Günther Beckstein
(CSU) im europathemen-Chat am 19.05.2004


Moderator: Herzlich willkommen im Europathemen-Chat.
Europathemen ist das Internetangebot der Bundeszentrale für politische
Bildung zur Europawahl. Es wird in Zusammenarbeit mit ARTE Multimedia
und www.netzeitung.de am Zentrum für Medien und Interaktivität
der Universität Gießen erstellt. Wir begrüßen
unseren heutigen Gast Dr. Dr. Günther Beckstein (CSU), Bayerns
Innenminister. Herr Beckstein chattet aus München, die Moderatoren
und Übersetzer in Berlin. Wir haben bis 15.30 Uhr Zeit – kann es
losgehen, Herr Beckstein?

Günther Beckstein, Bayerns InnenministerGünther
Beckstein:
Ja.

Moderator: Erste Frage:

holger: Was war Ihre erste europabezogene Amtshandlung
nach der EU-Ost-Erweiterung am 1. Mai?

Günther Beckstein: Zu überprüfen, ob
die Durchführung der Grenzkontrollen nach Wegfall der Zollkontrollen
ordnungsgemäß vonstatten geht. Dies wurde mir am Vormittag
des 1. Mai bestätigt. Wir hatten einige hundert Bereitschaftspolizisten
zur Verstärkung an die Grenze geschickt.

Moderator: Weitere Frage:

regina: Was haben Sie am 1. Mai gemacht?

Günther Beckstein: Ich war bei den Zuwanderungsverhandlungen
des Vermittlungsausschusses in Berlin …Erfolgsquote wie beim Hornberger
Schießen.

Hiwi: …um was zu kontrollieren?

Günther Beckstein: Alle Personen, die von der
Tschechischen Republik nach Deutschland einreisen, sind vollständig
zu kontrollieren, da die EU-Beitrittsländer noch nicht Freizügigkeit
ohne Grenzkontrollen haben.

Dorothea Scholz: Herr Beckstein, was spricht gegen
eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU?

Günther Beckstein: Die Türkei ist geographisch
im überwiegenden Teil zu Klein-Asien gehörig.

BEOBCHTER: Sind die Türken keine "Europäer"?
Geographisch gehört doch ein Teil zu Europa!

Günther Beckstein: Nachbarländer sind Syrien,
Iran, Irak und Armenien. Wir sind froh, diese Länder nicht als
unmittelbare Nachbarn zu haben, so lange die politischen Spannungen
so hoch sind.

Moderator: Was sollte die EU zum Abbau der Spannungen
beitragen?

Günther Beckstein: Außerdem ist die Türkei
wegen ihrer Größe und Geschichte in überschaubarer Zeit
nicht in die EU voll zu integrieren. Wir wollen aber eine privilegierte
Partnerschaft um die Türkei näher an Europa heranzuführen.
zu beobachter: Wenn die Türkei nur aus Istanbul und aus der türkischen
Riviera um Antalya bestünde, wäre die Mitgliedschaft kein
Problem. Aber Ostanatolien ist schwerlich Teil der europäischen
Kultur.
zu moderator: Ich sehe wenig Möglichkeiten, dass die EU im Nahen
Osten entscheidende Hilfe zur Stabilisierung geben kann. Weder im Irak
noch im Iran, selbst nicht in Israel reichen die Möglichkeiten
der EU für entscheidende Unterstützung.

isabel: Wie kann man sich eine privilegierte Partnerschaft
mit der Türkei vorstellen? Die Türkei öffnet ihre Grenzen,
übernimmt Regelungen aus der EU, hat als Partner aber kein Stimmrecht?

europo: Was heißt privilegierte Partnerschaft?

Günther Beckstein: Eine Verbesserung des Status
der Türkei über die Assoziierung hinaus bis hin zur vollständigen
Zollfreiheit, erleichterte Reisemöglichkeiten für Verwandtenbesuche,
Übernahme bestimmter Rechtsgebiete, aber in der Tat nicht volles
Stimmrecht zu allen Angelegenheiten der übrigen Union.

Dorothea Scholz: Welche Rolle spielt dabei der Unterschied
"christliche Werte" vs. "muslimische Werte"?

Günther Beckstein: zu dorothea: Sicher ist die
EU nicht ein "Christenclub", aber die unterschiedliche Geschichte
hat erhebliche Auswirkungen, zum Beispiel hinsichtlich der Beachtung
der Menschenrechte wie Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Frau
und Rechte ethnischer Minderheiten, wie der Kurden.

lehrer1000: Wenn die Türkei 2015 Vollmitglied
der EU werden sollte, welche Reformen würden Sie für diesen
Staat vorschreiben?

Günther Beckstein: Die Kopenhagener Kriterien
schreiben vor, dass Beachtung der Menschenrechte, vollständige
demokratische Strukturen ohne beherrschenden Einfluss des Militärs
und wirtschaftliche Kompatibilität schon bei Aufnahme der Verhandlungen
vorliegen müssen. Bei einer Vollmitgliedschaft ist grundsätzlich
der gesamte Rechtsbestand der Europäischen Union zu übernehmen
– vom Wettbewerbsrecht bis hin zum Umweltschutz.

Moderator: Nachfrage von hiwi:

hiwi: Nach diesen Kriterien wäre Spanien auch
nicht integrierbar gewesen.

Günther Beckstein: zu hiwi: Den Einwand halte
ich nicht für berechtigt. Die Franco-Diktatur lag etliche Jahre
zurück, die wirtschaftliche Situation lag viel näher am EU-Durchschnitt
als die Türkei, und schließlich ist Spanien unzweifelhaft
ein Teil Europas – und zwar zweifellos mit dem gesamten Staatsgebiet.

Moderator: Kritik von einem User:

Rheuma-Kai: Ist das geographische Argument nicht scheinheilig?
Dient es nicht nur dazu, die "Lufthoheit über den Stammtischen"
mit diesem sehr emotionalen Thema zu kaschieren?

Günther Beckstein: Ich glaube, dass die EU mit
der Bewältigung der Ost-Erweiterung und der schon sicheren Erweiterung
um Rumänien und Bulgarien größte Herausforderungen zu
bewältigen hat und damit die Erweiterung um die Türkei in
überschaubarer Zeit nicht im Interesse Deutschlands liegt.

Helene Falkenstein: Ja, schönen guten Tag. Herr
Beckstein, das mulmige Gefühl bei einem möglichen Beitritt
der Türkei zur EU kann ich durchaus nachvollziehen. Aber ist es
ein mulmiges Gefühl bei Ihnen, das sich konkret auf die EU bezieht
oder auf weitere Beitrittskandidaten überhaupt? Wie sehen Sie die
EU in Zukunft, was ist Ihre Vision und wie sehen Sie Chancen der Ukraine
oder Albaniens zur EU? Zumindest auf Gründen der Stabilisierung
der Region (wie seinerzeit bei Griechenland) spräche ja einiges
dafür.

Günther Beckstein: Eine Erweiterung der EU bezüglich
Kroatiens und späterer weiterer Balkanstaaten wird zu erwägen
sein, ein Beitritt der Ukraine oder auch Russlands (wie Berlusconi vorschlägt)
ist aber nach meiner Überzeugung nicht sinnvoll. Auch für
die Ukraine sollte eine privilegierte Partnerschaft erwogen werden.

übersetzt aus franz.: Adélaide: Herr
Beckstein, Sie sind sicher gegen die Integration der Türkei in
die EU. Aus kulturellen, geographischen, aber vor allen Dingen aus Gründen
der Sicherheit. Glauben Sie nicht, dass es besser wäre, die Türken
und ihre Werte zu integrieren als sie auszuschließen?

Günther Beckstein: Aus Gründen der Sicherheit
muss die Türkei näher an Europa herangeführt werden.
Aber eine Vollmitgliedschaft mit größerer Bedeutung als Frankreich
wäre für die Europäische Union nicht verkraftbar.

Moderator: Zwei Fragen – ein Thema: Sicherheit

tiger: Ist der Betritt der Türkei zur EU nicht
die beste Antwort auf islamistischen Terror? Wer ein Islamisches Land
integrieren kann, entzieht fanatischen Fundamentalisten die Basis!

Rheuma-Kai: Wäre es nicht im Sinne des Kampfes
gegen den internationalen Terrorismus, wenn der Türkei der EU,
zumindest mittelfristig, eine Beitrittsperspektive geboten würde?

Günther Beckstein: zu tiger: Wer garantiert,
dass es möglich ist, durch Aufnahme in die EU Islamismus in der
Türkei zu beseitigen?
Meine Meinung heißt: den Terror durch intensive freundschaftliche
Zusammenarbeit zu bekämpfen aber die Vollmitgliedschaft bedeutet,
dass ein Land die zweitwichtigste und zweitmächtigste Stellung
in der EU erhalten wird, dessen europäische Einbindung erst erarbeitet
werden muss.

Politiker: Die Türkei, mit mehrheitlich muslimischer
Bevölkerung, könnte eine wichtige Rolle in der Annäherung
und Stabilisierung in Konflikten mit der islamischen Welt übernehmen!
Dies ist ein wichtiger Sicherheitsaspekt angesichts der international
beunruhigenden Entwicklungen.

Günther Beckstein: Eine Beitrittsperspektive
wurde durch die Assoziation seit Jahrzehnten in Aussicht gestellt. Dennoch
sind viele staatsrechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Hindernisse
vorhanden.

trigger33: Ist die Türkei ein Vorbild, was die
Bekämpfung islamischer Terroristen angeht?

Günther Beckstein: zu Politiker: Zur Stabilisierung
des Nahen Ostens möchte ich nicht entscheidende Weichenstellungen
über unser Land und die übrige EU hergeben; andernfalls müsste
auch die Vollmitgliedschaft Israels oder Tunesiens (jeweils beantragt)
erwogen werden.

reich4: Wie hoch sehen Sie das Potenzial einer grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit der Polizei und einer europaweit auf gleiche Grundsätze
verpflichteten Justiz im Kampf gegen die organisierte Kriminalität?
Was hat sich seit dem 1. Mai getan?

Günther Beckstein: zu trigger33: Nein, der Rechtsstaat
muss auch bei der Bekämpfung des Islamismus beachtet werden. Jedenfalls
im Falle von Kaplan und bei vielen Asylantragsstellern wird das von
deutschen Behörden anders gesehen.
zu reich4: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit muss dringend verbessert
werden. Die bisher erreichten Fortschritte, auch die nach dem 1. Mai,
sind nur erste Schritte, aber bei weitem noch nicht zufrieden stellend.
Die Rechtshilfe-Zusammenarbeit ist immer noch kompliziert und langwierig,
ein Austausch von Geheimdiensterkenntnissen erfolgt in weitem Umfange
nicht. Vielleicht wird sich dies aber in den nächsten Jahrzehnten
verbessern.

übersetzt aus franz.: Adelaide: Herr
Beckstein, viele Franzosen finden, dass die Türkei in die EU selbstredend
integriert werden müsste. In der Kontinuität der EU-Erweiterung.
Fühlen Sie als deutscher Politiker nicht diesen Druck?

Günther Beckstein: Ich bin überzeugt, dass
auch in Frankreich die Vollmitgliedschaft der EU sehr strittig gesehen
wird. Die Partei von Herrn Chirac hat sich mit großer Mehrheit
dagegen ausgesprochen. Der größte Druck auf EU-Beitritt kommt
von den USA.

Moderator: Weitere Frage aus Frankreich:

übersetzt aus franz.: Antoine: Herr
bayrischer Innenminister! In Frankreich hörten wir viel von der
Kruzifix-Diskussion in Bayerns Schulen, Tragen des Kopftuches etc. Glauben
Sie, dass im Rahmen des Beitritts der Türkei in die EU das Thema
der religiösen Zeichen erneut aktuell würde? Müssten
neue Einschränkungen angepasst werden?

Günther Beckstein: Wir haben in Deutschland keine
strikte Neutralität des Staates, wir kennen christliche Gemeinschaftsschulen
als staatliche Einrichtung und theologische Fakultäten an den Universitäten.
Das Tragen des Kopftuchs ist in der Öffentlichkeit überall
erlaubt. Etwas anderes gilt lediglich für bestimmte Amtsträger
wie Lehrer in öffentlichen Schulen. Dagegen dürfen Schüler,
Studenten und Arbeiter das Kopftuch tragen.

Frank Lehmann: Besteht nicht die Gefahr, dass die
EU durch ständige Erweiterung irgendwann auseinander fällt?
Kanzler Schröder sprach ja bereits von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten.
Ist so etwas Ihrer Meinung nach erwägenswert?

Günther Beckstein: Diese Gefahr der Überforderung
der EU sehen wir sehr wohl. Zumal Demokratie Mitbestimmung heißt
und wir heute schon Sorge haben, dass viele EU-Regelungen dem Bürger
kaum mehr erklärbar sind.

europo: Herr Beckstein, guten Tag: Wie stehen Sie
dazu, dass die EU-Verfassung zur Volksabstimmung kommt?

Günther Beckstein: Ich halte eine Volksabstimmung
für die EU-Verfassung für notwendig zumal ich selbst –
anders als viele in der Union – ein überzeugter Verfechter
plebiszitärer Elemente bin. Wir haben in Bayern viele Volksentscheide
mit bestem Ergebnis.

goody: Vor welchen Herausforderungen steht die EU
bei der Zuwanderung? Sollte es ein einheitliches Zuwanderungsgesetz
geben, und wenn ja, wie sollte es aussehen?

Günther Beckstein: Wir brauchen eine bessere
Abstimmung der Zuwanderung nach Europa. Für die besten Köpfe
müssen wir offener werden, andererseits muss Missbrauch unserer
Sozialsysteme durch illegale Zuwanderung stärker unterbunden werden.
Seit Maastricht sind große Teile dieser Politik vergemeinschaftet,
der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen wird in Kürze erfolgen.

Moderator: Wie viel Zeit haben wir noch?

Günther Beckstein: Ich muss jetzt aufhören,
es war nett zu chatten. auf Wiedersehen.

Moderator: Liebe Europa-Freunde, leider ist die Zeit
vorbei – vielen Dank an Minister Beckstein und an Sie, liebe User,
für die vielen Fragen. Leider können wir in einer Stunde nicht
alle Fragen beantworten. Auf www.europathemen.de finden sie weitere
Informationen zum Thema.
Vielen Dank für die vielen Fragen, gerade die französischen
waren eine spannende Neuerung.
Der nächste Termin:
24.05. (Mo) 18.00-19.00 Uhr Angelika Zahrnt, Vorsitzende des BUND.
Machen Sie wieder mit, wir freuen uns – ihr Chat-Team wünscht allen
einen schönen Tag!