Prof. Dr. Edda Müller
Prof. Dr. Edda Müller, Vorstand
des Bundesverband Verbraucherschutz, am 2. Oktober 2003 zu Gast im tacheles.02
Live-Chat von tagesschau.de und politik-digital.de.

 

Moderator:
Liebe Politik-Interessierte und Freunde oder Gegner der Dose, herzlich
willkommen im tacheles.02-Chat. Die Chat-Reihe tacheles.02 ist ein Format
von tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt von
tagesspiegel.de und von sueddeutsche.de. Im ARD-Hauptstadtstudio begrüße
ich heute Prof. Dr. Edda Müller, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes
der Verbraucherzentralen. Das Dosenpfand ist heute unser Thema, aber natürlich
nicht nur das. Fragen zu anderen verbraucherpolitischen Themen sind herzlich
willkommen. Können wir beginnen Frau Müller?

Edda Müller:
Ja.

Moderator:
Es gibt offenbar noch grundsätzlichen Klärungsbedarf:

mehrwegflasche:
Bitte noch einmal zur grundsätzlichen Klärung: Was genau ist
die Neuerung an dem neuen Dosenpfand, Frau Müller?

Edda Müller:
Das Dosenpfand wird erhoben für alle Getränkever-packungen (nicht
nur Dosen), in denen kohlensäurehaltige Getränke abgefüllt
sind. Es beträgt 25 Cent für Verpackungen mit einem Inhalt unter
1,5 Liter. Darüber sind es 50 Cent.

horst2: Umweltverbände
sprachen von einem reibungslosen Start der unterschiedlichen Rücknahmesysteme.
Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) beurteilte den Start
als "blankes Chaos" wegen der vielen konkurrierenden Systeme.
Wieso driften die Meinungen komplett auseinander, Frau Müller?

Edda Müller:
Wie die tatsächliche Situation ist, können wir noch nicht beurteilen.
Der HDE, als Vertreter des Handels, möchte am liebsten das Dosenpfand
kippen, während die Umweltverbände das Ziel, nämlich die
Erhöhung der Mehrwegquote, im Blick haben. Insofern könnte die
Einschätzung etwas mit der Interessenlage zu tun haben. Im übrigen
liegt das in der Hand des Handels, das Chaos, was der Handel seit 9 Monaten
angerichtet hat, zu beenden.

nummer1: Was
ist der Sinn dahinter, auf Getränke mit Kohlensäure Pfand zu
erheben und auf diejenigen ohne Kohlensäure keines?

Edda Müller:
Der Sinn erschließt sich dem Betrachter nicht ohne weiteres. Der
Hintergrund ist politischer Natur. Die Verpackungsverordnung von 1991,
novelliert 1998, hat sich wegen des Widerstandes des Handels und der Getränkeindustrie
lediglich auf die kohlensäure-haltigen Getränke bezogen. Bundesumweltminister
Trittin will dies ändern. Eine Novelle der Verpackungsverordnung,
die auch andere Getränke wie Fruchtsäfte oder Milch einbezieht,
wird derzeit im Bundesrat von den CDU-regierten Bundesländern angehalten.

Moderator:
Warum ist die Novellierung nicht gleich passiert, dem Verbraucher macht
man es dadurch doch nur schwer?

Edda Müller:
Politische Mehrheiten für eine solche sinnvolle Lösung zu finden,
war und ist deshalb schwierig, weil der Handel massiv dagegen Front bezogen
hat und die kohlensäurehaltigen Getränke waren bereits durch
die Verpackungsverordnung geltendes Recht. Dieses dann in die Praxis umzusetzen,
war und ist, wie wir wissen, schon schwierig genug. Richtig wäre
es allerdings gewesen, bereits 1991 sämtliche Getränke einzubeziehen.

himmel: Hat
hier die Industrie also gute Lobby-Arbeit geleistet??

Edda Müller:
Ja.

Moderator:
Dazu passt:

Albrecht: Hat
der Herr Trittin ein Durchsetzungsproblem?

Edda Müller:
Allerdings. Und er hat dieses meines Erachtens selber verschärft,
dadurch dass er im Januar vereinbart hat, ein Stillhalteabkommen mit dem
Handel abzuschließen. Das heißt, er hat akzeptiert, dass der
Handel die Verpackungen nicht in allen Läden flächendeckend
zurücknehmen musste.

Moderator:
"Himmel" fragt noch mal zur Industrie-Lobby-Arbeit:

himmel: Können
Sie hier konkreter werden?

Edda Müller:
Also wenn man hier über Industrie redet, muss man ganz spezifisch
den Handel ansprechen. Der Handel hat bis Ende Dezember 2001 mit allen
Mitteln versucht, das Pfand zu verhindern. Er hat sämtliche rechtliche
Instanzen angerufen und hat sich anschließend im Januar beschwert,
dass er nicht genug Zeit gehabt habe, ein Pfandsystem aufzubauen. Eine
solche Konstruktion ist im deutschen Rechtssystem einmalig. Es ist damit
vergleichbar, dass ein Bürger ein Strafmandat nicht bezahlt, weil
er sagt, ihm gefalle die verkehrsrechtliche Regelung nicht. Insofern hat
die Problematik des Dosenpfands über die reine Umweltfrage hinaus
eine beispiellose Bedeutung für das Rechtsempfinden in unserem Land.

HDEler: Wer
ist denn Unterstützer des Handels auf politischer Ebene?

Edda Müller:
Es hat sicherlich große Diskussionen auch mit dem Bundeswirtschafts-ministerium
gegeben und es hat auch auf Länderebene Diskussionen gegeben über
das Verhältnis von Arbeitsplätzen, die wegfallen und solche,
die neu geschaffen werden.

Moderator:
Wie weit halten Sie das Argument von Dosenblech-Produzenten für berechtigt,
das Dosenpfand kille Arbeitsplätze?

Edda Müller:
Nun ja, was wir derzeit erleben, ist eine verstärkte Nachfrage nach
Mehrweg. Im Ergebnis bedeutet das, dass die Hersteller von Mehrwegverpackungen
Arbeitsplätze neu einrichten müssen, während in den Bereichen,
deren Absatz zurück geht, es möglicherweise zum Abbau von Arbeitsplätzen
kommt. Insgesamt stärkt die Nachfrage nach Mehrweg den regionalen
Wirtschaftskreislauf. Es könnte also zu einer verstärkten Nachfrage
nach regionalen und deutschen Produkten kommen und der Importanteil zurückgehen.
Im Endeffekt könnte das positive Auswirkungen auf die Arbeitsplatzsituation
in Deutschland haben. Die Auswirkungen auf den Import sind natürlich
auch der Grund, warum die Europäische Kommission die Umsetzung der
Verpackungsverordnung in Deutschland mit Argusaugen verfolgt. Sie verlangt,
das ein flächendeckendes Rücknahmesystem aufgebaut wird, um
die Nachteile für ausländische Getränkeanbieter gering
zu halten.

russel: Welche
Position zu Pfandsystemen und ähnlichem sollte Deutschland Ihrer
Meinung nach in der Europäischen Union vertreten? Hier prallen doch
unterschiedlichste Vorstellungen von Systemen aufeinander?

Edda Müller:
Generell ist auch aus Sicht der deutschen Verbraucherverbände ein
Getränkemehrwegsystem dem massenhaften Absatz von Einwegverpackungen
vorzuziehen. Das sehen die Vertreter der Verbraucher und auch Umweltvertreter
auch in anderen EU-Ländern genauso. Einzelne Wirtschaftskreise mögen
dies anders beurteilen.

Moderator:
Zwei Fragen zum gleichen Thema.

ja?: Frau Müller,
Dosen und Einwegflaschen dürfen nun bundesweit überall dort
zurückgegeben werden, wo ein Händler gleichartige Verpackungen
verkauft. Wegen zahlreicher Inselsysteme bleibt die Rückgabe jedoch
kompliziert. Wie wollen Sie das Problem künftig in den Griff bekommen?

jana: Was wollen
Sie künftig gegen die sogenannten Inselsysteme unternahmen, die die
Rückgabe komplizieren?

Edda Müller:
Die Frage ist völlig richtig. Wir beobachten im Moment mit großer
Sorge, dass der Handel die Verpflichtung zur flächendeckenden Rücknahme
dadurch untergräbt, dass er sogenannte Insellösungen schafft.
Hier werden Flaschen und andere Verpackungen in der Form mehr oder weniger
umfänglich verändert mit der Folge, dass der Verbraucher diese
Verpackungen nur im jeweiligen Handel zurückgeben kann. Um dagegen
anzugehen, dass auf diese Weise die Rücknahmesituation für den
Verbraucher noch schwieriger wird, brauchen wir Ihre Mithilfe. Wir bitten
alle Verbraucher, sich an die zuständige Landesbehörde zu wenden,
wenn ihre Einwegverpackung im Handel nicht zurückgenommen wird, und
uns insbesondere auch über sogenannte Insellösungen zu informieren.
Wir werden dann dafür sorgen, dass die Gerichte entscheiden, was
eine gleichartige Verpackung ist. Unser Erachtens kann das nicht allein
darin bestehen, das durch eine geringfügige Veränderung der
Verpackungsform es bereits dazu kommt, dass der Handel sich von der Rücknahmeverpflichtung
freikauft. Dieses Hintertürchen muss dringend im Rahmen der anstehenden
Novelle der Verpackungsverordnung geschlossen werden.

Moderator:
Um die Händler zu "verpetzen" bieten Sie unter www.vzbv.de
sogar einen Musterbrief an. "Schädigen" Sie damit nicht
vor allem die kleinen Händler?

Edda Müller:
Das sehen wir nicht so. Wir wollen damit insbesondere dafür sorgen,
dass sich der Handel nicht länger der Umsetzung geltenden Rechtes
entziehen kann und die Länderbehörden das tun, was ihre Pflicht
ist: Nämlich Verstöße gegen geltende Gesetze zu ahnden.
Zudem sind Geschäfte unter 200 m² und kleine Kioske von der
Verordnung ausgeschlossen.

Moderator:
Märkte unter 200 m² Verkaufsfläche müssen nur Dosen
der Marken zurücknehmen, die sie auch führen, wie Sie sagen.
Der Verbraucher kann ja wohl kaum mit dem Zollstock durch den Laden laufen.
Werden die gekennzeichnet?

Edda Müller:
Also ich denke mal, es handelt sich um kleine, sogenannte Tante-Emma-Läden,
und der klassische große Supermarkt wird immer in der Kategorie
über 200 m² liegen. Im Zweifel werden die Behörden zu entscheiden
haben, ob es sich um einen Laden unter oder über 200 qm handelt.
Das muss nicht der Verbraucher nachmessen.

patrick_schmeichel:
Finden Sie nicht, dass dieses real existierende Chaos um das Rücknahmesystem
einen positiven Einfluss auf die Verbraucher und Hersteller hat? Dass
Einwegverpackungen zunehmend verschwinden?

Edda Müller:
Das ist richtig. Ziel der Verpackungsverordnung des Dosenpfandes war,

die Stabilisierung des Mehrwegsystems. Deshalb hat der Gesetzgeber langfristig
dem Handel angekündigt, dass das Einwegpfand in dem Moment erhoben
wird, in dem die Mehrwegquote unter 72 % absinkt. Der Handel hätte
es also schon seit Jahren in der Hand gehabt, das Einwegpfand zu verhindern
– wenn er denn verstärkt Mehrwegverpackungen angeboten hätte.
Unsere Empfehlung an die Verbraucher ist daher klar: Ärgern Sie sich
nicht länger mit dem Pfand für Einweg herum, sondern kaufen
Sie Mehrweg.

Moderator:
dazu meint bzw. fragt:

cola: Handelt
es sich also bei der Einführung des Dosenpfands um die größte
je durchgeführte Erziehungsmaßnahme??

Edda Müller:
Ja, wenn man so will, ist es das. Es handelt sich aber in erster Linie
um einen sinnvollen Beitrag zur Schonung von Material und Energieressourcen.
Und im übrigen um einen Beitrag zur Unterstützung regionaler
Wirtschaftskreisläufe.

Moderator:
Kommentar dazu:

raucherzentrale:
Gute Frage Cola, aber wer sollte erzogen werden? Der Handel oder die Verbraucher?
Und ist das Aufgabe der Politik?

dose: Was passiert
eigentlich, wenn die Mehrwegquote zu hoch wird? Wird dann wieder zurückgeschraubt
und der Einweganteil wieder angepasst?

Edda Müller:
Nein, es gibt keine Regelung der Begrenzung nach oben. Wenn sich im Markt
100% Mehrweg durchsetzen wird, wird die Einwegverpackung natürlich
obsolet.

Aluminia: Inwieweit
waren Verbraucherschutzverbände in den Gesetzgebungsprozess miteinbezogen?

Edda Müller:
Wir haben natürlich sowohl bei der Verordnung von 1998 als auch bei
der Verordnung von 1998 unsere Stellungnahmen abgegeben. Wir haben uns
allerdings für die Einführung einer Abgabe anstelle einer Pfandregelung
eingesetzt. Auf diese Weise wäre das Rücknahmechaos vermieden
worden und bei den Herstellern ein klarer ökonomischer Anreiz zur
Nutzung von Mehrweg gegeben worden. Der Handel hat damals diese Abgaberegelung
1991 und 1998 massiv abgelehnt. Insofern ist es schon äußerst
fadenscheinig, wenn der Handel sich plötzlich für eine Abgaberegelung
stark macht. Im Übrigen waren wir nicht beteiligt bei den vielfältigen
Gesprächen des Bundesumweltministers mit dem Handel, die schon an
eine Art Kuhhandel erinnern und bei denen die Vertreter der Verbraucher
vor der Tür gehalten wurden. Insgesamt hat diese Situation zu annähernd
375 Millionen Euro Mehreinnahmen in den Kassen des Handels geführt,
weil – wie der Handel selbst erklärt hat – etwa 25% der Einwegverpackungen
und damit auch des Pfandes von den Verbrauchern nicht zurückgefordert
wurde.

Moderator:
Was ist mit dem Argument des Handels, man habe Mehrkosten durch die Rücknahme
etc.?

Edda Müller:
Das ist natürlich totaler Blödsinn. Der Handel hat ja gerade
nicht investiert und keine Automaten aufgestellt und insofern müsste
der Handel schon belegen, wo er die 375 Millionen Euro (als vorsichtige
Schätzung) gelassen hat. Im Übrigen ist die Pfandregelung nicht
dafür da, die Investitionen des Handels zu finanzieren.

armesdeutschland:
Bedeutet das konkret, dass Politik und Wirtschaft wissentlich den Verbraucher
blechen lassen haben?

Edda Müller:
Diesen Eindruck haben wir. Und wir fordern deshalb den Handel auf, die
zurückbehaltenen Pfandbeträge einer Stiftung zuzuführen.
Im Übrigen gilt das auch für den Bundesfinanzminister, der durch
die Erhebung der Mehrwegsteuer auf das Pfand mit über 50 Mio. Euro
an den Mehreinnahmen beteiligt ist.

mehrwegflasche:
Frau Müller, was passiert mit den vorher gekauften Dosen? Kann der
Käufer für diese rückwirkend Pfand kassieren?

Edda Müller:
Nur in den Läden, wo er gekauft hat mit dem entsprechenden Pfandschein,
den er hoffentlich aufbewahrt hat.

helena: Die
Prognos-Studie ermittelte, dass der ökologische Nutzen in keinem
Verhältnis zu den wirtschaftlichen Folgen (u.a. für Verbraucher)
steht. Teilen Sie diese Einschätzung?

Edda Müller:
Diese Einschätzung teile ich nicht. Insbesondere bedürfte es
hierfür einer wesentlich differenzierteren Betrachtung der Auswirkungen
auf die verschiedenen Branchen und auf die Regionalverteilung.

Moderator:
Noch mal zu den 375 Millionen Euro:

Katja2: Wie
will man denn herausbekommen wie die 375 Millionen Euro im Handel verteilt
sind? Wer sollte denn das Geld an welche Stiftung zahlen?

Edda Müller:
Wir sind der Auffassung, dass das der Hauptverband des deutschen Einzelhandels
tun sollte, bei dem der Hauptteil des deutschen Einzelhandels organisiert
ist. Die Stiftung wäre eine Stiftung für Verbraucherinformation
und -aufklärung.

müllermilch:
Ist die gegenwärtige Situation eine Niederlage für ihre Lobbyarbeit?
Auch wenn ich ihre Arbeit persönlich sehr begrüße.

Edda Müller:
Ich denke, dass es keine Niederlage ist, sondern dass es deutlich macht,
dass der Verbraucher regelmäßig über den Tisch gezogen
werden kann, wenn er nicht durch eine starke Verbraucherorganisation in
seinen Interessen geschützt wird. Sie können sicher sein, dass
wir in den folgenden Monaten unsere Klagerechte einsetzen und nutzen werden,
um die Situation zu beenden, dass Politik und Handel mit den Verbrauchern
Katze und Maus spielen.

Moderator:
Sie waren in den 90er Jahren Umweltministerin in Schleswig-Holstein, wissen
also, wie es so in den Ministerien läuft. War die Arbeit von Bundesumweltminister
Jürgen Trittin professionell?

Edda Müller:
Sie war aus meiner Sicht etwas zu kompromissreich. Seine Beamten hätten
gut daran getan, ihm deutlich zu machen, dass man eine einmal geschlossene
Regelung nicht einseitig aussetzen darf.

Moderator:
Liebe Politik-Interessierte, unsere Zeit ist vorbei, vielen Dank für
Ihr Interesse und die Fragen. Herzlichen Dank, Frau Müller, dass
Sie ins ARD-Hauptstadtstudio gekommen sind. Alle Chat-Transkripte finden
Sie wie immer auf den Seiten der Veranstalter. Das tacheles.02-Team wünscht
allen Beteiligten noch einen schönen Tag und ein angenehmes verlängertes
Feiertags-Wochenende.

Edda Müller:
Vielen Dank!