Am Donnerstag, 29. November, war Markus Breitscheidel, Autor von "Abgezockt und totgepflegt", zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über die Missstände in Altersheimen und prangerte die Passivität der Politik an.
Moderatorin: Herzlich willkommen im tagesschau-Chat!
Heute bei uns hier im ARD-Hauptstadtstudio zu Gast: Markus Breitscheidel.
Der Journalist ist Autor des Bestsellers "Abgezockt und totgepflegt".
In diesem Buch schildert er die teils entsetzlichen Zustände
in Pflege- und Altenheimen, in denen er mehr als ein Jahr lang undercover
gearbeitet und recherchiert hat. Vielen Dank Herr Breitscheidel,
dass Sie sich Zeit genommen haben! Können wir beginnen?
Markus Breitscheidel: Wir können.
Markus Breitscheidel
Investigativer Journalist und Autor
Moderatorin: Folgende Frage hat
die meisten unserer User am meisten interessiert:
Gero: Wie erkenne ich ein gutes Pflegeheim?
Markus Breitscheidel: Wenig Fluktuation unter
den Mitarbeitern und sehr viel Öffentlichkeit, also Zusammenarbeit
mit ehrenamtlichen Besuchsdiensten usw., denn diese Öffentlichkeit
bringt natürlich das Leben und Informanten / Beobachter in
das Heim. Das ist die schwierigste Frage, die man in diesem Bereich
stellen kann, denn es gibt keine Qualitätsmerkmale zur Unterscheidung,
und somit ist es für einen Angehörigen die schwierigste
Aufgabe, ein gutes Heim zu finden.
Karlchen: Wie kommt es denn überhaupt zu
einer Lage, wie in Ihrem Buch beschrieben? Fehlt es "nur"
an Geld, fehlen ausgebildete Fachkräfte, aufmerksame Angehörige…?
Markus Breitscheidel: Es fehlen zunächst
einmal aufmerksame Angehörige, die sich nicht von dem hohen
Pflegepreis blenden lassen und aufmerksam beobachten. Dann fehlt
es an gut ausgebildetem Pflegepersonal und letztendlich ist die
Philosophie der Heimleitung das Wichtigste. Ist diese Philosophie
an Menschen orientiert, dann funktioniert es. Ist sie allerdings
am Kapital orientiert, gibt es meist Probleme.
Nico: Warum wird Ihrer Meinung nach bekannten Missständen
von Seiten der Politik nicht nachgegangen?
Markus Breitscheidel: Ein ehrlicher Umgang mit
diesem Thema würde bedeuten, dass wir mehr Geld in die Pflege
investieren müssten, dass sich die Lohnnebenkosten dadurch
erhöhen würden.
Und Sie finden keinen Politiker, der den Mut hat, in der Öffentlichkeit
eine nochmalige Erhöhung der Lohnnebenkosten zu fordern.
Maria: Warum wehren sich die Pflegekräfte
nicht gegen die Missstände und auch ihre schlechten Arbeitsbedingungen?
Markus Breitscheidel: 87 Prozent der Pflegekräfte
sind Frauen, meist alleinerziehende Mütter, die direkt abhängig
sind von ihrem Arbeitsplatz. Ich habe insgesamt mit Menschen aus
25 Nationen zusammen gearbeitet, deren Aufenthaltsgenehmigung meist
an den Arbeitsplatz gebunden war, und somit fehlte ihnen natürlich
auch der Mut, gegen deutsche Missstände vorzugehen. Letztendlich
ist es die Angst vor dem Verlust der eigenen Existenz.
Moderatorin: Hier die Frage eines "Insiders":
ich25ms: Ich arbeite in einem Heim und kenne die
Missstände, aber was soll ich als Pflegende noch tun – außer
meine private Zeit dafür herzugeben, um mal ein nettes Gespräch
mit dem Bewohner führen zu können (das tue ich täglich
nach meinem Dienst)?
Markus Breitscheidel: Ganz wichtig für Pflegekräfte
ist es, Überlastungsanzeigen zu schreiben und die an die staatliche
Heimaufsicht weiterzuleiten. Tut dies eine Pflegekraft nicht, ist
sie rechtlich für die Pflegebedürftigen verantwortlich
und wird gerichtlich für diese Pflegefehler dann auch belangt.
Zudem würde ich heimintern den Kontakt zum Heimbeirat suchen,
um denen dann meine Sorgen kundzutun. Das wären eigentlich
die wichtigsten Punkte.
Moderatorin: Das war die am dritthäufigsten
gestellte Frage unserer Leser. Nun folgt Platz zwei:
Karlchen: Worauf sollten Angehörige achten,
wenn Verwandte in ein Pflegeheim müssen? Wie kann man reagieren,
wenn man Missstände feststellt, um nicht nur die eigenen Verwandten
zu schützen, sondern alle Bewohner?
Markus Breitscheidel: Zunächst einmal den
Heimbeirat einschalten. Sollte das zu keinem Ergebnis führen,
würde ich den Fall an den medizinischen Dienst der Krankenkasse
oder die staatliche Heimaufsicht melden. Diese sind dann verpflichtet,
das Ganze anonym aufzunehmen und gegen das Heim vorzugehen.
Quarantäne: Was würden Sie nach ihren
Erlebnissen empfehlen: Angehörige lieber zu Hause pflegen,
einen ambulanten Pflegedienst verpflichten oder doch ein Pflegeheim?
konzhel: Kann man eigentlich einen Unterschied
machen zwischen privaten Heimen und solchen von karitativen Organisationen?
Oder gibt es die Probleme überall?
Markus Breitscheidel: Ich bin natürlich
ein Freund davon, einen alten Baum, der Wurzeln geschlagen hat,
nicht mehr umzupflanzen. Das heißt natürlich, so lange
wie es geht, dem pflegebedürftigen Menschen sein Zuhause zu
lassen. Der Unterschied liegt in der Philosophie des Pflegeunternehmers.
Die Wohlfahrtsverbände haben ihre Philosophie am Menschen orientiert,
die Privaten am Gewinn.
konzhel: Betreff: Arbeitsplatz und Arbeitskräfte:
Pennen da die Gewerkschaften total? Man sollte meinen, auch in solchen
Betrieben gibt es ein paar Gewerkschaftler.
Markus Breitscheidel: Zwei Prozent der Pflegekräfte
sind gewerkschaftlich organisiert. Somit fehlt den Gewerkschaften
der Einfluss in den Heimen.
Moderatorin: Warum nur zwei Prozent?
Markus Breitscheidel: Ich denke, aus der Problematik,
die wir eben besprochen haben. 87 Prozent der Pflegekräfte
sind Frauen und intensiv mit den eigenen Problemen im Leben beschäftigt.
Es fehlt die Zeit, sich neben dem zeitintensiven Pflegeberuf auch
noch für die eigenen Rechte zu engagieren.
Jungling: Glauben Sie, dass Patienten in Krankenhäusern
ähnlich schlimm behandelt werden?
Markus Breitscheidel: Nach der Privatisierung der
Altenpflege folgte die Privatisierung der Kranken- und Behindertenpflege.
Seither erreichen mich vermehrt auch Briefe von Pflegepersonal aus
Krankenhäusern und Behindertenheimen.
konzhel: Es gibt ja jetzt eine Reform der Pflegeversicherung.
Was ist ihre Meinung: Hilft die, die Alterspflege zu verbessern?
Markus Breitscheidel: Ich denke, dass diese Reform
ein Pflaster auf den Dekubitus ist und lediglich kurzfristig die
Probleme beheben wird. Nachhaltig fehlt jedoch ein Gesamtkonzept
zum Thema Pflegebedürftigkeit und zum Umgang mit Menschen in
einer Leistungsgesellschaft, die nicht mehr in der Lage sind, zu
leisten.
Moderatorin: Nun ein paar persönliche Fragen:
ttt: Was für Reaktionen gab es aus den Pflegeheimen
auf Ihr Buch? Gab es überhaupt welche?
Markus Breitscheidel: Zwei der Pflegeheime haben
ihr komplettes Führungspersonal ausgetauscht, sind offensiv
mit den Vorwürfen umgegangen, auf mich zugekommen und haben
zugegeben, dass es diese Missstände zu diesem Zeitpunkt gab
und alles getan, um diese für die Zukunft abzuschaffen. Von
den anderen drei Heimbetreibern habe ich bis heute leider nichts
gehört.
Barbara: Wie sind Sie bei Ihren Recherchen mit
den alten Leuten im Heim umgegangen: persönlich oder distanziert?
Markus Breitscheidel: Da die soziale Vernachlässigung
der alten Menschen mich natürlich auch nach dem Dienst beschäftigt
hat, war es für mich schon fast ein zu persönliches Verhältnis.
Die seelische und körperliche Belastung während meines
Einsatzes führte dazu, dass ich 15 Kilo Lebendgewicht verloren
habe.
Der Kontakt zu einigen Angehörigen und Bewohnern steht heute
noch, da ich mich in dieser Zeit intensiv für diese Menschen
eingesetzt habe und alles getan habe, dass sie dieses Heim verlassen
und in eine vernünftige Einrichtung können.
Nico: Hand aufs Herz – hat Sie Ihre Arbeit und
die gewonnenen Erkenntnisse persönlich verändert?
Markus Breitscheidel: Sicherlich haben mich diese
Erfahrungen persönlich verändert, denn ich konnte mir
niemals vorstellen, dass wir in einem reichen Industriestaat so
menschenunwürdig mit pflegebedürftigen Menschen umgehen.
Es hat bis heute noch Auswirkungen auf mein Leben, besonders im
Bezug auf Paragraph 1 Grundgesetz – "Die Würde des Menschen
ist unantastbar."
Kastanie: Was würden Sie persönlich
tun, wenn Ihre Eltern oder andere Verwandte pflegebedürftig
sind?
Markus Breitscheidel: Ich würde alle meine
Kraft dafür einsetzen, dass sie zu Hause bis zu ihrem Tode
versorgt werden. Bis vor einer Woche, also bis zum Tod meiner 91-jährigen
Großmutter, konnte ich ihr zum Glück eine menschenwürdige
Pflege bis zur letzten Sekunde ihres Lebens zukommen lassen.
Martha: Was müsste sofort zur Verbesserung
der Pflegeprobleme getan werden?
Markus Breitscheidel: Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche
Diskussion über die Thematik der Pflege. Doch da diese Thematik
Pflege und Tod von uns Menschen verdrängt wird, halte ich es
für äußerst schwierig, dass sich eine Mehrheit der
Gesellschaft Gedanken darüber macht, was mit ihnen passieren
soll, wenn sie pflegebedürftig werden. Ich betrachte dies allerdings
als Grundvoraussetzung, um ein nachhaltiges System für die
Zukunft zu schaffen. Ich bin überzeugt davon, dass auf Grund
der demographischen Entwicklung wir diese Problematik mit Geld allein
nicht lösen werden.
Maria: Würden Sie nicht auch sagen, dass diese
schrecklichen Missstände mit dem Werteverlust in unserer Gesellschaft
zusammenhängen und also dort eine Veränderung eintreten
muss?
Markus Breitscheidel: Ich denke, mit dem Satz,
dass wir diese Problematik mit Geld allein nicht lösen werden,
ist für mich diese Frage schon nahezu beantwortet. Denn ich
bin überzeugt davon, dass unsere Gesellschaft sich zu intensiv
mit dem Kapital und dessen Mehrung beschäftigt und immer weniger
mit dem Wohl der Menschen.
nereide: Was kann oder muss die Politik denn unternehmen?
Muss es regelmäßige Überprüfungen für
alle Heime geben?
Markus Breitscheidel: Zunächst einmal benötigen
wir einheitliche Qualitätsmerkmale, so dass es für Angehörige
auch möglich ist, einen Unterschied von außen zu erkennen.
Weiterhin halte ich es für unabdingbar, dass sämtliche
Kontrollen unangemeldet durchgeführt werden und die Prüfergebnisse
dann auch wie in anderen Ländern veröffentlicht werden.
thomas esch: Halten Sie staatlich geführte
Altenpflege für sinnvoller?
Markus Breitscheidel: Gemäß dem Grundgesetz
hat der Staat die Verpflichtung, diese Aufgabe zu übernehmen.
Durch die Privatisierung hat er sich mehr und mehr von dieser Verantwortung
verabschiedet. Ich halte es allerdings für unabdingbar, dass
der Staat in einer Leistungsgesellschaft sich um die verdienten
Menschen kümmert, die ihre Leistung erbracht haben und dann
irgendwann nicht mehr in der Lage sind, zu leisten.
ich25ms: Ist ein "Betreutes Wohnen“,
also eine Senioren-WG, eine Alternative?
Markus Breitscheidel: Die Konzepte für die
Altenpflege müssen für die Stadt-, aber auch für
die Landbevölkerung verschiedenartig entwickelt werden. Die
Alten-WG ist mehr ein Konzept für die Stadt, da die Menschen
hier in ihrem Denken nicht so konservativ sind wie die Dorfbevölkerung.
Für die Menschen auf dem Land benötigen wir ein intensives
Netz der sozialen Betreuung für die Pflege zu Hause.
specator: Was raten Sie den Familien, die quasi
illegal Pflegerinnen (meist aus dem Ausland) beschäftigen?
Ist das nicht auch Ausbeutung?
Markus Breitscheidel: Ich bin der festen Meinung,
dass man einer Arbeitskraft, egal aus welchem Lande dieser Welt
sie kommt, nicht zumuten darf, für eine Arbeit, die 24 Stunden
am Tag beansprucht, mit 800-1000 Euro pro Monat abzuspeisen.
Allerdings ergeben sich aus den geringen Renten, die gerade pflegebedürftige
Frauen erhalten, meist keine andere Möglichkeit der Finanzierung,
so dass auch hier die Politik gefragt ist, um diese illegalen Pflegekräfte
in die Legalität zu führen.
Tom Bom: Ich finde Ihre Vorschläge gut, doch
die Finanzierung ist mir schleierhaft – Lohnnebenkosten hin oder
her, gibt es noch alternative Finanzierungswege?
Markus Breitscheidel: Ich halte die neun Prozent
Kirchensteuer, die für Kirchenmitglieder erhoben werden – die
allerdings für Menschen, die denken, sich den Glauben nicht
mehr leisten zu können und austreten, nicht mehr anfallen –
für eine Finanzierungsmöglichkeit. Man könnte einen
Sozialfonds gründen, in den dann Menschen, die aus der Kirche
ausgetreten sind, diese neun Prozent einzahlen.
bxta: Laut Studien wird die Überalterung in
Deutschland sich schon sehr bald drastisch auswirken. Können
so viele Menschen überhaupt noch vernünftig gepflegt werden?
Markus Breitscheidel: Ohne einen enormen ehrenamtlichen
Einsatz der gesamten Gesellschaft wird dies in Zukunft unmöglich
sein. Es sei denn, wir können uns damit abfinden, irgendwann
von einem Pflegeroboter gepflegt zu werden.
paul-armin: Gibt es momentan Ihrer Meinung nach
eine Partei, die sich besser für alte Menschen einsetzen würde
(Nicht unbedingt die Grauen Panther…)?
Markus Breitscheidel: Es fällt mir nicht
eine Partei ein, die ein ernsthaftes Engagement in dieser Richtung
betreibt.
promenz: Welche Politiker wissen von ihren Erkenntnissen?
Markus Breitscheidel: Nahezu alle Politiker, die
sich in den verschiedenen Parteien mit der Thematik Pflege befassen.
Ich versuche allerdings seit mehr als zwei Jahren, diese Menschen
für das Thema zu interessieren und muss feststellen, dass das
Engagement der Politik für diesen Bereich nahezu gegen Null
tendiert.
Kastanie: Aus welchem Anlass haben Sie damals eigentlich
Ihre Recherche gestartet? Haben Sie mit derartig schockierenden
Ergebnissen gerechnet?
Markus Breitscheidel: Der Anlass waren Berichte
in TV- und Printmedien über Missstände und Unterversorgung
in Pflegeheimen. Ich konnte mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen,
dass man in unserem Land so mit Menschen umgeht.
trecker: Es muss Angehörigen doch auffallen,
wenn Ihre Verwandten in Pflegeheimen misshandelt oder vernachlässigt
werden. Warum unternehmen die nichts oder nur wenig?
Markus Breitscheidel: Das Thema "Besuch der
Angehörigen" wird meiner Erachtens in der Öffentlichkeit
überschätzt. Wir leben heute in einer Gesellschaft, wo
jeder flexibel dem Arbeitsplatz nachreisen muss und Familien verstreut
über ganz Deutschland leben. Somit beschränkt sich der
Besuch meist auf die Feiertage, und hier fehlt dann die Zeit, Missstände
zu erkennen und ihnen dann auch intensiv nachzugehen.
Maria: Gibt es denn genug Personal, all die nötigen
Heimüberprüfungen durchzuführen?
Markus Breitscheidel: Da die staatliche Heimaufsicht
eine Kommunalbehörde ist, hängt die personelle Besetzung
natürlich direkt mit der finanziellen Situation zusammen. Hat
man also das Glück, dass die Kommune eine der wenigen in Deutschland
ist, die finanziell noch gut ausgestattet ist, steht genügend
Personal zur Verfügung. In den meisten Städten wird auch
hier intensiv beim Personal gespart.
Maria: Was glauben Sie, woran dieses Desinteresse
liegt? Jeder Politiker weiß doch, dass er morgen auch alt
und pflegebedürftig sein kann. Ist das nur Verdrängung
und Hilflosigkeit, oder stehen da andere Interessen im Vordergrund?
Markus Breitscheidel: In erster Linie denke ich,
dass das Thema Verdrängung im Vordergrund steht. Und in zweiter
Linie, dass sich ein Politiker bei der Absicherung im Alter keine
größeren Gedanken machen muss, nicht menschenwürdig
versorgt zu werden.
ludewig: Gibt es Ihres Wissens Länder, in
denen die Altenpflege sehr gut funktioniert?
Markus Breitscheidel: Das Vorzeigeland weltweit
ist für mich Dänemark, das 1989 beschlossen hat, keine
neuen Heime mehr zu bauen und die Heime sukzessive abzuschaffen.
Dieses Konzept wurde äußerst erfolgreich umgesetzt und
erlaubt Dänemark heute den Luxus, die Menschen zu Hause versorgen
zu können. Finanziert wird das Ganze aus den gesparten Investitionen
für den Bau der Altenheime.
Blume: Gibt es regionale Kriterien für Heime?
Also sind durchschnittlich z.B. Heime im reichen Süden besser
als in Rostock?
Markus Breitscheidel: Es gibt regionale Unterschiede,
ich sehe sie allerdings jetzt nicht festgehalten an einer Nord-Süd-Problematik,
sondern eher in der Versorgung der Menschen auf dem Land im Unterschied
zur Stadt. Da auf dem Land der Besuch der Angehörigen und Freunde
viel intensiver ist als in der Stadt, sind die Missstände dementsprechend
weniger gravierend.
klasssss: Wie wird das in Dänemark gemacht?
Die Pfleger kommen nach Hause?
Markus Breitscheidel: Man hat in Dänemark
das Konzept einer so genannten Tagespflegestätte entwickelt.
Es ist im Vergleich zu Deutschland wie eine Kindertagesstätte
organisiert und entlastet damit die Menschen zu Hause. Man kann
den Pflegebedürftigen morgens um 6 Uhr von einem Fahrdienst
abholen lassen, er wird dann in einer Tagesstätte von professionellem
Pflegepersonal versorgt und gegen 19 Uhr wieder nach Hause gebracht.
Somit hat man die physisch wie psychisch anstrengende Arbeit der
Pflege zu Hause endgültig mal entlastet – eine Thematik, die
hier in Deutschland noch gar nicht besprochen wurde.
promenz: Ich weiß, Sie haben nicht alle Heime
gesehen, aber ungefähr: In wieviel Prozent herrschen schlechte
Verhältnisse?
Markus Breitscheidel: Laut des letzten Prüfberichtes
der staatlichen Heimaufsicht, wobei hier alle Überprüfungen
vorher angemeldet wurden, herrscht in über 30 Prozent der Heime
gefährliche Pflege. Das bedeutet, knapp 200.000 pflegebedürftige
Menschen sind tagtäglich unterversorgt.
demaim: Was sollte es Ihrer Meinung nach für
Prüfungen und Qualitätskriterien geben, die ein Heim erfüllen
muss, bevor es überhaupt öffnen darf?
Markus Breitscheidel: Es gibt bis heute keine Kriterien,
die festlegen, welcher Unternehmer ein Heim eröffnen kann oder
darf. Es ist also jedem erlaubt, Altenheime zu eröffnen und
ein Geschäft mit der Pflegebedürftigkeit zu betreiben.
Ich denke, es ist unabdingbar und wichtig, solche Kriterien aufzustellen.
Moderatorin: Wie sollten die aussehen?
Markus Breitscheidel: Ich denke, dass es unbedingt
notwendig ist, dass der Heimunternehmer zumindest eine Ausbildung
im sozialen Bereich hat und nachweisen kann, in der Pflege mal gearbeitet
zu haben. Zudem ist es unabdingbar, auch Kriterien für die
Philosophie zum Betreiben eines Heimes zu entwickeln.
Maria: Wer sollte diese Kriterien aufstellen?
Markus Breitscheidel: Es gibt den so genannten
"Deutschen Pflegerat", der zusammengesetzt ist mit den
wenigen Pflegeexperten, die wir in unserem Land haben. Ich denke,
dass hier genügend Kompetenz vorliegt, um solche Kriterien
aufzustellen.
Pfisterer: Was haben Sie für Erfahrungen gemacht,
wie die alten Leute auf die schlechte Pflege reagieren? Nehmen die
es zwangsläufig hin oder wehren sich auch manche?
Markus Breitscheidel: Wir haben es heute noch
mit pflegebedürftigen alten Menschen zu tun, die noch eine
gewisse Obrigkeit anerkennen. Ich habe bei vielen alten Menschen
festgestellt, dass sie nicht den Mut haben, ihre Unzufriedenheit
gegenüber Menschen in weißen Kitteln zu äußern.
Selbst gegenüber Angehörigen sind sie in dem Konflikt,
dass sie sich stetig vorwerfen lassen müssen, dass die Pflegekosten
monatlich höher sind als eine Hotelunterbringung und man sich
mit den Verhältnissen doch zufrieden geben sollte.
Moderatorin: Wir erhalten gerade das Ergebnis
unserer Umfrage: 58 Prozent unserer User würden ihre Verwandten
nicht in einem Pflegeheim betreuen lassen; 41 Prozent würden
es tun. Herr Breitscheidel, wundern Sie diese Zahlen?
Markus Breitscheidel: Ja, diese Zahl 58 Prozent
wundert mich schon, da ich sehr viele Erhebungen über diese
Thematik gelesen habe, die nahezu immer bei 90 Prozent lagen. Selbst
ein Versuch von mir, auf Altenpflegeschulen zuzugehen und eine Arbeit
unter dem Titel "I have a Dream – Wie stelle ich mir die Altenpflege
in der Zukunft vor" hat erbracht, dass von 150 Aufsätzen
nicht eine der Pflegekräfte das Heim bevorzugt hat. Ergänzend
dazu eine Umfrage der Malteser, die ihre Pflegekräfte befragt
haben, ob sie sich vorstellen könnten, in einem Heim der Malteser
in Zukunft gepflegt zu werden. Hier haben überraschenderweise
75 Prozent des Personals es sich nicht vorstellen können.
Ventura: Wie sorgen Sie persönlich vor, dass
sie später nicht in ein Heim geraten, wo Sie menschenunwürdig
behandelt werden?
Markus Breitscheidel: Es gibt in unserem Land
die Möglichkeit, in Form einer Vorsorgevollmacht festzuhalten,
wie man sich die eigene Pflege vorstellt. Dies habe ich bereits
mit 38 Jahren ausgefüllt und erledigt. Somit ist sichergestellt,
dass meine Wünsche dann auch erfüllt werden und ich bis
zum Ende meines Lebens ein selbstbestimmtes Leben führen kann.
Maria: Was kann ich jetzt nach diesem Chat aktiv
tun, um etwas für die Pflege zu bewegen?
Markus Breitscheidel: Sich ehrenamtlich engagieren,
sei es bei einem Besuchsdienst, sei es bei einem Vorlesedienst.
Seien sie sich sicher, dass ihr Einsatz unbedingt benötigt
wird.
Moderatorin: Das war es auch schon wieder, 60
Minuten tagesschau-Chat sind rum. Vielen Dank, liebe Leser, für
Ihr Interesse und für Ihre Fragen. Herr Breitscheidel, möchten
Sie noch ein letztes Wort an unsere User richten?
Markus Breitscheidel: Vielen Dank für das
Interesse und alles Gute für die Zukunft.
Moderatorin: Vielen Dank auch Ihnen, Herr Breitscheidel!
Einen schönen Tag Ihnen und unseren Lesern wünscht Ihnen
tagesschau.de! Diesen Chat können Sie in Kürze auf unserer
Seite nachlesen – allerdings ausnahmsweise ohne Fotos: Herr Breischeidel
recherchiert derzeit inkognito für sein nächstes Buch.
Erscheinen soll es im September 2008.