die Erzieherinnen und
Lehrer ernster nehmen, die an ihrem Geschäft wirklich hängen, und
müssen auch die empirischen Ergebnisse, etwa in Skandinavien, genauer
zur Kenntnis nehmen. Ich würde als Bundespräsidentin gern zu einer
derartigen öffentlichen Debatte beitragen.

Moderatorin: Eine Nachfrage zum "Bildungsgefälle":

Claudi: Ist die Frage nicht einfach, auf welche Art und Weise man versuchen möchte, dieses Gefälle abzubauen?

Gesine Schwan:
Wenn man ein Gefälle abbauen will, muss man genau verstehen, worum es
sich dabei handelt. Deshalb habe ich auf die PISA-Ergebnisse
hingewiesen. Nach meinen Erfahrungen sind die Kinder, die in den
vermutlich angesprochenen südlichen Bundesländern aufwachsen und zur
Schule gehen, nicht grundsätzlich besser gebildet als die im Norden.
Man klammert sich da an Zensuren und nachdem ich etwa 35 Jahre
unterrichtet habe, weiß ich, was ich davon zu halten habe.

Moderatorin: Die folgende Frage ist zugleich eine, die viele User vorab für besonders wichtig bewertet haben.

Balduin:
Nach den Stimmenverhältnissen in der Bundesversammlung sind Sie
chancenlos bei der Wahl des Bundespräsidenten. Warum kandidieren Sie
dennoch?

Gesine Schwan: Die Rechnung ist falsch.
Ich bin keineswegs chancenlos. Union und FDP, die sich bisher zur
Unterstützung des Amtsinhabers positiv erklärt haben, haben 606 Stimmen
– das ist keine absolute Mehrheit. Alle anderen Stimmverhältnisse sind
unklar und ganz generell gehe ich auch davon aus, dass Union und FDP
ebenso wenig geschlossen abstimmen wie im Jahre 2004. Überhaupt
unterliegen Bundespräsidentenwahlen, die geheim sind, keinem
Fraktionszwang.

Und es hat bei diesen, wo es um die Wahl einer
Persönlichkeit geht, nie eine genaue Übereinstimmung zwischen der Zahl
der Fraktionsmitglieder und der Zahl der jeweils entsprechend
abgegebenen Stimmen gegeben. 2004 hat Horst Köhler 18 Stimmen weniger
bekommen, als ihm zugestanden hätten. Ich habe neun Stimmen mehr
bekommen, als mir nach dem Fraktionskalkül zugestanden hätten. Das ist
also, wie Sie sehen, keine verlässliche Grundlage.

Holger11: Weshalb wollen Sie Präsidentin werden?

Gesine Schwan:
Das Amt des Bundespräsidenten, der Bundespräsidentin, hat ein großes
Potenzial, das ich nutzen möchte, um zu helfen, dass Deutschland in
eine bessere Zukunft geht. Die Macht in diesem Amt liegt nicht in
politischen Einzelentscheidungen oder in Kommentaren dazu, liegt auch
nicht in einer allgemeinen Kritik an demokratischer Politik, sondern
darin, diese durchsichtiger zu machen, damit auch für die Bürgerinnen
und Bürger verständlicher, sodass sie sich weniger abwenden und
umgekehrt kompetent kritisieren können. Sie liegt darüber hinaus darin,
die anstehenden Zukunftsfragen zum Thema zu machen und öffentliche
Debatten anzuregen, damit Politik auf eine möglichst gut informierte
und nachdenkliche Gesellschaft bauen kann.

Die Macht des
Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin ist also eine kulturelle,
sie soll nach unserem Grundgesetz die Menschen in der Demokratie
zusammenführen, soll Orientierung hinsichtlich des Gemeinwohls geben –
und das ist sehr viel in diesen Zeiten.

Gelke: Fühlen Sie sich bei Ihrer Kandidatur ausreichend von den eigenen Parteikollegen unterstützt ?


Gesine Schwan: Es gab eine Zeit, wo ich mich
von der Parteizentrale nicht zureichend unterstützt gefühlt habe,
während gleichzeitig die Bundestagsabgeordneten mich mit Einladungen
geradezu überschütteten und ich in der gesamten Bundesrepublik – sowohl
in der SPD als auch darüber hinaus – viel Beifall fand. Das wird auch
sichtbar daran, dass jetzt fast zwei Drittel, also 64 Prozent der
Bundesbürger, meine Kandidatur unterstützen und ausdrücklich nicht
wollen, dass ich sie zurückziehe – selbst 52 Prozent der Unionswähler
denken so nach einer Forsa-Umfrage. Die Parteiorganisation im
Willy-Brandt-Haus ist inzwischen zu einem wunderbaren Unterstützer
geworden. Ich bin dafür sehr dankbar und glaube, dass dies auch
insgesamt sehr hilfreich ist.

Ju-Ke: Sehr
geehrte Frau Schwan, wie ist es vereinbar, dass Die Linke einerseits
vom Verfassungsschutz beobachtet wird, aber andererseits die mögliche
zukünftige Bundespräsidentin um deren Stimmen wirbt?

Gesine Schwan:
Mir ist nicht bekannt, dass Die Linke ganz generell vom
Verfassungsschutz beobachtet wird. Das ist, glaube ich, in einigen
Bundesländern der Fall, in anderen nicht. Im übrigen sagt das
Grundgesetz nicht, dass eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz
eine grundgesetzwidrige Partei bedeutet. Dies kann nur das
Bundesverfassungsgericht entscheiden. Ein solcher Antrag ist nicht
gestellt worden. Hinter der Linken stehen etwa fünf Millionen Wähler
und es leuchtet mir nicht ein, dass diese Wählerinnen und Wähler von
der Wahl der Bundespräsidentin bzw. des Bundespräsidenten, die
natürlich indirekt erfolgt, ausgeschlossen werden. Die
Bundespräsidentin bzw. der Bundespräsident soll die Menschen in
Deutschland zusammenführen, nicht spalten.

Ohne Namen: Das bedeutet, Sie würden sich in einem eventuellen zweiten Wahlgang von der Linken wählen lassen?

Gesine Schwan:
Ja, das habe ich von vornherein angekündigt, genauso wie von
Mitgliedern aller anderen Bundestagsfraktionen. Die Mitglieder der
rechtsextremen Parteien haben schon klar erklärt, dass sie mich nicht
wählen wollen – darüber bin ich froh.

Otto: Aber hat die Linke eine solche Zustimmung nicht an Bedingungen geknüpft?

Gesine Schwan:
Sie hat öffentlich manchmal Bedingungen aufgestellt. Diese Bedingungen
sind nicht erfüllt worden und ich habe keine an mich gestellte
Bedingung erfüllt. Ich habe auch in der Fraktion der Linken begründet,
warum ich das auch in Zukunft nicht tun werde. Wenn man mich also
wählt, dann zu den Bedingungen die bekannt sind.

Wovi: Was können Sie besser als Herr Köhler?

Gesine Schwan:
Ich habe keinen Anlass, mich mit Herrn Köhler zu vergleichen, das
obliegt den Wählerinnen und Wählern. Ich denke, dass ich durch meine
jahrelange Tätigkeit in der Wissenschaft einen guten analytischen
Zugang zur Politik habe. Ich denke auch, dass ich sehr viel praktische
Erfahrung mit Politik habe und deswegen die vielen informellen
Faktoren, die in der Politik wirken, auch gut kenne. Ich habe seit
Jahrzehnten an öffentlichen politischen Debatten teilgenommen, sodass
alle die Stimmigkeit, auch die über die Jahrzehnte gegebene Kohärenz,
meiner Vorstellung überprüfen können. Und schließlich meine ich, dass
ich auch als Frau Kompetenzen und Erfahrungen in das Amt bringen
könnte, die dem Amt und die Deutschland gut tun können.

MB: Warum glauben Sie, braucht Deutschland jetzt einen weiblichen Bundespräsidenten?

Gesine Schwan:
Ich spüre, dass überall im Lande von Männern und Frauen dieser Wunsch
geäußert wird. Wenn man bedenkt, dass bisher nur Männer diese Funktion
ausgeübt haben, wenn man auch bedenkt, dass Frauen in
Führungspositionen eine durchaus gute Figur machen, scheint mir
plausibel, dass dieses Amt jetzt auch von einer Frau ausgeübt werden
sollte.

Kiwisabi: Denken Sie, dass Frauen in
Deutschland mehr Führungspositionen übernehmen sollten? Inwiefern sehen
Sie Ihr Geschlecht als Bonus für die Aufgaben, die Sie bewältigen
werden müssen?

Gesine Schwan: Ja, ich denke ganz
eindeutig, dass Frauen mehr Führungspositionen übernehmen sollten. Und
ich sehe in der Art, wie Frauen aufwachsen und vielfach leben, auch
einen Bonus. Denn in Führungspositionen muss man Menschen nicht nur
führen, sondern auch zusammenführen. Man muss in erster Linie an dem
Gelingen von Projekten und guten Beziehungen interessiert sein, nicht
daran, andere zu überflügeln oder ins Abseits zu stellen. Viele
Umfragen zeigen, dass Frauen aufgrund ihrer Sozialisation gerade dafür
gut disponiert sind, Beziehungen zu pflegen und zugunsten einer
gemeinsamen Sache zu motivieren und mobilisieren.

medea: Sehr geehrte Frau Schwan, wenn Sie an
die Situation von Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft und
international denken – sehen Sie Themen und Arbeitsschwerpunkte, die
Sie als Bundespräsidentin besonders einbringen und anregen würden?

Gesine Schwan:
Ein Themenschwerpunkt ist sicher, dass die Forderung "Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit" besonders schlecht erfüllt ist. In der letzten
diesbezüglichen Umfrage sind wir – glaube ich  – das vorvorletzte
Schlusslicht der OECD-Länder. Darüber hinaus ist überhaupt dem Gedanken
der Partnerschaftlichkeit in Beruf und Familie sehr viel Aufmerksamkeit
zu widmen. Die Rollenvorstellungen, die wir mit Frauen und Männern
verbinden, sollten deutlich aufgelockert werden. Beide sollen die
Möglichkeit haben, Familien- und Berufsarbeit auszuüben. Das ist sowohl
für die Kinder als auch für den Fortbestand unserer Gesellschaft von
großer Bedeutung. Es würde auch die Aufgabe der Pflege, der Fürsorge,
die bisher eine typische Frauenaufgabe ist, für Männer zugänglicher und
üblicher machen. Das wäre ein deutlicher Gewinn.

JTF:
Ist es nicht obsolet in aufgeklärten Zeiten zu fragen, ob ein Amt von
einer Frau oder von einem Mann ausgeübt wird? Ist eine Frau "per se"
ein besserer Mensch?

Gesine Schwan: Eine Frau ist "per se" kein
besserer Mensch, aber im Durchschnitt haben Frauen eben andere
Sozialisationen, Prioritäten und dadurch auch Fähigkeiten als Männer.
Gerade die überbordende Konkurrenzkultur, in der wir leben und die
meines Erachtens zur gegenwärtigen dramatischen Krise beigetragen hat,
wird von Frauen in der Regel erheblich weniger geschätzt als von
Männern. Hier könnten Frauen in Führungspositionen ein gutes
Gegengewicht bilden.

Jacobo: Sehr geehrte Frau
Schwan, denken Sie, dass die "überbordende Konkurrenzkultur" der Männer
eine wichtige Ursache dieser Finanzkrise ist?

Gesine Schwan:
Ich habe gesagt, dass die überbordende Konkurrenzkultur eine wichtige
Ursache ist. Damit nehme ich nicht generell alle Männer in Haft. Aber
es gibt Hinweise darauf, dass Männer mehr Wert legen auf Konkurrenz als
Frauen. Es gibt aber auch sehr kooperative Männer. In meinem Team
arbeiten lauter solche Männer.

Shilka: Wie wichtig ist Ihnen die Familienpolitik?

Gesine Schwan:
Familienpolitik ist mir überaus wichtig, vor allen Dingen der Wandel
hin zu partnerschaftlichen Familien, in denen sowohl Familienarbeit als
auch Berufstätigkeit von Männern und Frauen ausgeübt wird. Dazu ist es
nötig, die "Rush-Hour" in unserem Leben – etwa zwischen dem 25. und dem
50. Lebensjahr – zu entlasten. Männer und Frauen sollten in dieser Zeit
beide weniger arbeiten müssen und den Höhepunkt ihrer Karriere in die
Zeit danach legen. Wir werden alle älter – und auch gesünder älter.
Führungsaufgaben verlangen Lebenserfahrung. Wir könnten eine sehr viel
organischere Arbeitsbiographie haben, als das bisher der Fall ist.

Veronika: Was muss denn Ihres Erachtens geschehen, um die Geburtenrate in Deutschland wieder nach oben zu bringen?

Gesine Schwan:
Die Geburtenrate war bis Mitte 2008 gestiegen und ist nach neuesten
Ergebnissen seit Ende 2008 wieder gefallen. Das könnte ein Indiz dafür
sein, dass für sie die allgemeine Krise wichtiger ist als einzelne
familienpolitische Maßnahmen. Dennoch bin ich für familienpolitische
Maßnahmen, die die von mir beschriebene partnerschaftliche
Familienpolitik begünstigt.

Moderatorin: Wobei
Anfang 2008 noch wenige Menschen die Krise heraufziehen sahen – sodass
die seit Herbst bekannte Wirtschafts- und Finanzkrise die sinkende
Geburtenrate Ende 2008 also noch nicht beeinflusst haben dürfte.

Gesine Schwan:
Ja, das ist richtig. Dennoch: Zumindest seit Frühjahr waren die
Anzeichen auch ausgesprochen stärker für die Krise, aber natürlich noch
nicht so eklatant wie im Herbst. Ein anderes Zeichen dafür, dass die
allgemeinen Lebensumstände und die Perspektive eine große Rolle
spielen, ist im Abfall der Geburtenrate in Ostdeutschland zu sehen.
Aber wie gesagt, ich bin ja nicht gegen, sondern für Familienpolitik
und glaube aber auch, dass solche Maßnahmen nur langfristig wirken.

Janosch74: Frau Schwan! Wie stehen sie grundsätzlich zum Thema bedingungsloses Grundeinkommen?

Alfa:
Sehr geehrte Frau Schwan, Stichwort Bürgerbeteiligung: Vor kurzem haben
über 50.000 Menschen die Online-Petition zum bedingungslosen
Grundeinkommen unterzeichnet. Es herrscht eine rege und fundierte
Diskussion zu diesem Thema im Internet. Würden Sie eine Diskussion im
Bundestag unterstützen?

Gesine Schwan: Das muss
der Bundestag natürlich allein entscheiden. Ich habe mich immer wieder
mit der Frage des Grundeinkommens befasst. Das ist zunächst eine alte
Idee, die etwa in Schweden schon in den 30er, 40er, 50er Jahren
diskutiert worden ist. So, wie sie gegenwärtig präsentiert wird, bin
ich ihr gegenüber sehr skeptisch, denn sie würde in dieser Form die
Gesellschaft teilen in solche, die auf einem sehr niedrigem Niveau
leben und sich im Grunde an gesellschaftlichem und politischem Leben
nicht beteiligen können, weil sie nicht in Arbeit stehen, und anderen,
die dann ohne Rücksicht auf soziale Probleme nach dem Ellenbogenprinzip
leben würden. Nach meiner Überzeugung ist Arbeit eine wichtige,
unverzichtbare Dimension des menschlichen Lebens. Sie schafft
Selbstsicherheit und Anerkennung von Anderen, die wir brauchen.
Allerdings nur, wenn sie so organisiert wird, dass Menschen darin auch
einen Sinn erkennen können. Darüber hinaus kann man Arbeit, Anerkennung
und auch gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht trennen. Ich habe
darüber am Sonntag in der Zeche-Zollverein einen Vortrag im Rahmen
meiner Demokratie-Reise gehalten, den sie im Internet in einigen Tagen
nachlesen können.

Dasparadoxon: Viele, die in Arbeit stehen, beteiligen sich nicht an beidem.

Gesine Schwan:
Die Arbeitslosigkeit ist unser Hauptproblem. Wir können sie nicht durch
ein bedingungsloses Grundeinkommen abtun, sondern müssen erkennen, dass
Menschen, die nicht in Arbeit sind, sich auch nicht am
gesellschaftlichen Leben und an der Demokratie beteiligen können – wozu
sie aber nach unserem Grundgesetz ein Recht haben und worauf wir auch
zum Gelingen der Demokratie angewiesen sind.

Bench:
Sehr geehrte Frau Prof. Schwan, Sie haben ja einen Blog auf Ihrer
Website und verschicken regelmäßig Newsletter. Werden Sie auch als
Bundespräsidentin weiter über das Netz mit den Bürgern kommunizieren?
Der jetzige Bundespräsident nutzt diese Mittel ja weniger.

Gesine Schwan:
Wenn ich in das Amt käme, würde ich das ganz eindeutig tun. Schon jetzt
ist das für mich ein wichtiges Mittel, in den direkten Austausch mit
den Bürgern zu kommen. Wobei ich insbesondere an den Informationen, die
ich von den Bürgern erhalte, interessiert bin und an ihrer Meinung.
Auch das jetzige Chatten ist ein Teil dieser Kommunikationsweise und
ich meine, dass nicht zuletzt Präsident Obama zeigte, wie wichtig
offene Kommunikation auch durch das Internet ist. Mir gefällt da zum
Beispiel besonders gut, dass Obama über das Internet den Bürgern einen
leichteren Zugang zu Regierungsdokumenten und Gesetzen verschaffen will.

Moderatorin: Spielt das Internet eine spürbar größere Rolle als 2004 im Bundespräsidentenwahlkampf?

Gesine Schwan:
Nein, es gibt keinen Bundespräsidentenwahlkampf, sondern es gibt eine
Kandidatur – damals wie heute – und das Internet spielt heute eine
größere Rolle und die Kandidatur dauert dieses Mal viel länger als
damals. Das ist auch die Voraussetzung für eine intensivere
Internet-Kommunikation.

Ben: Was sind Ihre Hauptziele, wenn Sie zur Bundespräsidentin gewählt würden?

Gesine Schwan:
Ich möchte das Amt nutzen, um Deutschland zu einer besseren Zukunft zu
verhelfen. Ich möchte die Bürger dazu ermutigen, selbst aktiver zu
werden und dadurch auch die Demokratie zu stärken – etwa in
Bürgerinitiativen. Ich möchte für einen Paradigmenwechsel in der
Bildung sorgen, soweit mir das in dem Amt möglich ist. Vor allen Dingen
muss es wirklich gleiche Bildungschancen für alle geben. Ich möchte
öffentliche Debatten stärken, damit wir alle miteinander die
Zusammenhänge besser durchschauen, in denen wir sowohl innerhalb
Deutschlands als auch international leben, die für unsere nächsten
Weichenstellungen wichtig sind. Ich möchte zur Verständigung im Land
und unseres Landes in Europa und in der Welt beitragen.

Micuintus:
Frau Schwan, Sie waren an der Gründung des Seeheimer-Kreises mit
beteiligt und gehören zu dem konservativen Flügel der SPD. Herr Köhler
ist CDU-Mitglied, aber was seine Wertevorstellungen betrifft ist er
sehr liberal. Warum treten Sie für die SPD und Herr Köhler für die CDU
an? Müsste es nicht eher umgekehrt sein?

Gesine Schwan:
Wo Herr Köhler antreten will, das muss er wissen. Meine Werte stehen
über 30 Jahren in der öffentlichen Debatte. Ich habe einmal lachend
gesagt, ich bin eine sozialdemokratisch-liberale Konservative oder eine
konservativ-liberale Sozialdemokratin. Das ist ja gerade der Grund,
warum ich über Parteigrenzen hinweg wählbar bin. Mein Profil ist
durchaus klar und man kann es auch auf meiner Webseite in Bezug auf
meine verschiedenen politischen und anderen Positionen nachlesen.
Liberalität, das wird man dort auch sehen, gehört zu meinen Grundwerten
in der Demokratie.

Moderatorin: Nebenbei haben
wir bei unseren Usern im Chat eine Umfrage gemacht (natürlich nicht
repräsentativ): Hat Gesine Schwan Chancen, Bundespräsidentin zu werden?
46 Prozent sagen ja, 54 Prozent sagen nein. Frau Schwan, möchten Sie
darauf reagieren?

Gesine Schwan: Ich denke, dass die 46 Prozent sich bis zum Mai erheblich erhöht haben werden.

Yabin:
Sehr geehrte Frau Schwan, guten Tag – hier bei mir ist schon Abend. Ich
bin ein chinesischer Germanistikstudent und bin fast ein Schuljahr in
Deutschland als Fremdsprachenassistent geblieben. Ich unterrichtete am
Gymnasium Chinesisch. Was halten Sie denn von dem Austausch unter
jungen Leuten aus verschiedenen Ländern? Und was wollen Sie in Zukunft
zur Freundschaft zwischen den deutschen und ausländischen Studenten
beitragen? Danke!

Gesine Schwan: Davon halte ich natürlich sehr
viel. Als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina habe ich diesen
Austausch intensiv gefördert, der auch in allen Studiengängen
vorgesehen war. Noch mehr Wert möchte ich darauf legen, dass junge
Menschen mehrere Sprachen lernen, damit sie nicht nur für kurze Zeit im
Ausland sind, sondern auch die Kultur im Ausland gut verstehen.

Mitja:
Liebe Frau Schwan, glauben Sie, als Bundespräsidentin hat man die
Aufgabe die Demokratie zu schützen? Wie wollen Sie speziell bei jungen
Leuten für mehr Interesse an der Demokratie und der Politik allgemein
werben?

Gesine Schwan: Ich war gerade gestern an
einer Schule und habe dort zwei Stunden lang mit jungen Menschen
diskutiert. Das war eine überaus lebendige Diskussion. Menschen aus
verschiedenen Ländern kamen da zusammen, die alle vorzüglich Deutsch
sprachen, und ich habe den Eindruck, dass die Bereitschaft bei jungen
Menschen zum Engagement allgemein viel stärker ist, als behauptet wird.


Moderatorin: Eine persönliche Frage zum Schluss:

Der Zuschauer:
Liebe Frau Schwan, die Studierenden an der Viadrina und zuvor auch am
OSI haben stets Ihr großes Temperament geschätzt, mit dem Sie an die
Themen herangegangen sind. Könnte Ihnen genau dieses Temperament in
bestimmten staatstragenden Situationen, in denen Sie sich als
Bundespräsidentin mal befinden können, zum Nachteil oder gar zum
Verhängnis werden? Zurückhaltung ist ja nicht gerade Ihre Stärke.

Gesine Schwan:
Ich weiß nicht, wovon diese Person spricht. Ich bin von den
Studentinnen und Studenten geradezu gefeiert worden bei meinem
Abschied  – und zwar in mehreren Zeremonien. Dasselbe ist mir auch
immer wieder begegnet am Otto-Suhr-Institut. Ich sehe auch keinen
Gegensatz zwischen staatstragend sein und Temperament haben. Das
wichtigste ist, glaube ich, dass man auch Humor in dieses Amt trägt. Da
können wir Deutschland noch eine Menge lernen. In dieser Hinsicht ist
zum Beispiel auch Heinemann ein Vorbild für mich, der einen
hintergründigen Humor hatte. Mit Temperament und Humor ist ein solches
Amt, glaube ich, auch zu führen.

Moderatorin:
Das war eine gute Stunde hier im tagesschau-Chat. Herzlichen Dank,
Gesine Schwan, dass Sie sich Zeit für die Diskussion mit den Lesern von
tagesschau.de und politik-digital.de genommen haben. Ein Dankeschön
auch an unsere User für die vielen interessanten Fragen, die wir leider
nicht alle stellen konnten. Das tagesschau.de-Team wünscht allen noch
einen schönen Tag.

Gesine Schwan: Ich bedanke
mich sehr herzlich für diesen Chat, auch bei Ihnen, Frau Emundts, und
insbesondere bei den vielen Usern, die sich beteiligt haben und mir
sehr viele interessante Fragen gestellt haben, über die ich auch weiter
nachdenken werde.