Moderatorin: Liebe Europa-Interessierte,
herzlich willkommen zum tagesschau-Chat. Heute ist Hans-Gert Pöttering,
der Präsident des EU-Parlaments zu uns ins ARD-Hauptstadtstudio
gekommen und stellt sich Ihren Fragen. Herr Pöttering, ich
begrüße Sie. Können wir beginnen?
Hans-Gert Pöttering: Ich
begrüße Sie auch.
Hans-Gert Pöttering
Präsident des Europäischen Parlaments
josefine: Was sind Ihre Aufgaben als Präsident
des EU-Parlaments?
Hans-Gert Pöttering: Meine Aufgabe besteht
darin, die Mehrheitsmeinung des EU-Parlaments zu vertreten. Ich
muss bemüht sein um gute Beziehungen mit den anderen europäischen
Institutionen, das heißt mit dem Rat, also den Regierungen
sowie der europäischen Kommission. Wichtig ist es natürlich,
das Parlament wirksam zu vertreten und sich immer für die Ausweitung
seiner Befugnisse einzusetzen.
Christopher: Wie muss man sich eine Sitzung des
Europaparlaments vorstellen? Wie lange debattieren Sie, um die Interessen
von 27 Mitgliedsstaaten unter einen Hut zu bringen?
Hans-Gert Pöttering: Das hängt natürlich
von der Form und dem Inhalt der Debatte ab. Kommenden Mittwoch zum
Beispiel haben wir im Europäischen Parlament (EP) eine Diskussion
mit dem neuen Präsidenten des Europäischen Rates, dem
Ministerpräsidenten Portugals, Jose Sokrates, der Bundeskanzlerin
Angela Merkel in der Aufgabe des Präsidenten des Europäischen
Rates am 1. Juli nachgefolgt ist.
Für die Debatte sind, wenn ich es richtig in Erinnerung habe,
zwei Stunden vorgesehen. Der Präsident des Europäischen
Parlaments begrüßt, dann wird Jose Sokrates etwa 20 bis
25 Minuten sprechen, danach der Präsident der europäischen
Kommission José Manuel Durao Baroso, der etwa 15 Minuten
sprechen wird. Danach reden die Fraktionsvorsitzenden in der Reihenfolge
der Größe der Fraktionen. Die Fraktionsvorsitzenden sprechen
je nach Größe etwa drei bis sieben Minuten. Nach den
Fraktionsvorsitzenden sprechen die weiteren Sprecher der verschiedenen
Fraktionen, den Abschluss der Debatte bildet dann erneut eine Stellungnahme
des Präsidenten des Europäischen Rates und des Präsidenten
der Europäischen Kommission.
Kopius: Sie erwähnten die Ausweitung der
Befugnisse. Welche Befugnisse hat das EU-Parlament denn gerade –
und welche sollen noch dazu kommen?
Hans-Gert Pöttering: Heute ist das Europäische
Parlament in 75 Prozent der Gesetzgebung der EU gleichberechtigt
mit dem Ministerrat. Mit dem Inkrafttreten des Reformvertrages,
dessen Verabschiedung während der portugiesischen Präsidentschaft
beabsichtigt ist, wird die gleichberechtigte Mitwirkung des Europäischen
Parlaments bei der Gesetzgebung auf fast 100 Prozent ausgeweitet.
Außerdem wird das Europäische Parlament mit dem Vertrag
bei der Beschlussfassung über den Haushalt der EU ohne Einschränkungen
gleichberechtigt mit dem Ministerrat.
ts1: Europäische Union – ein Gebilde „Sui
generis", ein „Staatenverbund" – Welches ist Ihre
Vorstellung in Hinblick auf die Finalität Europas? Und das
in den verschiedenen Ebenen: geographisch (Türkei), aber auch
politisch (supranationale Außenpolitik, europäische Armee)?
Hans-Gert Pöttering: Wir brauchen eine starke
Europäische Union, die handlungsfähig und demokratisch
ist. Dazu sind handlungsfähige europäische Institutionen
notwendig. Das bedeutet, das Europäische Parlament als Vertretung
der BürgerInnen muss bei allen legislativen und sonstigen Entscheidungen
der EU maßgeblich beteiligt sein. Der Europäische Rat
gestaltet die Richtlinien der Politik, die Europäische Kommission
macht Gesetzgebungsvorschläge und ist die Exekutive der Union.
Dieses Gemeinschaftseuropa handelt durch seine Institutionen, respektiert
aber die Identität der Mitgliedsstaaten, ihre Regionen und
kommunalen Gebietskörperschaften. Jede Ebene hat nach den Grundsätzen
der Subsidiarität ihre eigene Verantwortung.
Die EU muss in allen Bereichen handeln, für die der Nationalstaat
zu klein geworden ist. Die EU handelt auf der Grundlage des Rechts.
Das Recht sichert den Frieden.
Die EU darf sich nicht zu Tode erweitern. Deswegen müssen wir
eine Debatte führen über die geographischen Grenzen der
EU. Nicht jedes Land, das Mitglied der EU werden möchte, muss
notwendigerweise Mitglied werden. Es sind andere Formen der Zusammenarbeit
denkbar, zum Beispiel in Form einer so genannten privilegierten
Partnerschaft. Mit der Türkei wird verhandelt, aber das Ergebnis
ist offen. Die EU hat ein Interesse daran, dass die Reformbemühungen
in der Türkei fortgesetzt werden. Sollten die Verhandlungen
zu einem Abschluss kommen, muss die dann verantwortliche politische
Generation darüber entscheiden, ob die Türkei Mitglied
wird. Wie auch immer diese Entscheidung am Ende aussehen wird, haben
wir Europäer ein fundamentales Interesse an guten Beziehungen
mit unseren türkischen Partnern.
Die Europäische Union muss handlungsfähig sein, auch in
der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei ist
schon viel erreicht worden, aber wir sind noch nicht am Ziel. Wichtig
ist, dass alle Mitgliedsländer der EU in Fragen der Außen-
und Sicherheitspolitik zu gemeinsamen Entscheidungen kommen. Sollte
dieses bei einigen Fragen nicht der Fall sein, muss es die Möglichkeit
geben, dass eine Gruppe von Staaten vorangehen kann.
Eine europäische Armee sollte unser Ziel sein. Leider ist dieses
Projekt, nämlich eine europäische Verteidigungsgemeinschaft
mit einer europäischen Armee 1954 in der französischen
Nationalversammlung gescheitert. Dadurch hat Europa viele Jahre
verloren, aber die EU ist jetzt dabei, aus ihren Versäumnissen
zu lernen und sich um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
zu bemühen.
Clemens H.: Was Ihre persönliche Ansicht
zum Beitritt der Türkei ist, würde mich auch interessieren.
Hans-Gert Pöttering: Da Sie mich nach meiner
persönlichen Meinung fragen, möchte ich zunächst
zum Ausdruck bringen, dass die Mehrheit des Europäischen Parlaments
die Mitgliedschaft der Türkei befürwortet. Und es ist
meine Aufgabe als Präsident des Parlaments, wenn ich für
das gesamte Parlament spreche, dieses zum Ausdruck zu bringen. Persönlich
trete ich für die privilegierte Partnerschaft ein.
Moderatorin: Wie sieht es mit dem Gegenteil von
Erweiterung aus?
halder: Nach den Erfahrungen des jüngsten
Gipfels: Halten Sie es für sinnvoll, klare Austrittsregeln
aus der EU zu definieren? Sollten überdies nicht auch Ausschlussregeln
festgelegt werden?
Hans-Gert Pöttering: Im Reformvertrag wird
die Möglichkeit eines Austritts als Entscheidung des betreffenden
Landes ermöglicht, nicht jedoch der Ausschluss. Allerdings
können die Mitwirkungsrechte eines Landes ausgesetzt werden,
wenn die Demokratie in dem entsprechenden Land beeinträchtigt
ist.
ostsee: Können Sie die Blockadehaltung der
Polen verstehen?
Hans-Gert Pöttering: Wir verdanken Polen
sehr viel. Ohne Solidarnosc, Lech Walesa und die geistig-moralische
Kraft von Johannes Paul II. hätte es die Wende in Europa zu
Freiheit und Demokratie kaum gegeben. Daran sollten wir uns immer
erinnern, auch wir Deutschen, die wir aufgrund dieser Entwicklung
in den 80er Jahren am 3. Oktober 1990 die Einheit unseres Vaterlandes
feiern konnten. Die gegenwärtigen Irritationen mit der polnischen
Regierung sollten wir immer in diesen Zusammenhang stellen. Wir
sollten uns darüber freuen, dass das polnische Volk mit sehr
sehr großer Mehrheit (75-80 Prozent) der Mitgliedschaft in
der EU und der Einigung Europas zustimmt. Ich hoffe, dass diese
Tatsachen für die in Warschau politischen Verantwortlichen
eine Motivation ist, sich an der Einigung unseres Kontinents wirksam
zu beteiligen und den Reformvertrag zu ratifizieren.
ASDFSDFSDFSDF: Wie sehen Sie die Chancen, dass
das die Vereinbarungen vom Brüssel für eine EU- „Verfassung"
wirklich umgesetzt werden? Die Kaczynski-Brüder haben gerade
wieder zurückgerudert. Wie ist die Chance – mal in Prozent
🙂 ?
Hans-Gert Pöttering: In der Politik ist das
Wichtigste, das Vertrauen. Das bedeutet, dass das gegebene Wort
gehalten werden muss. In Brüssel hat es eine Vereinbarung zwischen
den 27 Staats- und Regierungschefs gegeben. Das gilt. Ich erwarte
von der polnischen Regierung, dass das gegebene Wort eingehalten
wird. Deswegen muss ich annehmen, da ich einen Prozentsatz der Chance
nennen soll, dass der Vertrag ratifiziert wird. Das heißt,
auf der Grundlage der Vereinbarung muss ich von 100 Prozent ausgehen.
Eisenkolb: Wenn bei der Außen- und Sicherheitspolitik
eine Gruppe von Staaten vorangehen kann, wäre das denn auch
in anderen Bereichen wie der europäischen Verfassung denkbar?
EU-Errungenschaften wie der Euro oder das Schengener Abkommen gelten
ja auch (noch) nicht EU-weit, sodass es doch denkbar wäre,
dass je Bereich ein anderer Kreis von Beteiligten und natürlich
auch von Nutznießern des jeweiligen Bereiches existiert?
Hans-Gert Pöttering: Lieber Eisenkolb, Sie
sind ein absoluter Fachmann. Sie sprechen vom System und – ich zögere,
das Wort zu gebrauchen – der variablen Geometrie. Es ist denkbar,
dass einige vorangehen, aber wichtig ist immer, dass prinzipiell
alle den gleichen Weg gehen, wenn auch mit einer zeitlichen Verzögerung.
Wenn es sich um Gesetzgebung handelt, ist es nicht möglich,
dass ein Land sich völlig ausschließt. Heute unterscheiden
wir schon Verordnungen, die für alle in ihrem Inhalt gelten
und Richtlinien, die zwar auch für alle gelten, aber einen
zeitlichen und inhaltlichen Spielraum ermöglichen.
Moderatorin: Noch ein Experte:
Christoph Helbig: Der Augsburger Wahlsystem-Experte
Friedrich Pukelsheim hat erst letzten Monat in einem Artikel der
Neuen Züricher Zeitung gezeigt, dass das von Polen vorgeschlagene
Quadratwurzelsystem (oder Jagiellonischer Kompromiss) eigentlich
das beste Abstimmungssystem für den Ministerrat ist. Warum
wählt man für ein so wichtiges Projekt wie die EU nicht
das beste System?
Hans-Gert Pöttering: Ich teile diese Ansicht
nicht. Die EU ist eine Union der BürgerInnen einerseits und
der Staaten andererseits. Das im Vertrag vorgesehene Abstimmungssystem
berücksichtigt diesen Grundsatz. Für einen legislativen
Beschluss sind 55 Prozent der Mitgliedsstaaten erforderlich, das
heißt von 27 fünfzehn und 65 Prozent der Bevölkerung.
Dieses ist ein faires und demokratisches Prinzip. Im Verfassungsvertrag
haben sich alle 27 Regierungen dafür ausgesprochen. Ebenso
das Europäische Parlament. Ein Mitgliedsland, in diesem Falle
Polen, kann nicht allen anderen seine Meinung aufzwingen. Im Übrigen
ist es legitim, das eine oder andere Verfahren für das bessere
zu halten. Aber in der Demokratie gelten die Mehrheitsentscheidungen
und das, was vereinbart wurde.
Moderatorin: Zum Stichwort Demokratie:
mathias: Wie stehen Sie zum Vorwurf, dass ein
Demokratiedefizit durch die Kompetenzverteilung innerhalb der EU
besteht?
Hans-Gert Pöttering: Die EU ist eine Gemeinschaft
von Bürgern und Staaten im Werden. Die EU fällt nicht
wie eine reife Frucht vom Himmel, sondern wie ein Baum muss die
EU wachsen, bis sie ihre Handlungsfähigkeit und demokratischen
Strukturen erreicht hat. Das Europäische Parlament, das erstmalig
1979 gewählt wurde – und ich habe das Privileg, seit der ersten
Direktwahl dem Parlament anzugehören – hatte 1979 keinerlei
Gesetzgebungsbefugnisse. Wenn es heute in 75 Prozent der Gesetzgebung
gleichberechtigt ist mit dem Ministerrat, zeigt das, wie gut es
sich im Hinblick auf Demokratie und Parlamentarismus entwickelt
hat. Mit dem Reformvertrag wird das Parlament, wie schon erwähnt,
seine Mitentscheidungsrechte in der Gesetzgebung auf nahezu 100
Prozent ausweiten. Dies zeigt, die Demokratie in der EU ist auf
gutem Wege.
Moderatorin: Anmerkung: Das Europäische Parlament
hat kein Initiativrecht, darf also keine Gesetze vorschlagen. Eine
Frage dazu:
Francisco: Sie haben gerade die Zwitterstellung
zwischen dem Europa der Nationen und dem Europa der Bürger
dargestellt, das Europäische Parlament ist aber das einzige
direkt legitimierte Organ in der EU. Sehen Sie noch mehr Handlungsbedarf,
was die Ausweitung seiner Kompetenzen angeht?
Hans-Gert Pöttering: Mit dem Reformvertrag
machen wir einen weiteren großen Schritt in der Demokratisierung
der EU. Aber weitere Schritte sind in der Zukunft notwendig, zum
Beispiel bei der Frage, ob es Eigeneinnahmen der EU in Form von
Steuern, die dann aber auf der nationalen Ebene zu einer Entlastung
führen müssen, geben soll und wie diese erhoben werden.
Auch die Frage der Steuerharmonisierung gehört in diesen Bereich.
Hierüber wird man zu einem späteren Zeitpunkt Vereinbarungen
treffen müssen. Aber nun geht es zunächst darum, den Reformvertrag
zu verwirklichen. Also ein Schritt nach dem anderen.
Moderatorin: Themenwechsel:
Grenzkontrolleur: Seit der Einführung des
Schengener Abkommens und der damit einhergehenden „Verstärkung"
der EU-Außengrenzen sind nach Schätzungen humanitärer
Organisationen mehr als 30.000, in die Illegalität getriebene
Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Wie bewerten Sie diesen
Sachverhalt, und was wollen Sie gegebenenfalls persönlich unternehmen,
um Abhilfe zu verschaffen?
Haber S.: Jeden Tag brechen tausende Menschen
nach Europa auf. Wird es nicht Zeit für eine gemeinsame Zuwanderungspolitik?
Hans-Gert Pöttering: Es ist sehr traurig,
dass Menschen bei dem Versuch, die EU zu erreichen im Mittelmeer
umkommen. Ich finde es auch nicht akzeptabel, dass mit dem Begriff
„Illegale Immigration" dieser Tatbestand praktisch ausgeblendet
wird. Das Schicksal der Menschen darf uns als Europäer, die
wir Werte vertreten, nicht gleichgültig sein. Natürlich
müssen wir denjenigen den Kampf ansagen, die als Schlepper
Menschen auf eine ungewisse Reise bringen. Aber die Not der Menschen,
die diese Reisen auf sich nehmen, muss uns nicht nur betroffen machen
sondern veranlassen, etwas zu tun.
Wir müssen bemüht sein, in den Herkunftsländern der
Menschen Verhältnisse zu schaffen, die dazu führen, dass
die Menschen in ihrer Heimat ihre Zukunft sehen. Ich weiß
wie schwierig dieses ist, denn es erfordert, wenn wir in diesem
Zusammenhang an Afrika denken, ein besseres Regierungshandeln (better
governance). Dieses müssen wir als Europäer nicht nur
anmahnen, sondern durch sehr konkrete Hilfe zur Selbsthilfe fördern.
Ich hoffe, dass das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs
der Länder Afrikas und der Europäischen Union Anfang Dezember
in Lissabon dazu einen Beitrag leisten wird. Vor dem Europa-Afrika-Gipfel
wird es ein Parlamentariertreffen von Abgeordneten des Panafrikanischen
Parlaments mit dem Europäischen Parlament geben. Wir wollen
Vorschläge erarbeiten für eine bessere Zukunft des afrikanischen
Kontinents. Was die Frage der Immigration angeht, so bin ich absolut
der Meinung, dass wir dabei ein gemeinsames Handeln der EU brauchen.
Die Immigrationspolitik muss dabei sowohl die Interessen der Länder,
aus denen die Menschen kommen, wie der Länder, in die die Menschen
einwandern, berücksichtigen.
445522: Wie wollen Sie denn zwischen Wirtschaftsflüchtlingen
und Asylbewerbern unterscheiden?
Hans-Gert Pöttering: Asylbewerber sind solche,
deren Leben in ihren Ländern bedroht ist. Dieses ist in dieser
Weise bei Wirtschaftsflüchtlingen nicht der Fall. Eine gelenkte
Zuwanderung, die Berechenbarkeit auf beiden Seiten schafft, ist
bei dieser sehr schwierigen Problematik wahrscheinlich die einzige
überzeugende Möglichkeit. Aber ich möchte hinzufügen:
Patentrezepte gibt es nicht.
Moderatorin: Zurück ins europäische
Inland:
stebol: Ich befürchte, dass zu viel von Brüssel
aufdiktiert wird.
Hans-Gert Pöttering: Wir müssen auf
jeder politischen Ebene überlegen, wie wir das eigene Handeln
der Bürgerinnen und Bürger stärken können. Diese
Frage müssen sich die Verantwortlichen in Brüssel, in
Berlin, in den Landeshauptstädten und auch in den Städten
und Gemeinden stellen.
Philipp Stroehle: Denken Sie, dass die Bürger
der Mitgliedsstaaten der EU über komplexe Sachverhalte mitentscheiden
könnten? Oder kann das nur eine Elite bewältigen?
Hans-Gert Pöttering: Wenn der Reformvertrag
Wirklichkeit wird, was ich hoffe und erwarte, kann es mit einer
Million Unterschriften von BürgerInnen Initiativen geben, die
die europäischen Institutionen auffordern, sich mit einer politischen
Frage zu befassen. Die Frage von Referenden wird durch die nationalen
Gesetzgeber entschieden. Wichtig ist, dass die Abgeordneten aller
Ebenen in einem ständigen Dialog mit den Menschen sind. Dialog
setzt aber auch voraus, dass die Menschen bereit sind, sich zu informieren.
Meine politische Erfahrung ist, dass ich durch das Gespräch
mit den Bürgern viele Anregungen bekomme, die für meine
Arbeit wichtig sind.
Hans E.: Wie, denken Sie, könnten das politische
Interesse der europäischen Bürger erhöht werden?
Könnte durch eine höhere Legitimation die politische Handlungsfähigkeit
der EU tatsächlich gestärkt werden?
Hans-Gert Pöttering: Das ist eine der ganz
entscheidenden Fragen. Eine größere Akzeptanz der Politik
im Allgemeinen, der Europapolitik im Besonderen ist ohne Zweifel
wünschenswert. Der Chat jetzt mit Ihnen ist eine sinnvolle
Form der Kommunikation. Sie reicht aber natürlich nicht aus.
Wir brauchen eine ständige Berichterstattung in allen Medien,
insbesondere im Fernsehen über die Europapolitik. Dies ist,
obwohl es sich schon sehr verbessert hat, noch steigerungsfähig.
Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments stehen dafür
zur Verfügung.
Philipp Stroehle: Können Forderungen nach
Bürokratieabbau und Beschleunigung von Entscheidungsprozessen
und der Ruf nach mehr Demokratie unter einen Hut gebracht werden?
Hans-Gert Pöttering: Das ist eine sehr komplexe
Frage. Ich stimme zu, wir sollten nicht alles regeln. Aber dort,
wo gemeinsames Handeln, zum Beispiel beim Klimaschutz, notwendig
ist, brauchen wir gemeinsame Regeln, also europäische Gesetze.
Schon in der Bundesrepublik Deutschland mit 82 Millionen Menschen
sind die Entscheidungen von Bundestag und Bundesrat oftmals langwierig
und schwierig. Dies gilt umso mehr in einer Europäischen Union
mit nahezu 500 Millionen Menschen in 27 Ländern. Der demokratische
Prozess hat seinen Preis, in diesem Falle also, was die dafür
benötigte Zeit angeht. Insofern gibt es das von Ihnen dargestellte
Spannungsverhältnis, das wir allerdings bemüht sein müssen
aufzulösen.
Clemens H.: Wie beurteilen Sie den Ortswechsel
zwischen Straßburg und Brüssel? Hat dieser einen negativen
Effekt auf ihre Leistungsfähigkeit oder ziehen sie aus dem
Wechsel eher Kraft und Motivation?
Hans-Gert Pöttering: Brüssel und Straßburg
als Sitzungsorte des Europäischen Parlaments haben sich historisch
entwickelt. Aber das wissen Sie natürlich. Frankreich hat sich
zusichern lassen, dass zwölf Sitzungen im Jahr in Straßburg
stattfinden. Die Vereinbarung eines Sitzes ist also nur mit Zustimmung
Frankreichs möglich, weil diese Frage einstimmig entschieden
werden muss. Für meine persönliche Arbeit ist es keine
Erschwernis, ob ich in Brüssel oder Straßburg engagiert
bin.
Moderatorin: Eine verzweifelte Stimme zum Schluss:
amjahid: Was machen wir nur mit den Polen und
den Briten und allen anderen, die eine EU-kritische Politik vertreten?
Hans-Gert Pöttering: In Europa braucht man
Geduld. Wir sind alle Sünder. Manche mehr, manche weniger und
es geht in der Regel immer reihum. Wir sollten geduldig bleiben,
aber gleichzeitig auch leidenschaftlich für die Einigung unseres
europäischen Kontinents. Im 21. Jahrhundert, in der Zeit der
Globalisierung, hat Europa nur eine Chance seine Werte und Interessen
zu verteidigen, wenn wir es gemeinsam tun. Wie in einer Familie
gibt es unterschiedliche Persönlichkeiten, aber wir bleiben
eine Familie.
Moderatorin: Damit kommen wir auch schon zum Ende.
Herzlichen Dank unseren Usern für die vielen Fragen. Leider
konnten wir sie nicht alle stellen. Herr Pöttering, möchten
Sie noch ein Schlusswort an die User richten?
Hans-Gert Pöttering: Wer jetzt nicht mit
seiner Frage zum Zuge gekommen ist, kann mir gerne schreiben: hans-gert.poettering[at]europarl.europa.eu
– Jeder wird dann eine Antwort bekommen. Ich möchte mich herzlich
für das Interesse bedanken. Dies zeigt, dass es vielen Menschen
um die Zukunft unseres Kontinents geht.
Moderatorin: Das war unser tagesschau-Chat von
tagesschau.de und politik-digital.de. Vielen Dank für Ihr Interesse
und vielen Dank an Herrn Pöttering. Das Protokoll des Chats
ist in Kürze zum Nachlesen auf den Seiten von tagesschau.de
und politik-digital.de zu finden. Das tagesschau-Chat-Team wünscht
noch einen schönen Tag!