Am Mittwoch, 27. Februar, war der ARD-Rechtsexperte Karl-Dieter Möller zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Bundestrojaner und über die rechtlichen Folgen des Urteils.

Moderator: Herzlich willkommen im tagesschau-Chat. Das Bundesverfassungsgericht hat heute sein Urteil zur Online-Durchsuchung gefällt. Die entsprechenden Vorschriften im Verfassungsschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen wurden für nichtig erklärt. Zugleich erlaubt das Gericht unter bestimmten Bedingungen den Einsatz von Bundestrojanern. Einordnung und Aufklärung über das Urteil kann uns der ARD-Rechtsexperte Karl-Dieter Möller geben, der direkt aus Karlsruhe Ihre Fragen beantwortet. Herzlichen Gruß und Dank nach Karlsruhe, Herr Möller, dass Sie sich Zeit für die Diskussion nehmen und Frage nach Baden: Können wir beginnen?

Karl-Dieter Möller: Ja.

 

Karl-Dieter Möller
Karl-Dieter Möller,
ARD-Rechtsexperte

 

furtf: Welche Grundrechte sahen die Verfassungsrichter durch das vorgelegte Gesetz verletzt?

Karl-Dieter Möller: Die Verfassungsrichter sahen Artikel 10, das Fernmeldegeheimnis, und Artikel 13, die Unverletzlichkeit der Wohnung, sowie Artikel 2, das Persönlichkeitsrecht, verletzt. Aber bei der sich rasant entwickelnden Technik sahen die Verfassungsrichter eine verfassungsrechtliche Lücke, die es zu schließen galt. Deshalb haben sie ein neues Grundrecht aus der Taufe gehoben: Ein Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Salopp formuliert meinen die Richter damit: Die persönlichen Daten auf einem PC gehören dem Bürger grundsätzlich selber.

Grundrecht weiterentwickelt

studiosus: Ist die Bezeichnung des Urteils aus ihrer Sicht in Bezug auf die Entwicklung des neuen Grundrechts mit Recht als "historisch" zu bezeichnen?

Karl-Dieter Möller: Kurz und bündig: Ja. 1983 hat das Bundesverfassungsgericht das informationelle Selbstbestimmungsrecht aus der Taufe gehoben. Jetzt, 25 Jahre später, hat es dieses Grundrecht weiterentwickelt und dem technischen Fortschritt angepasst.

jr: Wer darf sich denn nun freuen? Die Datenschützer, die die Grundrechte gestärkt sehen, oder Innenminister Schäuble, der ja im Prinzip grünes Licht gekriegt hat?

Karl-Dieter Möller: Beide. Sowohl die Datenschützer als auch der Bundesinnenminister können aus diesem Urteil "Honig saugen". Der Grund: Massenhafte Onlinedurchsuchungen dürfen jetzt im Vorfeld nicht mehr stattfinden. Dem Bundesinnenminister aber ist durch das Urteil zugestanden worden, unter strengen Auflagen in ganz bestimmten Fällen Computer anzuzapfen.

Bedingungen für Online-Durchsuchungen

Ihr Benutzername: Welche Daten dürfen denn nun unter welchen Umständen ausspioniert werden?

Karl-Dieter Möller: Die Verfassungsrichter haben folgende Vorgaben für einen heimlichen Zugriff gemacht: 1. Bei konkreten Gefahren für Leib, Leben oder Gesundheit. Das heißt: Bei Mord, Erpressung oder Terroranschlägen dürfen heimliche Zugriffe erfolgen. Nicht mehr bei einfacher Kriminalität, z.B. Zigarettenschmuggel, Autodiebstahl oder Steuerhinterziehung. Wichtig ist vor allem, dass die Verfassungsrichter vor jedem heimlichen Zugriff wollen, dass ein Richter diesen Zugriff genehmigt. Also muss in ein neues Gesetz immer ein Richtervorbehalt.<

kleinermaulwurf: Ist in Anbetracht der hohen Einstiegshürden in diese Maßnahme sowohl rechtlich als auch technisch eine verschwindend geringes Vorkommen zu erwarten? Ähnlich dem großen Lauschangriff?

Karl-Dieter Möller: Bei den vom Verfassungsgericht genannten Hürden könnten heimliche Zugriffe sicher öfter vorkommen als beim großen Lauschangriff. Dies hat vor allem einen Grund: Die Verfassungsrichter haben auf die Kritik der Praktiker an ihrem Urteil zum großen Lauschangriff reagiert. Zwar bleibt es dabei, dass der Kernbereich der Privatsphäre auch nach diesem Urteil gewahrt bleiben muss. Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in ihn nicht rechtfertigen. Sollten aber bei einer heimlichen Überwachung doch private Dinge mit dabei sein, so müssen sie erst im Nachhinein sofort gelöscht werden. Die heimliche Durchsuchung muss deshalb nicht sofort
abgebrochen werden.

Moderator: Wir bekommen sehr, sehr viele Fragen mit Blick nach vorn zum Urteil zur Vorratsdatenspeicherung. Bevor noch mehr kommen, drei stellvertretend für viele zum diesem Thema:

blue*: Lässt sich aus dieser Entscheidung schon eine Richtung für die Klagen gegen die Vorratsdatenspeicherung ablesen?

muzzze: Ist diese Entscheidung aus Karlsruhe als ein Vorbote für das noch ausstehende Urteil zur Vorratsdatenspeicherung hinsichtlich datenschutzrechtlicher Aspekte zu verstehen?

datten: Hat sich das Verfassungsgericht auch zur Frage der sechsmonatigen Speicherung von Daten geäußert?

Karl-Dieter Möller: Zu Frage 1: Wohl eher nicht, weil es hier vor allem um zeitliche Datenspeicherung geht. Aber die Entscheidung dazu wird möglicherweise schon Ende März fallen.

Zu Frage 2: Nein. Frage 3 ist durch meine Antwort zu Frage 1 beantwortet, hoffe ich.

SeL: Könnte das neue Grundrecht auch einen Schutz gegen vorschnelles oder zu langes Konfiszieren von Hardware bei "klassischen" Durchsuchungen dienen?

Karl-Dieter Möller: Nein. Die "klassischen" Durchsuchungen sind strafprozessual und verfassungsrechtlich abgeklärt. Erst in den letzten Monaten hat sich das Verfassungsgericht zu den "klassischen" Durchsuchungen geäußert und sie in mehreren Fällen für verfassungswidrig erklärt.

hola: Welche "Richterebene" ist nun für die zuständige Durchsuchung zuständig? Ein "normaler" Amtsrichter oder ein höher gestellter?

Karl-Dieter Möller: Für die Durchsuchung ist der zuständige Amtsrichter verantwortlich, in dessen Amtsgerichtsbezirk die Durchsuchung durchgeführt werden soll. Bei Fragen des Terrorismus oder der inneren Sicherheit ist die Bundesanwaltschaft zuständig. Sie müsste beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs einen Antrag auf Online-Durchsuchung
stellen.

Informationspflicht gegenüber Betroffenen

leser: Hat das Bundesverfassungsgericht darüber eine Aussage gemacht, ob die Betroffenen im Nachhinein informiert werden müssen?

M Siegfried: Werden die Durchsuchten nach Abschluss der Durchsuchung über die Durchsuchung informiert?

Karl-Dieter Möller: Ja. Die Bundesverfassungsrichter fordern auch hier nach Abschluss der Maßnahmen eine Informationspflicht. Eine Benachrichtigung des Betroffenen erfolgt dann, sobald eine Gefährdung ausgeschlossen werden kann. Auf diese Weise wird dem Betroffenen weitgehend ermöglicht, seine Interessen zumindest im Nachhinein zu verfolgen.

Muh: Im Urteil selbst war immer die Rede von "Personalcomputern". Gilt das neue Grundrecht ebenfalls für moderne Mobiltelefone u.ä.?

Karl-Dieter Möller: Ja. Es gilt nicht nur für PCs, sondern auch für Mobiltelefone oder z.B. technische Einrichtungen in Kraftfahrzeugen, die es ermöglichen, ein Bewegungsprofil des Autofahrers zu erstellen.

Moderator: Kleine Rechtsberatung:

bazzz: Sehr geehrter Herr Möller, mache ich, ein Softwareentwickler, mich strafbar, wenn ich Informationen veröffentliche (bzw. Software zur Verfügung stelle), wie der so genannte "Bundestrojaner" entdeckt und entfernt werden kann?

Karl-Dieter Möller: Juristen antworten auf diese Frage immer "Es kommt darauf an." Nämlich was es für eine Software ist, welchen Zweck sie genau erfüllen soll. Die Verfassungsrichter haben Sicherungssysteme für die Computer durchaus akzeptiert. Ob Ihre Software allerdings vom Strafrecht umfasst wird, vermag ich ohne genaue Kenntnis nicht zu sagen.

PolWiss_21: Ist eine Kontrollinstanz eingerichtet, die die sofortige Vernichtung von zu Unrecht erhobenen Überwachungsdaten auch ernsthaft kontrolliert oder wird dies
erneut den Überwachungsbehörden selbst überlassen?

Karl-Dieter Möller: Wer die Daten löscht, muss der Gesetzgeber festlegen. Aber durch den Richtervorbehalt ist es jedem Betroffenen ja möglich, nach der Information über die Überwachung diese gerichtlich im Nachhinein überprüfen zu lassen. Dabei kann natürlich auch das Argument, "intime Daten" seien gespeichert und nicht gelöscht worden, überprüft werden.

Einfluss auf andere Rechtsfragen

wolfgang: Das "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme" wurde im Rahmen der Online-Durchsuchung von den Richtern entwickelt. Ist zu erwarten, dass dieses Grundrecht auch Einfluss auf andere aktuelle Rechtsfragen hat, ähnlich dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung im
Volkszählungsurteil (Einfluss auf das Bundesdatenschutzgesetz)? Wenn ja, welche könnten Sie sich vorstellen?

Karl-Dieter Möller: Das heute entwickelte neue Grundrecht ist die Fortführung des Urteils zur informationellen Selbstbestimmung aus dem Jahre 1983. Die Verfassungsrichter haben mit ihrem heutigen Urteil dieses Recht in unser neues technisches Zeitalter "katapultiert". Sie haben in ihrem Urteil sehr viel Mühe auf die technischen Neuerungen und die verfassungsrechtlichen Antworten darauf verwendet. Ich bin sicher, dass das heutige Urteil auf das Bundesdatenschutzgesetz Einfluss haben wird.

marc: In welcher Größenordnung erwarten Sie Online-Durchsuchungen im vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Rahmen?

Karl-Dieter Möller: Diese Frage kann man eigentlich erst beantworten, wenn ein neues Gesetz vorliegt. Ich nehme aber an, dass viele heimliche Online-Durchsuchungen jetzt schon im Vorfeld abgeblockt werden, wenn Richter ihr Amt bei der Prüfung eines Antrages auf eine Online-Durchsuchung ernst nehmen.

Moderator: Eine der Top-Fragen aus unserem "Warteraum", in dem bereits vor dem Chat Fragen gestellt werden können:

Vertrauen in Staat nötig

bluescript: Was verbleibt noch vom so genannten absolut geschützten Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung, wenn durch die Eindringtiefe von Maßnahmen wie der Online-Durchsuchung oder auch der akustischen Wohnraumüberwachung seine Anwendbarkeit erst nach einer erfolgten Verletzung festgestellt werden kann? Welchen Sinn hat vor diesem Hintergrund ein als Abwehrrecht gegenüber dem Staat konzipierter "absoluter Schutz", wenn er gerade von diesem auf einfachen Verdacht hin gebrochen werden kann?

Karl-Dieter Möller: Ich gebe zu, es ist auch ein Stück Vertrauen in unseren Staat oder in unsere staatlichen Institutionen, dass sichergestellt wird, dass Daten mit Kernbereichsbezug, wie die Verfassungsrichter in ihrem Urteil sagen, nicht erhoben werden. Die Richter haben den Staat aufgefordert, für hinreichenden Schutz in der Auswertungsphase zu sorgen. Daten aus dem Kernbereich des Menschen müssen unverzüglich gelöscht und ihre Verwertung ausgeschlossen werden, so die Richter. Was vielleicht tröstet: Dies alles kann ja im Nachhinein richterlich überprüft werden.

Moderator: An dieser Stelle endet leider unser Chat bereits nach 45 Minuten. Herr Möller ist wie immer bei Urteilen des Verfassungsgerichts ein gefragter Mann in der Berichterstattung. Herzlichen Dank an alle Leser und Fragenden für Ihr Interesse und herzlichen Dank nach Karlsruhe – auch an die unterstützenden Kolleginnen und Kollegen dort! Ihr Schlusswort, Herr Möller?

Karl-Dieter Möller: Es hat mir Freude gemacht, mit den Teilnehmern zu chatten. Ich hoffe, dass ich mit meinen Antworten die Teilnehmer zufrieden stellen konnte. Mit vielen Grüßen aus der Residenz des Rechts, Karl-Dieter Möller.

Moderator: Der nächste bereits fest eingeplante Chat ist am Dienstag, 4. März ab 13 Uhr. Dann stellt sich die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt Ihren Fragen rund um Gesundheitspolitik, Pflegeversicherung und der Gesundheitsreform. Einen schönen Tag noch wünscht das tagesschau.de-Chat-Team.